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Mrz 28 23

Im Labyrinth des Denkens

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Gehen ist ein Kampf mit die Schwerkraft.

Denken ist ein Kampf mit einer Schwerkraft anderer Art.

Gehen wird nicht anders als Fahrradfahren zu einer Art von Automatismus, und diese physische und mentale Mechanik ist streckenweise ja durchaus nützlich.

Dichten ist ein beschwingtes, heiter und gelöst wirkendes Balancieren auf einem dünnen Seil der Sprache, wobei die ihm zugrundeliegende Spannung von der Anmut der Bewegungen, dem Schwung der Pirouetten und dem Übermut des Salto mortale des Seiltänzers verhüllt wird; doch das Gefühl des Schwindels und die Furcht vor dem Sturz in die dunkle Tiefe sind stets gegenwärtig.

Wir plaudern unbefangen drauflos und scheuen dabei auch vor dem Gebrauch trivialer Wendungen und sprachlicher Stereotypen nicht zurück.

Anders die Stereotypen, Automatismen und Mechanismen, die ins Denken Einzug halten, beispielsweise kraft des trügerischen, aber auch faszinierenden Spiels von bildhaften Assoziationen oder logischen Fehlschlüssen; sie bezeugen, wie gern und leicht wir dem Zug der mentalen Schwerkraft nachgeben.

Die sprachlichen Gewohnheiten. die abgegriffenen Wendungen und verblaßten Metaphern, die unsere Plaudereien so gewandt und redselig machen, sind das Faulbett, auf dem sich das Denken liebend gerne ausstreckt.

Wir reden gedankenlos von Denkmaschinen oder dem Archiv des Gedächtnisses, obwohl wir wissen könnten, daß Gedanken kein Output von maschinellen oder algorithmischen Verfahren und Erinnerungen keine Bilder in der privaten Galerie unseres Geistes sein können. – Wir sagen gedankenlos von einem, er sei guter Dinge, weil er lächelt, obwohl wir wissen könnten, daß jemand trotz innerer Qual oder auch aus bloßer Verlegenheit lächeln kann.

Was wir Intuition nennen, ist eine Form des nichtanalytischen Denkens, die frei von den Automatismen der Gewohnheit ist, ja diese geradezu durchbricht. – Ähnlich dem Dichter, der nicht von der Überschwemmung redet, sondern davon, daß der braune Gott des Stromes sein schlammiges Haupt aus dem Uferschilf hebt.

Wie der Flügel eine Form der Projektion der Luftströmung darstellt, so das Auge nach Goethe eine Art Projektion der Lichtstrahlen.

Das Fundament des Denkens schwebt in der Luft. Das Haus des Denkens steht, wie es Wittgenstein sah, auf dem Kopf.

Das Gedachte ist wohl der sinnvolle Satz. Doch dieser Satz ist kein Satz einer idealen Sprache, sondern ein Satz, der einen Knoten oder eine Verbindung im Netz eines bestimmten Sprachspiels darstellt. „Ja“ oder „Das stimmt“ ist ein Knoten, „Daraus folgt“ eine Verbindung, das eine beispielsweise in einem Gespräch, das andere in einem logischen Kalkül.

Jeder Satz ist Teil eines Zusammenhangs von Sätzen; kein Satz ist, wie der Autor des Tractatus logico-philosophicus glaubte, atomar, als ob er einen atomaren Sachverhalt darstellen würde. Der Satz „Dieser Fleck ist rot“ ist nicht atomar, weil er, wie Wittgenstein konzedierte, den Satz „Dieser Fleck ist nicht grün“ impliziert.

Wir können kategorial unterschiedliche Satzzusammenhänge bilden; Legenden und historische Berichte; Traumerzählungen, Sagen und Mythen und Analysen von Träumen, Sagen und Mythen oder Axiome und logische Folgerungen sind solche Zusammenhänge.

Bildet die Tatsache, daß ein jeder Satz etwas über etwas sagt, die allgemeinste semantische Form?

Aber sprachliche Ausdrücke wie „Guten Morgen!“, „Warte hier eine Weile!“, „Gehet hin in Frieden!“ oder auch „4 x 2 = 8“ haben nicht diese Form.

Das Sehfeld wird durch etwas begrenzt, was wir nicht sehen; lenken wir den Blick auf das bisher Unsichtbare, tritt das bislang Sichtbare aus dem Blick.

Wir können die Weltausschnitte, die wir sehen oder sichten, nicht zu einem einheitlichen Weltbild addieren; wir können die Sätze, die sie beschreiben, nicht logisch zu einem einheitlichen System summieren.

Der Handschlag zweier Freunde, die sich verabschieden, unterscheidet sich kategorial vom Handschlag zweier Vertragspartner. – Es könnten dieselben Individuen sein, die heute dies, morgen jenes tun; oder sogar dieselben Individuen, die jetzt beides in einer Geste vollziehen. – Wir könnten den Unterschied nicht durch einfache phänomenologische Beschreibung erfassen.

Der Ausruf „Da hast du dich selbst übertroffen“ kann je nach Sprecher und Situation ein höchstes Lob und ein scharfer Tadel sein (wenn er ironisch gemeint ist).

In einer nicht zumindest relativ starren Umwelt könnten wir keinen starren Maßstab anlegen.

Relativ starre oder stereotype sprachliche Formen identifizieren wir leicht als beispielsweise Fragen, Aufforderungen oder Bitten.

Wir können keine höhere philosophische oder moralische Warte einnehmen, die uns erlaubte, bestimmte stereotype Formen oder begriffliche Schemata zu diskreditieren oder auszusondern. – Wir können nur ihre kategorial fehlerhaften Verwendungen verurteilen; beispielsweise die Anwendung des begrifflichen Schemas der Wahrnehmung auf den Vorgang der Erinnerung (als nähmen wir ein Bild im Archiv des Gedächtnisses wahr).

Wir verfügen über keinen Ariadnefaden, anhand dessen wir das Labyrinth des Denkens genau an der Stelle verlassen könnten, an der wir in es eingetreten sind.

Wir können das Labyrinth nicht in der Absicht verlassen, seinen Umfang und seine Verzweigungen aus der Vogelperspektive zu betrachten.

Die Idee des göttlichen Blicks, der sich eine allumfassende Übersicht verschaffen könnte, beruht auf einem kategorial verfehlten Begriff des Wissens. – Denn jede Form des Wissens impliziert ein Nicht-Wissen. – Ich kann im System der ganzen Zahlen die Kreiszahl pi nicht darstellen. – Wir können nicht mit Gewißheit angeben, ob einer, dem wir die Folge der natürlichen Zahlen mittels + 1 beigebracht haben, die Reihe von 0 bis 100 richtig aufzählt, dann aber mit 99, 98, 97 usw. fortsetzt.

Das Geheimnis, könnte man sagen, hat einen Doppelgänger, der sich ohne Scheu der Öffentlichkeit präsentiert, dem alle Schranzen, Snobs und Gesellschaftsmenschen nachlaufen, ihn photographieren und interviewen, wobei er nur die allseits bekannten Geschichten und Sottisen vom Luxusleben des erwählten Menschen der Elite zum besten gibt, während das Original, die vergoldete Mumie des Pharaos, hinter den labyrinthischen Gängen der Pyramide in einer unzugänglichen Kammer verborgen ist.

Wir können die unerwarteten Abzweigungen und Weggabelungen des Denkens nicht voraussehen. Gehen wir an der Kreuzung nach rechts, gelangen wir in ein anderes kategoriales Feld, als wenn wir die andere Richtung eingeschlagen hätten.

Nach dem mühsamen Anstieg genießen wir den Fernblick; der Enzian, den wir eben noch nahe vor Augen hatten, ist nun in einem verschwommenen Flecken aus Schnee, Moos und Granit untergegangen.

Wir können nicht beides haben, vollständige Transparenz und begriffliche Übersicht.

Nicht unsere Unfähigkeiten, sondern unsere sprachlichen Fähigkeiten halten uns im Labyrinth des Denkens gefangen.

Der Jahreszyklus mit seinen Jahreszeiten ist die Chiffre des Lebens. – Die Metamorphosen von Licht und Schatten des Tages sind die Chiffre des Jahres- und Lebenszyklus. – Chiffren solch elementarer Natur stehen am Beginn und im Zentrum der Dichtung.

Horaz, Baumeister von Zyklen und Maler von Miniaturen.

Durch die Maschen der Zäune, die unsre sorgfältig gejäteten Gartenwege und die Beete mit den Rosen und Orchideen einschließen, treibt der Flugsamen wilder Kräuter.

Der Ableger der Sukkulente treibt eine Sukkulente hervor, aber der Ableger unserer Gedanken treibt eine Chimäre hervor.

Der komplexe Sachverhalt, den wir beispielsweise in einer zweistelligen Relation ausdrücken, ist bisweilen leichter zu verstehen als der in einer einstelligen Relation ausgedrückte einfache Sachverhalt: „Karl lief schneller als Peter“ – der Satz ist wahr, wenn er durch unsere Beobachtung bestätigt wird, daß Peter von Karl überholt wurde. „Karl lief schnell“ – der Satz kann nicht durch einfache Beobachtung bestätigt werden, es sei denn, wir ziehen andere Sätze hinzu, die von Maßstäben und der Messung von Geschwindigkeiten handeln.

Karl mußte im Falle, daß er Peter überholt hat, nicht schnell im Sinne des Satzes „Karl lief schnell“ gelaufen sein; er konnte bloß weniger langsam als Peter gelaufen sein.

pi = 3.14159265359 … Drei Punkte stürzen uns in geistige Verwirrung.

Die Idee des Unendlichen – das Labyrinth des philosophischen Denkens tut sich auf.

Auch wenn wir wissen, daß die Reihe der Dezimalstellen der Kreiszahl pi nicht abbricht, können wir nicht ohne geistige Verwirrung annehmen, daß die unendliche Reihe der Dezimalzahlen in welcher imaginären Welt auch immer vollständig gegeben sei.

Auch wenn wir wissen, daß die Reihe der Dezimalstellen der Kreiszahl pi nicht abbricht, können wir der Versuchung nicht widerstehen, sie in den Horizont dessen einzuschließen, was man verräterischerweise das aktual Unendliche genannt hat.

Das aktual Unendliche ist eine Chimäre des mentaler Schwerkraft nachgebenden Denkens.

Die Beifügung des Prädikats „unendlich“ zu den göttlichen Eigenschaften der Macht, des Wissens und der Güte hat die christliche Theologie und die von ihr inspirierte Philosophie in die Höhen transzendenter Spekulation gehoben und in die Tiefen geistiger Verwirrung gestürzt. – Die windigen und bodenlosen Systeme des deutschen Idealismus zeugen davon.

Wir können die semantische Struktur der Sprache gleichsam als unendlichen Bruch angeben oder als unerschöpfliche Möglichkeit, Sätze in neue Sätze zu teilen.

Doch wir stürzen in geistige Verwirrung, wenn wir hoffen, diese sprachliche Erweiterung durch Reflexion oder metasprachliche Beschreibung zu finden, indem wir beispielsweise sagen: „Der Satz ‚Karl läuft schneller als Peter‘ ist eine zweistellige Relation“, um dann zu konstatieren, daß dieser Satz keine zweistellige Relation, sondern ein Pseudo-Satz ist, der die einfache relationale Struktur verdeckt, die sichtbar wird, wenn wir schreiben: a R b.

Glücklich (oder zumindest nicht unglücklich), wer die Obsession, glücklich zu sein, überwunden hat.

Unglücklich, wer der Welt vorwirft, nicht seinen Maßstäben zu entsprechen.

Aberglaube und weltanschaulicher Wahn, Neurose und Psychose sind untaugliche Methoden, den Weltlauf den eigenen Phantasmen gemäß verändern zu wollen oder den eigenen Wünschen gemäß eingerichtet zu sehen.

Der Wahn, von höherer Warte gesehen, gewürdigt, erwählt zu sein.

Besser, sagt die Psychose, von feindlichen Mächten verfolgt, beäugt, verspottet zu werden, als gänzlich verlassen zu sein.

Nicht esse est percipi, sondern: Die Welt, in der wir leben, enthüllt sich nicht ohne die Wahrheiten, die uns die Sprache darzustellen erlaubt.

Freilich, die Rückseite des Mondes existiert, ob wir oder Gott sie in Augenschein nehmen. Aber der wahre Satz, daß alle von uns wahrgenommenen und nicht wahrgenommenen Dinge ein Rückseite haben, ist eine Implikation unseres Begriffs von materiellen Gegenständen.

Den Faden, anhand dessen Theseus nach seiner Erlegung des Untiers wieder aus dem Labyrinth gefunden hat, hatte Liebe gesponnen.

Den Faden, der uns aus dem Irrgarten kindlicher Wünsche und überspannter Erwartungen ans Licht der reinen Gegenwart führt, hat Weisheit gesponnen.

Die Blume des Worts, der reinen Gegenwart der Sonne aufgeschlossen, genügt; was sollen uns die kümmerlichen Triebe der Kartoffeln, die im Dunkel des Kellerlochs sprießen.

„Kosmologische Feinabstimmung?“ – Ach nein, Gott hat Anselm nicht damit beauftragt, seine Existenz zu beweisen.

Esse est percipi – also wäre Gott ein Wesen, das sich in Ewigkeit selbst bespiegelt.

Tötungswunsch und Zeugungstrieb – unser animalischer Keim bringt im dunklen Verlies des Schuldgefühls bizarre Sprossen hervor, die nur zu einer blassen Scheinblüte taugen, jener Moral, die keine fruchtbaren Pollen auszustreuen bestimmt ist.

Wir haben das Labyrinth verlassen, sobald wir mit Heidegger Denken mit Danken übersetzen.

Wir danken für das erhaltene Geschenk; das Mißliche am Geschenk aber ist, daß es uns zum Dank verpflichtet.

Reines, gleichsam unschuldiges Danken widmen wir dem, was sich selber gibt, und indem es sich gibt, in der Gabe zugleich sich entzieht. Heidegger nennt dies das Ereignis.

Das gleichsam anonyme Gedicht, das wie von einem Namenlosen für die Namenlosen geschriebene, nicht ein solches, das mit dem Namen oder der Unterschrift des Autors prunkt, können wir als ein solches Ereignis betrachten, ihm können wir als eine Gabe danken; das einzige, zu dem es uns verpflichtet: seinem Gruß die Antwort nicht zu verweigern.

Wir sagen, er hatte gute Gründe, ihr ein kostbares Geschenk zu machen, beispielsweise die Tatsache zu vertuschen, daß er ihr untreu gewesen ist; was da kostbar scheint an dem Geschenk, wird solcherart verdunkelt und geschmälert.

Wir sagen, sie hatte gute Gründe, seinen Gruß nicht zu erwidern, beispielsweise, weil ihr zu Ohren gekommen ist, daß er sie vor anderen herabgesetzt hat. – Der Umstand, daß sie seinen Gruß nicht mehr erwidert, gibt ihm wiederum den guten Grund, sie weiterhin und noch ärger zu verlästern.

All diese guten Gründe und Gegengründe sind wie Abzweigungen im Labyrinth unseres Tuns und Redens, die uns immer tiefer in Zweideutigkeiten verstricken und ins Dunkel locken.

Geben wir die Gründe auf, wie Wittgenstein, der sagt, man muß zu einem Ende kommen, oder werden sie uns von einem schicksalhaften Ereignis entrissen, wie bei Heideggers Epiphanie des Seinsgeschicks, scheinen wir den Halt am Gelände des gewohnten Sagens zu verlieren und in einen Abgrund zu fallen; doch könnte sich dieses Fallen – zumindest für Augenblicke – in ein Schweben verwandeln.

Die Taube fliegt durch den Abgrund des Himmels, doch hält sie das Gelände der Luft. – Der freie Denker und Dichter tänzeln ohne Halt auf dem Hochseil der Sprache, doch balancieren sie mit der Balancierstange der Grammatik und Rhetorik das Gleichgewicht immer wieder aus.

Der lange Irrweg des Denkens im Labyrinth der abendländischen Theologie, aus dessen Dunkel das Feuer Pascals den Ausweg zeigte.

Sisyphos wälzt den Stein aufs neue, auch wenn er weiß, daß er von dem Hügel wieder herabrollen wird. – Wir haben die Kerze zum Angedenken auf dem Grabe angezündet, auch wenn wir wissen, daß sie nur kurze Zeit in der Dämmerung scheinen wird.

 

Mrz 27 23

Die stille Kerze

Wie sanft ihr Honigduft verraucht,
laß nur die stille Kerze brennen,
an feuchten Blicken mich erkennen,
wie tief die Liebe eingetaucht.

Und reißt der mürbe Nerv, der kaum
den schwachen Blumengeist kann halten,
schaut nach er dämmernden Gestalten,
zerfließen wir zu mondnem Schaum.

Wenn flackernd auch der Schein vergeht,
das holde Antlitz laß nicht sinken,
von seinem Schimmer mich ihn trinken,
den Tau, der in der Blüte steht.

Löst uns die Zunge goldner Wein
wie in durchwehten Dämmergängen
zu traubenhellen Dankgesängen,
ist uns, als rausche fern der Rhein.

 

Mrz 26 23

Der Schatten wächst

Der Halm, die Ähre sieht es nicht,
wenn fernhin blitzend Sensen schwirren.
Herz, bleibe fest in allen Wirren,
der Schatten wächst im Abendlicht.

Und stehen wir im Wendekreis,
und müssen alle Farben fahlen,
noch schwanken in bemalten Schalen
die Blüten rot, die Blüten weiß.

Ist auch kein Flügel, der uns streift,
und kann die Wunde nicht genesen,
zu schauen waren wir erlesen
die Purpurfrucht, im Herbst gereift.

Durchbricht das Schilf der Nacht kein Strahl,
mag bitten uns, noch Licht zu saugen,
ein Zwillingsstern von sanften Augen.
Mit seinem Schein erlisch, o Qual.

 

Mrz 25 23

Die Knospe Liebe

Hände, gegerbt vom Strahl, von Wettern rauh,
sie banden Reben, sie schnitten Gerten,
sie sind’s, zu salben dich mit Zärten,
zu streuen dir der Nachtviole Blau.

Locken, gewundene Qual, geringelter Scherz,
Labyrinthe voller Licht und Schatten,
voll Düften morgenfeuchter Matten,
wo Veilchen Tränen weinen deinem Schmerz.

Lippen, vom Schweigen spröd, vom Sprachsalz wund,
sie öffnen sich wie Purpurrosen,
die Eos Strahlenfinger kosen,
küßt sie dein Hauch, träuft Honiglicht dein Mund.

Augen, blauschwarze Maare, Schwermutwein,
worin noch mondne Tropfen funkeln,
bis rings des Traumes Schilfe dunkeln,
sie glühen, taucht dein Sonnenauge ein.

Herz aber, verborgen in der Grotte Nacht,
du singst der lichten Ströme Sänge.
O daß in ihnen untergänge
die Knospe Liebe, die du ihm gebracht.

 

Mrz 24 23

Der Dämon lacht

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wehe, wenn Vegetarier Blut lecken.

Der Dämon lacht, wenn Pazifisten Tauben zu den Krähen scheuchen.

Wehe den Heuchlern, die verkünden, der Wolf werde friedlich mit dem Lamme grasen und der Teufel auf seine Blutsuppe verzichten.

Ein Trost für Hiob: Die kleine Erbse der Wahrheit zuunterst unter den Federbetten und Daunen der Lüge und Eitelkeit läßt auch die Prinzessin mit dem besten hypermoralischen Gewissen nicht schlafen.

Der Dämon grinst, wenn das Familienministerium mittels Hetzpropaganda und Rechtsbeugung die systematische Auslöschung der klassischen Ehe von Mann und Frau, die öffentliche Verlästerung der Autorität des fürsorgenden Vaters und der erzieherischen Rolle der Mutter, die sexuelle Desorientierung von Kleinkindern in kommunalen Kinderverwahranstalten und die staatliche Propaganda und Förderung perverser, zur Unfruchtbarkeit verdammter Lebensstile betreibt.

Was sie Wohlfahrt nennen, ist wie das genüßlich-versonnene Lecken des Löwen an der blutigen Hüfte der geschlagenen Antilope.

Wer kein Instrument beherrscht, wird nicht ins Orchester aufgenommen; anders in der Politik, wo Frau Wurstfinger auf den Saiten einer überspannten Humanitätsrhetorik quietscht und Herr Grobian mit antirassistischen Donnerschlägen auf die Pauke haut.

Der Dämon kugelt sich, weil kulturfremde Barbaren, die Leitfunktionen in den kulturellen Einrichtungen okkupiert haben, unter dem Applaus der Medien an den Denkmälern der Nation urinieren.

Der feste Schritt ins Neuland bedarf der männlichen Tugenden des Muts und der Entschlossenheit; wer zögernd vorantastet, versinkt schon im Morast. – So finden sich Verschworene, den erregten Strömungen der Reformationszeit nicht unähnlich, die sich eskapistisch in Klüften, Nischen und Wäldern zurückziehen, um ihre eigene Schwurgemeinschaft zu stiften.

Man kann daran zweifeln, ob ein Zweifel (wie der des Descartes) berechtigt ist.

Man kann nicht vortäuschen, Schach spielen (oder Italienisch sprechen) zu können, ohne es zu können.

Der Dämon des Descartes, der ihm vorgaukelt, alles sei nur ein Traum, muß er nicht wissen, was das ist, ein Traum, und also auch, was das ist, wach sein?

Man macht einen unauflösbaren semantischen Knoten, wenn man davon redet, etwas sei mit sich selbst identisch; aber betrachtet man irgendeine mathematische Gleichung als formalen Ausdruck einer logischen Tautologie, ahnt man, was gemeint ist.

Die primären Sprechakte des Sprach- oder des Mathematikunterrichts sind Befehle. „Das ist eine Rose“ heißt: „Nenne, was du da siehst, eine Rose!“ – „2n = 8“ heißt: „Dividiere 8 durch 2!“

Moral nennen wir die informellen Verhaltensregeln einer Gruppe; das kodifizierte Recht schreibt ihr die formellen Verhaltensregeln vor. Politiker, die das Recht mit einer vorgeblich höheren Moral vermischen, zersetzen es.

Wer Politik moralisiert, mag immerhin ein Heuchler sein; wenn er aber nicht einmal das Zeug zum Heuchler hat, ein Dummkopf.

Dieselben trüben Geister, die den Deutschen das Recht auf eigene nationale Identität absprechen, führen Krieg für den Erhalt einer fremden.

Esse est percipi, sagt Berkeley; und die Rückseite des Mondes existiert nur, weil Gott, der alles sieht, auch diese seiht. – Aber der Begriff eines Wesens, das alles sieht, ist ein Unbegriff.

Alles sehen heißt nichts sehen. – Ich sehe die Figur vor dem undeutlichen Hintergrund, fokussiere ich den Blick auf den Hintergrund, verschwimmt die Figur.

Unser Begriff raumzeitlicher Gegenstände impliziert, daß sie eine Rückseite haben; wir müssen sie nicht sehen, um es anzunehmen.

Unser Begriff des Sehens impliziert eine interne Begrenzung durch das visuelle Feld.

Unser Begriff von Sprache impliziert, daß wir nicht über alles reden können; er impliziert eine interne Begrenzung durch logisch-grammatische Strukturen.

Der Satz „‚Reich mir die Karaffe!‘ ist eine Aufforderung“, ist keine Aufforderung.

Wir können nicht gleichzeitig einen Satz verwenden und über seine Verwendung reden.

Wir können nicht über die Art der Verwendung eines Satzes reden und ihn gleichzeitig verwenden.

Der Satz „2n = 8 ist eine Gleichung“ ist ein Pseudo-Satz. – Wir sehen ja, daß 2n = 8 eine Gleichung ist.

Der Satz „‚Diese Rose ist rot‘ schreibt einem Ding eine Eigenschaft zu“ ist ein Pseudo-Satz. Wir sehen ja, daß der Satz „Diese Rose ist rot“ der Rose die Eigenschaft zuschreibt, rot zu sein.

Der Satz „‚Der Mond ist der einzige Erdtrabant‘ ist wahr“ ist ein Pseudo-Satz; denn der Satz „Der Mond ist der einzige Erdtrabant“ sagt ja, was wir als astronomische Tatsache annehmen.

Der Satz „‚Die Rose Schönheit soll nicht sterben‘ ist eine Übersetzung eines Verses eines Sonetts von Shakespeare“ ist ein echter Satz; denn er zitiert den Vers in deutscher Übersetzung und weist seinen Autor aus.

Der Satz „Diese Rose ist rot“ ist äquivalent mit dem Satz „Der Satz ‚Diese Rose ist rot‘ ist wahr, wenn die Rose rot ist“ – und umgekehrt.

Das Wahrheitsprädikat „ist wahr“ hat, wie Tarski nachwies, die Funktion, die Äquivalenz zweier Sätze aufzuweisen, wovon der eine Satz eine Erwähnung oder eine Zitation des anderen Satzes darstellt; der erste Satz steht in Anführungszeichen, der zweite nicht.

Die Sätze „This rose is red“ und „Diese Rose ist rot“ haben dieselbe Bedeutung, aber nicht deshalb, weil beide sich auf ein unabhängig von ihnen bestehendes Faktum beziehen, das wir auch ohne Verwendung von Sätzen dieser Art feststellen und beschreiben könnten, sondern weil sie das Faktum mittels derselben Form der Benennung („rose“ und „Rose“) und derselben Art von Prädikation („is red“ und „ist rot“) semantisch konstituieren; diese Form der semantischen Konstitution läßt sich nach Frege als Funktion beschreiben: a (Fa), es gibt ein a derart, daß es die Eigenschaft F hat.

Wir können nur auf etwas zeigen und über etwas reden, was sich, wie Heidegger es ausdrückt, von sich aus zeigt. – Wir können es nur von der Stelle aus betrachten, an die wir schicksalhaft geraten sind, es nur mit den sprachlichen Mitteln beschreiben, die uns schicksalhaft zugewachsen sind. – Der Rest liegt im Dunkeln, der Rest ist Schweigen.

Wir haben keinen einheitlichen oder univoken Begriff von Welt, Tatsache, Ding und Sprache, sodaß wir sagen könnten, die Welt sei das kohärente Netz der Tatsachen und dieses sei adäquat und konsistent mittels einer einheitlichen Sprache oder philosophischen Meta-Sprache beschreibbar.

Die physikalischen Sätze, mit denen wir die Eruptionen der Sonne beschreiben, gehorchen anderen Kriterien von Evidenz, Wahrscheinlichkeit und Erklärungstiefe als die moralischen Sätze über den unangemessenen Wutausbruch unseres Freundes.

Die intrikaten Regeln unserer Verhaltenscodizes sind nicht vergleichbar mit den transparenten Regeln mathematischer Beweise; der Bekannte grüßt uns nicht mehr – haben wir uns, ohne es zu bemerken, eines Fehlverhaltens schuldig gemacht, ist er dünkelhaft geworden; das liegt nicht auf der Hand.

Der Satz „2 + 2 = 4“ ist richtig, weil 2 + 2 = 4; aber auch kraft der Rechenregeln, die wir mittels unseres Dezimalsystems entwickelt haben.

Der Satz „Der Preis einer Ware ist der Quotient aus Angebot und Nachfrage“ ist wahr, unter der Bedingung des freien Warenaustausches.

Aber der Satz „Ich weiß, daß ich zwei Hände habe“ ist, wie Wittgenstein betont, sinnlos, es sei denn, wir lebten in einer Welt, in der unsere Hände plötzlich schrumpften und ebenso plötzlich wieder nachwüchsen.

„Ich weiß, daß ich zwei Hände habe“ ist ein Pseudo-Satz, der semantische Affe einer empirischen Wahrheit.

Allerdings sind, wie Wittgenstein herausfand, etliche scheinbar rein empirische Sätze für uns gleichsam in transzendentalem Auftrag unterwegs, da sie das Terrain der Lebensform abstecken, das wir bewohnen; das zeigt sich an unserer Weigerung, sie skeptischem Zweifel auszusetzen, oder dies nur in extremen Ausnahmesituationen zulassen. „Ich habe lange in Paris gelebt“ – würde nur bezweifelt, wenn ein Verdacht auf Hochstapelei oder eine schizophrene Psychose besteht. „Ich bin ein Mann (eine Frau)“ – würde nur von einem Arzt in Zweifel gezogen, der den relevanten Gendefekt identifiziert hat. Freilich „Ich bin ein Mann“ von einer Frau mit intaktem Uterus, „Ich bin eine Frau“ von einem Mann mit intakten Testikeln geäußert, wird von einem Psychiater als Symptom einer gravierenden Persönlichkeitsstörung angesehen werden können.

Wir sagen, um der Zweideutigkeit und Ambivalenz menschlichen Gebarens und Redens Ausdruck zu verleihen: „Hinter seinem Lächeln verbirgt sich Verlegenheit.“ – „Das überschwengliche Lob war nur die Hülle eines vernichtenden Tadels.“ – „Der da laut und aufdringlich mit obszönen Witzen auftrumpft, ist eigentlich eine zartbesaitete, aber verwundete Seele.“

Der globale Siegeszug der technischen Zivilisation scheint den Untergang der alten Kulturen, ihrer Künste, ihrer Musik, ihrer Dichtung, und die Auflösung der Völker, deren geniale Begabungen sie hervorgebracht haben, nach sich zu ziehen. – Ist dies ihre verborgene Wahrheit, von der Heidegger mutmaßte, sie habe sich schon in einer Art technischer Verengung des Logos-Begriffs bei Platon angebahnt?

Wittgenstein blieb, auch nach seinen Amerikareisen, unschlüssig, ob er dem Pessimismus Spenglers recht geben oder einige Hoffnung darauf setzen sollte, daß seine Schriften in hundert Jahren verständnisvolle Leser finden werden.

Der Schüler lernt, wenn er denn lernt, aufgrund von Lob und Tadel, Anleitung und Maßregelung immer besser Gleichungen zu lösen. – Der Hörer aber, er weiß nicht wie, verfällt mit einemmal dem Zauber des Adagios aus Beethovens Violinkonzert, das er schon so oft gehört hat, wohl angeregt und erfreut, aber nicht in diesem Maße erschüttert.

Schönheit, Anmut, Erhabenheit, wie sie in großer Kunst, Musik und Dichtung sich kundtun – sie heben uns, wir wissen nicht zu sagen, wie und von wannen, aus den Niederungen und Erniedrigungen unseres dumpfen oder alltäglichen Daseins.

Jenes Licht, das uns, wie flüchtig immer und flackernd, im Dunkel wie die geweihte Kerze noch im Karfreitagsdämmer scheint, wir wissen nicht zu sagen, wie und von wannen.

Freilich, wir können auch hier gleichsam das Walten des Dämons gewahren; je inniger, je süßer das Licht im Dunkel aufscheint, um so dichter und finsterer wirkt rings die Nacht.

Sangen nicht ergreifend schön jene Jünglinge, die als Opfer des Dämons in den Feuerofen geworfen wurden?

Singt nicht auf den schwarzen Wassern des Schlafs lilienhafte Anmut, die unterzugehen bestimmt ist, Ophelia?

 

Mrz 23 23

Müßige Fragen

Mir ist die Stirn vom Tage heiß.
Wann, Schwester, windest du die Ranken,
wann kühlst mit Seufzern du den Kranken,
daß er vom Trost des Abends weiß?

Mich hat das Graun der Nacht verheert.
Wann, Bruder, schichtest du die Scheite,
daß sich das Herz am Prasseln weite,
wenn Feuer mürbes Holz verzehrt?

Mir ist die Lippe krud und wund.
Wann, Schwester, wirst den Krug du füllen,
den Durst nach Küssen mir zu stillen,
daß wieder süßer lallt mein Mund?

Mich hat der Schwermut Zwirn umsäumt.
Wann, Bruder, kappst du bange Taue,
daß ozeanisch um uns blaue
Gesang, der von Korallen träumt?

 

Mrz 22 23

Letzte Ausfahrt

Wasser, es glitzert, Schatten versank,
und die vom frühen Odem erquickten
Blüten, sie sind die lichtvoll Beglückten.
Tau ist geronnen, Knospe, sie trank.

Die in den Wipfeln von Winden gewiegt,
Adler, sie breiten der Sonne die Schwingen,
aber in Tälern weckt uns ein Singen,
Welle hat sich an Welle geschmiegt.

Wasser, es trägt uns, Woge, sie blaut,
Segel, die Wappen von Lilien schmücken,
schwellen wie Lieder, die Seeleuten glücken,
denen vor Sturm und Sirenen nicht graut.

Was da ächzt unterm männlichen Gang,
was da stöhnt, sind nicht eichene Planken,
und in den Rahen das Schwirren und Schwanken
straffen die Rhythmen, bläht heißer Sang.

Und mit den Flügeln der Engel am Bug
ist die Schöne, das Ungeheuer,
Augen, Türkise, geläutert im Feuer,
Wahrheit der Dichtung, mythischer Trug.

Dunkelt wie Onyx voll Schwermut das Meer,
Salz, es zerfrißt die gesanglosen Zungen,
kommen aufgischtend Delphine gesprungen,
Wasser, es sprüht unterm glühenden Speer.

Flüstern von Heimat Gestirne uns sacht,
sollst du, Matrose, das Banjo hart zupfen,
ich aber singe von Lippen, die tupfen
Kuß an Kuß auf die Wange der Nacht.

Ferneres Lesbos glüht an uns der Mond,
Haine schlaftrunkener Nachtigallen,
Buchten anmutig schwebender Quallen,
wo Euterpe im Muschelschaum wohnt.

Trübsinn hat uns das Bild nicht verstellt,
sahen wir doch die Blicke, die feuchten
auf den seligen Inseln uns leuchten.
Schäume, o Lied, noch, am Riff schon zerschellt.

 

Mrz 21 23

Das Messer singt

Messer, es tanzt, Messer, es kreist.
Schneidet die Strahlen der Sonne und blinkt.

Messer, es wirbelt, Messer wird heiß.
Adern locken den Durst, daß er trinkt.

Schön ist das Messer, kunstreich verziert
prunkt der Griff ihm von Elfenbein.

Duftendes Salböl hat es poliert,
Nachtglanz verlieh ihm ein Onyxstein.

Messer, es tanzt, Messer, es singt.
Auf und nieder flügelt der Ton.

Goldlack, er lacht. Mähne, sie schwingt,
warmer Lippen leuchtender Mohn.

Mädchen, lauf durch den Auenwald,
schneller, als Mond hinter Wolken enteilt.

Winde flüstern es, Welt, sie ist kalt,
Wunden sind, die niemand mehr heilt.

Messer, es singt, Lied, es ist süß,
höher schluchzend als silbern der Quell

im grüngoldenen Paradies.
Laufe, Mädchen, Mädchen, lauf schnell.

Doch hat der Klang das Herz schon betäubt,
zwischen den Schattenhalmen erbebt

Schoß einer Lilie unbestäubt,
Unschuld, die nur von Nachttau gelebt.

Träume, sie legen die Schulter ihr bloß,
schimmernde Düne, Hügel im Schnee.

Tropfen versickern, röten das Moos,
Aug, wie es bricht, als stürbe ein Reh.

 

Mrz 20 23

Als hätten alles wir geträumt

Was uns das süße Licht geschäumt,
der Kelch des Worts ist ausgeflossen,
ins Dunkel hat er sich ergossen,
als hätten alles wir geträumt.

Uns quoll ein reiner Silberton,
da einst wir bei den Moosen schliefen,
aus dunklen mütterlichen Tiefen.
Der Schmerz, er trank den Tau vom Mohn.

Was uns geperlt den Schmelz zum Fest,
die Liebesmuschel ist zerfallen.
Uns tönt kein Trost von Nachtigallen,
im Grase liegt das dürre Nest.

Wir gingen hin zum Gnadenbild
zu schauen, ob noch sanfte Strahlen
ein Lächeln auf das Antlitz malen.
Ein Kartagstuch hat es verhüllt.

Weißt, Liebe, du noch einen Grund,
im blütenlosen Karst zu weilen?
Laß uns zum Boote Charons eilen,
der bittre Glanz fault schon im Mund.

 

Mrz 19 23

Pfütze und Fontäne

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

„Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz.“ Max Weber

Sie leugnen den Unterschied von Gesetz und Übertretung, also wollen sie die Gefängnisse niederreißen; den Unterschied von Vernunft und Wahn, also die Psychiatrie auflösen; den Unterschied von Sinn und Unsinn, also reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.

Der Name des Vaters ist das Gesetz des Abendlands. Verfällt seine Ehre, sinkt das Erbe dahin.

Nach Maßgabe der Gefahr des Pater semper incertus ist das Patriarchat oder die Obhut des Mannes über die weibliche Fruchtbarkeit die vernünftigste Ehe- und Familienform.

Die Knappe Ressource Aufmerksamkeit inspiriert die Fesselung und Faszination des Blicks.

Die Regeln der Höflichkeit dienen der Verschleierung von Rangunterschieden.

Schoß die Blüte, Tränen ihr Tau.

Das Geschnatter auf den stillen Pfaden der Betrachtung wird man nur los, wenn man die Gänse in den Stall zurücktreibt.

Wenn man die Fahne mit den Heilszeichen (oder den westlichen Werten) schwingt, fließt schon Blut.

Intelligenz das Rinnsal, Dummheit der Ozean.

Wer die Grenze nicht hütet und die Türen nicht verschließt, hat nichts zu verlieren.

Je weniger an Substanz, umso lauter das Geschrei.

Die letzte Norm ist die paradox-perverse, alle zu verwerfen.

Der letzte Tanz um den letzten Götzen, den unfruchtbaren Hermaphroditen.

Die Primordialität der Zweigeschlechtlichkeit zu leugnen, zeugt von der Schwächung des Lebenswillens.

Schlaffe Hände ohne die Striemen und Risse, die vom Überlebenskampf künden; ein wächserner Geist, der an der Sonne der Erfahrung dahinschmilzt.

Den Melkbottich unter den Ziegenbock gerückt versprechen sie uns die duftende Molke neuer Erkenntnis.

Die monogame Ehe ist die Schule der Züchtigung männlicher Ausschweifung und Eitelkeit.

Wenn der Schwarze den kleinen Eckladen des weißen Siedlers überfällt, ist es eine Tat der Befreiung, wenn der Weiße in Notwehr auf den Schwarzen schießt, ist es eine rassistische Greueltat.

Erstaunlich (oder auch nicht), daß Dummheit als wärmende Schutzhülle vor dem Frosthauch des scharfen Verstandes geschätzt wird.

Wer heute mittels amtlich bereitgestellter App den mißliebigen Nachbarn und den Querulanten aus dem Büro denunziert, hätte damals als Blockwart dasselbe getan.

Wetterfrösche, Plastikattrappen im apokalyptischen Puppenspiel.

Wittgenstein antwortete dem marxistischen Geschichtsphilosophen, der den unaufhaltsamen Fortschritt durch die Wissenschaft und ihre segensreichen technischen Anwendungen dialektisch gegen ihre unausbleiblichen Folgen an landschaftlicher und seelischer Verwüstung verteidigte, auf die Frage, ob er denn auf all die lebenserleichternden Güter verzichten und wieder in einer Höhle hausen wolle: „Ja, in einer Höhle!“

Die gefeierten neuen Infantilen schmähen den Vater, der sie gezeugt und unter Entbehrungen aufgezogen hat, vor dem Vater des Vaters, dem stotternden Greis auf dem Sofa, spucken sie aus.

Wenn es wahr ist, daß sich die Schuld forterbt bis ins vierte und fünfte Glied, dann büßen manche durch innere Leere, manche durch den Verlust wahren Empfindens.

Die Untalentierten schmähen das Genie. – Hunde, die an Denkmälern das Bein heben.

Homer, die Tragiker, Sappho, Alkaios und Pindar – Fülle, gebannt in Form, steigt aus dem Anfang: ähnlich: die genuine Komplexität und Differenziertheit der alten Sprachen.

Deutschland, Land der Mitte seit den Karolingern und Ottonen, den Habsburgern und Preußen, Mitte zwischen Moskau und Paris, aber als Vasall überseeischer Mächte verliert es sein Gleichgewicht, und seine kulturellen Wurzeln verkümmern.

Die Wurzeln der deutschen Kultur sind germanisch und abendländisch: das Nibelungenlied und die Merseburger Zaubersprüche, Heliand und Parzival, Troubadours und Minnesänger, Madrigal und Tagelied, deutsche Rechtsbücher, Corpus iuris civilis, römische Baukunst und romanische Kathedrale, von der Gregorianik bis zur Wiener Klassik, von der Akropolis bis Spree-Athen, von Aristophanes und Sophokles bis Hölderlin, Kleist und Hofmannsthal …

Von den Priesterkollegien der frühen Republik bis zum Pontifex Maximus der Kaiserzeit, von den Quellheiligtümern bis zu den Tempeln des Forum Romanum, vom Walten der Auguren bis zum Festkalender heiliger Zeiten, von der bunten Opferschale für Proserpina bis zur hohen Kunst der Ara Pacis verlaufen die Linien und Muster des Sakralen im alten Rom.

Die Physiognomik, Typologie und Archäologie des Priesters ist noch ungeschrieben.

Die heidnischen Quellheiligtümer wurden zu Wallfahrtsorten des Marienkultes.

Freilich, der „synodale Weg“, ein Pleonasmus, der von der Unbildung derer, die ihn gehen, zeugt, weiß das fromme Gemüt zu keiner Wallfahrt mehr einzuladen.

Klopstock ist eine Fontäne, gespeist aus der Quelle des Helikon.

Aus trüben Pfützen lecken die streunenden Hunde der Gassenpoesie.

Das einmal zerrissene Spinnennetz, an dem die Tropfen der Ode und der Elegie funkelten, kann keine noch so empfindsame sehende Hand wieder zusammenflicken.

Der Wurzellose, ohne den Erdgeruch und das eigentümliche Licht einer Landschaft, der über alles redet, ohne daß eine Spur der Erinnerung zurückbleibt.

Der Junge vom Land in der Seminarbibliothek, dem noch Dung am Schuh klebte und am Gaumen das Bitterkraut der Erinnerung brannte.

Sie bemerken nicht, daß die Denkmäler, die sie niederreißen, auf sie selber einstürzen.

Der Termitenstaat wird mittels Absonderung chemischer Duftstoffe gelenkt; die Maschinerie des modernen Massenstaats mittels medialer Dauerberieselung von lügnerischen Phrasen und gleisnerischen Bildern.

Was sie überragt, müssen sie verkleinern, vom Schnee des Gipfels sagen sie: „Dort ist es kalt“, vom Öl, das die stille Flamme verzehrt: „Es stinkt.“

Wessen Wort nicht wie die Münze klingt, die auf den Ladentisch rollt das leise Plätschern dichterischen Quells findet keinen Widerhall in ihrem nüchternen Kontor.

Die Unfähigkeit zu bewundern geht mit der Verachtung des eigenen Daseins einher.

Ihre Bedeutungslosigkeit hat keine Zukunft, also soll vergangene Größe keine Gegenwart haben.

Sie haben sich bis zur Bewußtlosigkeit amüsiert und sinken in einen dumpfen Schlaf, aus dem sie, erschöpft von der atemlosen Flucht vor dem Minotaurus ihrer Traumlabyrinthe, ohne Hoffnung erwachen.

Auch den Trottel läßt man nicht durchfallen, auf daß sich die Schule nicht blamiert, auch dem Kretin verwehrt man nicht den Hochschulzugang, auf daß man nicht des Rassismus bezichtigt wird.

Die illiterate Großsprecherin macht man zur kulturpolitischen Instanz, auch wenn sie das christliche Kreuz als ein anstößiges Zeichen deklariert und ihr Musikgeschmack über den des kleinen Revuegirls nicht hinausragt.

Die sich am üblen Mundgeruch des Ressentiments erkennen.

Fräulein Müller erhält den Doktortitel, weil sie das Binnen-I jeweils eine Terz höher intonieren kann.

Der Gärtner, der Töpfer, der Goldschmied, sie wissen es noch, was der Hochschulabsolvent dank zehn Jahren, die er bei Vorlesungen und Seminaren in den Geisteswissenschaften verbummelte, vergessen hat.

Expertenräte: Stiefellecker der Politik.

Glücklich, wenn sie nur sagen, was alle sagen, fühlen, was alle fühlen.

Die das Unglück als Ehrenzeichen auf sich nehmen, aufgrund der Äußerung unverständlicher und befremdlicher Gedanken geschnitten zu werden.

Aufgrund von Muskelatrophie schleppen sich ihre Sätze an den zusammengeleimten Krücken einer perversen Moral voran.

Der athletisch federnde Gang der Epinikien des Pindar.

Die warmen Adern, die unter der zart schimmernden Haut von Goethes Versen pulsen.

 

Mrz 18 23

Sie knien hin

Von Striemen blieb verschont ihr schlaffer Geist,
die Stirnen zart wie muschelmatte Schalen,
ihr Herz erschrak nie unter Mondes Strahlen,
nie hat in ihm der Wüste Sand gegleißt.

Sie trinken Wein und rufen: „Welch ein Sturm!“,
wenn Ahnengeister an die Scheibe hämmern.
Die Seele will bei Serenaden dämmern,
schon schmatzt in ihrem Ohr ein geiler Wurm.

Wie einer an der Jahrmarktbude schießt
für seine Schöne eine Plastikrose,
sitzt ihnen jedes Wort am Gaumen lose,
das dünnen Fühlens Speichel lau umfließt.

Wie eine unbetaute Blüte graut,
verwaist in leergeräumten Zimmern,
ist ihnen lang entrückt das süße Schimmern,
da jugendlich der Liebe Blick geblaut.

Doch manchmal fühlen sie, wie alles schwankt,
wenn Wolken ihre hellen Spiegel trüben,
das Bild, das sie getragen, muß zerstieben,
von Schatten wilden Laubs das Herz umrankt.

Ein Wehen kommt, es seufzen Gras und Halm,
und Flammenflügel heben Lichtgestalten,
die Engel nur für frommen Kitsch gehalten,
sie knien hin und murmeln Davids Psalm.

 

Mrz 17 23

Knospe und Kristall

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Sagt man, am Anfang war das Wort, müßte man einschränkend präzisieren: die Aufforderung, der Befehl. Das bezeugt der Schöpfungsbericht der Genesis: Es werde Licht!

Etwas versichern oder behaupten und etwas abstreiten oder leugnen sind sprachliche Formen der Willensbekundung.

Zu berichten, daß man gestern Abend bei einer Gesellschaft zu Gast war, ist etwas anderes, als vor Gericht zu versichern, daß man an dem fraglichen Abend da und dort zu Gast (und nicht am Tatort) gewesen ist.

Die Aussage des vereidigten Zeugen, er könne sich nicht erinnern, ob der Tatverdächtige unter den Bankräubern gewesen sei, ist etwas anderes als die Leugnung des bestochenen oder erpreßten Zeugen, den Tatverdächtigen gesehen zu haben. – Die erste Aussage ist nicht inkriminabel, die zweite ein Meineid.

Mittels Umdeutung leugnen, was geschrieben steht – die dekonstruktive Hermeneutik eleganter akademischee Schwätzer.

Der zeitgeistig geschniegelte Herr Professor verkündet: „Es ist wohl wahr, Horaz apostrophiert im ersten Wort des ersten Gedichts des ersten Buches der Oden zum Zeichen, daß er ihm die Sammlung seiner Gedichte widmet, seinen Freund und Förderer Maecenas als altem königlichen Geschlecht (der Etrusker) entsprungen und die Ode gipfelt in der Aufforderung, ihn in den kleinen Kreis der großen lyrischen Dichter (neben Sappho, Alkaios und Pindar) einzureihen, als einen, der mit der Stirn das Sternengewölbe berührt, aber ihn wegen seines innigen Bezugs zum kaiserlichen Hof, seiner Zustimmung zur rückwärtsgewandten Politik des Augustus und seiner Schmähung des gemeinen Volkes (odi profanum volgus) als elitär oder gar reaktionär bezeichnen zu wollen, davor bewahre uns …“ Ja, was? Das über den glänzenden Professorenscheiteln bedenklich schwebende Damoklesschwert des politisch korrekten Hosenscheißertums.

„Der Täter hat die Geisel aus freien Stücken gehen lassen.“ – „Weil der Täter die Frau vorsätzlich über die Böschung gestoßen hat, ist die Tat als versuchter Totschlag einzustufen.“ – „Er schlug die Tür absichtlich vor ihrer Nase zu.“

„Weil die Bremsen versagten, passierte der Unfall gegen den Willen des Fahrers.“ – „Beim Reinigen des Gewehrs hat sich der tödliche Schuß versehentlich gelöst.“ – „Da er sich ernsthaft bedroht fühlte, hat er reflexhaft um sich geschlagen.“

Was wir Willen nennen, erfassen wir nicht durch Identifikation eines mentalen Gegenstands oder mittels neurologischer Untersuchung einer Hirnregion, sondern durch die sprachliche Analyse der Verwendung adverbieller Attribute von Prädikaten, mit denen wir Handlungen als freiwillig, vorsätzlich oder absichtsvoll charakterisieren; wir grenzen sie von Handlungen ab, die wir mittels adverbieller Attribute wie unfreiwillig, versehentlich oder reflexhaft charakterisieren.

Analoges gilt für die Charakterisierung sprachlicher Handlungen: Die Beleidigung der Amtsperson durch den in Gewahrsam genommenen Tatverdächtigen gilt für strafbar, die Verwünschungen desjenigen, der unter dem Tourette-Syndrom leidet, nicht.

Die sprachliche Willensbekundung, dem Freund die geliehene Summe in zwei Wochen wieder auszuhändigen, ist eine Sprachhandlung nach den Regeln dessen, was wir ein Versprechen nennen, wenn sie aus freien Stücken und mit dem Vorsatz erfolgt, das Zugesagte zu erfüllen, falls keine dem Willen des Sprechers entzogenen Hinderungsgründe auftreten; widrigenfalls drohen Sanktionen, die bis zum Bruch der Freundschaft führen können.

Eine Liste oder ein Verzeichnis materieller Gegenstände wie Möbel, Gemälde, Schmuckstücke und Bücher ist mehr als eine Übersicht über den Besitz- und Eigentumsstand einer Person, sie ist Teil der Bekundung dessen, was wir den letzten Willen nennen, wenn er als solcher deklariert und beurkundet wird.

Wir unterscheiden den Kern der Intention von der semantischen Hülle einer sprachlichen Willensbekundung.

Der Codex des Hammurabi, die Tafeln des mosaischen Gesetzes, die Edikte der römischen Kaiser und das Corpus iuris civilis des Justinian – die semantische Hülle changiert, der Kern der Intention bleibt: die Befehle und Anordnungen der Elite zur Weisung und Führung des Volkes mittels Stiftung sittlicher Institutionen.

Der versehentliche Patzer des Schülers wird korrigiert; die absichtliche Übertretung des Gesetzes aber sanktioniert.

Zeichen, wie die im Straßen-, Zug- und Flugverkehr benutzten, dienen dem, was man die Deklination des Willens nennen könnte.

Zeichen, die befehlen, dirigieren und anweisen, müssen von dem Betroffenen leicht, ohne großen Zeitverlust, ökonomisch gelesen und verstanden werden können. Die Ampel springt auf Gelb, das heißt „Achtung, abbremsen!“, dann auf Rot, das heißt „Stoppen!“

Der Interpret muß das direktive Zeichen in sein raumzeitliches oder grammatisches Koordinatensystem übertragen: Der Pfeil zeigt nach rechts, also biegt er rechts ab. Die Stimme hebt sich am Satzende; also soll er die Aussage als Frage verstehen.

Der Chemielehrer hält nach dem Experiment den beschlagenen Glaskolben in die Höhe und fordert den Schüler auf, hinzusehen und zu beschreiben, was er sieht. – Die visuelle Aufmerksamkeit und der Fokus des Blicks werden durch die Aufforderung gelenkt.

Die Werbung, sowohl in der Form gefälliger oder aufdringlicher Präsentation von Waren als auch im erotischen Sinne, ist eine Schule der Willenslenkung; wobei sich die Werbung gern und schamlos der visuellen und sprachlichen Mittel erotischer Verführung bedient.

Das werbliche Bild preist die Ware mittels ikonischer Stilisierung an, die werbliche Sprache mittels suggestiver Formeln unter Häufung von Komparativen und Superlativen.

Auch das Gedicht ist eine sprachliche Form der Willensbekundung. Der Kern seiner Intention ist nicht der bloßen Willkür des Dichters anheimgestellt, sondern eine Funktion der Gattung, die ihm die semantische Hülle in Form des rhythmisch-metrischen Stammes und des metaphorischen Laubwerks bereitstellt: Die Ode will rühmen, die Elegie klagen, die Satire spotten und das Sonett einen gedanklichen Knoten in das Seidentuch der Erinnerung (oder das Schnupftuch der Empfindsamkeit) binden.

Auch das Gedicht bedarf der Einbettung in das lebensweltliche Koordinatensystem des Lesers, um verstanden zu werden; nur entspringen die Koordinaten dieses Systems nicht dem Nullpunkt der realen Lebenssituation des Handelnden, sondern dem Nullpunkt der Imagination des Träumenden.

Auf dem Warnschild der Dichtung sieht man nicht wie auf dem realen eine Flamme oder einen Totenschädel, sondern eine feuerspeiende Chimäre oder das Schlangenhaupt der Medusa.

Die dichterische Sprache erotischer Werbung entfernt sich mehr und mehr vom Zweck der Verführung, bis sie sich bei Sappho, Horaz oder Goethe in die sprachliche Maske eines Lächelns oder Weinens, eines Triumphs oder einer Niederlage verwandelt, die aufziehen mag, wer will und wer kann.

Rhetorik ist ein Mittel, den Willen der Hörer durch geschickte Verwendung von Klängen und Rhythmen, Bildern und Metaphern, Argumenten und Scheinargumenten zu beugen.

Ausrufe wie „Hallo!“, „Schau mal!“ oder „Warte hier!“ sind Willensbeeinflussungsmittel.

Aufforderungen wollen den fremden Willen dirigieren und lenken, Fragen binden die Aufmerksamkeit des Gefragten und kanalisieren seinen Gedankenstrom.

Propaganda ist sowohl rhetorische Gemütererregungskunst als auch eine Form der Willensbemächtigung.

Dichtung haftet noch immer die magische Wirkung des Zauberspruchs (des Carmen) an.

Doch will das lyrische Gedicht nicht bloß das Gemüt rhetorisch erregen und magisch bannen, nicht nur zu erotischer Hingabe verführen, sondern in eine sprachliche Welt zweckfreien Spiels und mythischen Zaubers entführen.

Der amusische Barbar macht einen atonalen Höllenlärm, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Sein Bruder im Geiste, der neurotische Enkel der Avantgarde, und seine Schwester, die hysterische Mänade des Lyrikforums, zertrümmern die Syntax und durchlöchern das Sinnbild oder tätowieren die dünne semantische Haut des Gedichts mit grellen, abstrusen, obszönen oder grotesken Monstrositäten.

Die Eitelkeit will sich Gehör verschaffen; daher das Bellen und Schluchzen, das Grunzen und Säuseln, das Gellen und Winseln von den Podien der Akademien.

Torheit, Verstiegenheit und moralischer Dünkel dekretieren als neue Ars poetica die Verachtung der Meister, die Leugnung schöpferischer Genialität und das Credo eines ins Leere rasenden Experimentierens.

Sie behaupten, was sie da zackernd und flackernd, kauzend und mauzend, sudelnd und hudelnd betreiben, sei experimentelle Kunst; doch auf das Ergebnis solcher Experimente wartet man seit Jahren vergebens.

Wer nicht willens und in der Lage ist, eine lyrische Aussage zu gestalten, ersetzt die gelungene Gestalt durch ein mittels vager Ideen und mystischer Tinkturen zusammengeleimtes sprachliches Portentum, von dem die Dümmsten immer noch wähnen, es stehe im hohen moralischen Dienst des épater le bourgeois.

Der eine will mit reißerischen Gebärden oder possenhaften Wortspielen blenden, der andere mit dem monotonen Trampeln gichtig-plumper Versfüße ein somnambules Wanken und Schwanken evozieren.

Der Bottich für die duftende Molke des Sinns bleibt leer, denn sie haben ihn unter den stinkenden Ziegenbock des Zeitgeistes gestellt.

Sappho und Horaz, Goethe und Mallarmé; Knospe und Kristall, irisierender Tropfen und beschwingte Luft, Sternbild und Muschelschaum – aus nichts beschworen, geformt, geballt als aus Worten.

Aus dem murmelnden Brackwasser des Geredes steigt die Fontäne des Gedichts, und ihr Schaum irisiert im Mittag des Pan, ihre wehende Gischt fahlt unter den einsamen Blicken Dianas.

Das lyrische Gedicht ist die Schale, in der sich das Wasser geklärter Empfindungen sammelt, und bisweilen wiegt es köstliche Blüten der Erinnerung.

Wir sehen wirre, verschlungene Linien und Schraffuren auf der Fläche des zugefrorenen Teichs; Spuren tänzerisch-anmutiger Figurinen des Eislaufartisten.

Der Dichter wandelt einem Schlafwandler gleich auf dem von der Manege aus nicht sichtbaren dünnen Hochseil der Sprache; plötzlich wirft er die Balancierstange der Grammatik von sich und wagt den Salto.

Die dabei abstürzen, werden nicht bedauert, sondern verlacht.

Zuerst kommt das Gefäß zur Aufbewahrung von Öl und Getreide; dann gewahren wir, wie seine Form sich veredelt, ihm die Taille und die schlanken Arme des Mädchens zuwachsen; schon beginnt seine Haut zu schimmern und seine Oberfläche mit farbigen Figuren von Mythen und Märchen zu erzählen; zuletzt steht die kunstvolle Vase vor den Augen der Gäste, überhöht von den duftenden Blumen reiner Poesie.

Das Gefäß des Gedichts schwebt in der Luft, und es erfüllt sie mit zauberischen Düften jener geheimnisvollen Essenzen, mit denen es angefüllt ist.

Die Frühe schon zeigt das Vollkommene und Vortreffliche; die Psalmen, das Hohelied, die Epen; Torheit, von Evolution zu faseln, Torheit, den Glanz der Urbilder mit dem Eigendünkel des Epigonen zu verdunkeln.

Der selbstvergessen singt, heiter durch den dämmernden Wald der Sprache streifend.

 

Mrz 16 23

Was übrig blieb

Und hebst du aus der Nacht dein Angesicht,
das knospeninnig Träume in sich schlossen,
im Katarakt des Lichts ist es zerflossen,
nach Mondes stiller Frucht verlangt dich nicht.

Und trottest du den ausgetretenen Pfad,
des Tages starren Grenzzaun zu beschauen,
ist Sand in dir das weiche Niedertauen,
der Sterne Tropfen aus Dianas Bad.

Du mußt es klauben, eine Münze matt,
das Wort im Kot des Markts, im Staub der Gassen,
beschwingte Luft, die keine Siegel fassen,
trug fort das fleckenlose Blütenblatt.

Im Wingert hast dem heißen Gott der Zeit
die Reben du mit grünem Bast gewunden,
der Duft der Veilchen ist, er ist entschwunden,
den deinem Atem zarte Hand geweiht.

Und hat ans Fenster dich die Herbstesnacht
gelockt, das Herz, das dumpfe Herz zu kühlen,
kannst du das Wehen, kannst von Liebe fühlen,
was übrig blieb an hoher Blütenpracht.

 

Mrz 15 23

Der Rauch aus den Furchen

Und was wir gesagt und was wir gedacht,
sind Pollen, die keine Blüten mehr finden.
Gesänge, um die sich noch Sternbilder winden,
ersticken schon Nebel, begräbt schon die Nacht.

Die schimmernde Quelle, sie sprach uns zu matt,
und haben aus Worten wir Funken geschlagen,
der Wind hat hinweg uns die Funken getragen,
wir baten den Quell um ein Blütenblatt.

Die Blume entsproß, ihr Duft war gering,
und haben gepreßt wir uns Wein aus den Reimen,
der Geist des Weines blieb im Geheimen,
wir neigten zur Blume uns, Duft, er verging.

Wir hatten nur Erde noch, trockenen Staub,
und haben nach Wasser in Versen gegraben,
an Wassern die heiße Stirn uns zu laben,
aus Furchen quoll Rauch, die Zunge war taub.

 

Mrz 14 23

Als rauschte noch der Strom

Es war ein Schimmern zart in dunklem Quell,
als wir in Abendlaubes Schatten gingen.
Es war, als hörten wir von ferne singen,
wie eines Kinderliedes Ritornell.

Du hast mir wie ein weiches Blütenblatt
auf meine blasse Wange Hauch gebreitet,
hat sich an deinem auch mein Blick geweitet,
vor deinen Sternen blieb mein Auge matt.

Es war ein Wehen dunkler Wipfel süß,
als wir im Moos bei Uferweiden lagen.
Es war kein Menschenwort, vom Weh zu sagen,
als rauschte noch der Strom im Paradies.

Ich hab wie eine Knospe traumesschwer
das dumpfe Haupt in deinen Schoß gebettet,
und träumte ich, wie mich dein Lichtkuß rettet,
die Knospe hat geöffnet sich nicht mehr.

 

Mrz 13 23

Bejahende und verneinende Gesten

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wir können nicht alles offen und in der Schwebe halten; irgendwann müssen wir uns entscheiden, ja oder nein sagen.

Wir mögen das Zugesagte zurücknehmen, doch dann bleibt ein Hautgout der Zweideutigkeit an uns haften.

Im Vagen und im Zweifel können wir auf Dauer keine Bleibe finden.

Auch wenn wir zugestehen, daß viele sprachliche Ausdrücke, wie Wittgenstein sah, keinen festen Bedeutungskern haben, wird kein zwischen den Grenzen des Sinns nomadisierender Philosoph der Postmoderne uns darin wankend machen, daß Ja das Gegenteil von Nein und Nein das Gegenteil von Ja, die ausgestreckte Hand des Freundes das Gegenteil der gezückten Waffe des Feindes bedeutet.

Wir müssen denjenigen, der uns verspricht, das geliehene Buch zum ausgemachten Termin wieder auszuhändigen, beim Wort nehmen können.

Der Treulose und Wortbrüchige kann sich nicht darauf hinausreden, wir lebten in einer Art
Traumwirklichkeit, in der jeder Sinn seinen Gegensinn impliziere. – Denn wenn Ja Nein impliziert, müssen wir für immer schweigen.

Aussagen, die wir nicht begründen können, müssen wir nicht notwendig in Zweifel ziehen oder skeptisch in der Schwebe halten. – Aussagen über sinnliche Empfindungen und Wahrnehmungen, Erinnerungen, Befürchtungen, Hoffnungen und Erwartungen bedürfen keiner Begründung oder rationalen Rechtfertigung: „Mir ist kalt.“ – „Ich habe Zahnweh.“ – „Ich habe von dir geträumt.“ – „Ich habe mich an unseren letzten Spaziergang erinnert.“ – „Ich fürchte mich vor der Dunkelheit.“ – „Ich befürchte, die Aufgabe wird mich überfordern.“ – „Ich hoffe, die Aufgabe wird mich nicht überfordern.“ – „Ich erwarte nicht, daß er diesmal pünktlich kommen wird.“

Dagegen begründen wir Aussagen über physikalische Zustände und Ereignisse, mathematische Strukturen sowie (historische) Handlungen durch die Angabe von Gesetzen, Regeln und Motiven. – „Schnee und Nebel bestehen aus Wasser, denn beides ist H2O“ –
„2 x 4 = 4 x 2“, denn 2 x (2 x 2) = (2 x2) x 2. – „Im Jahre 49 v. Chr. überschritt Cäsar den Rubikon, um die Macht des römischen Senats in die Schranken zu weisen.“

Die Gesetze, Regeln und psychologischen Annahmen, mittels derer wir Aussagen begründen, können wir ihrerseits begründen; doch nur bis zu einer internen Grenze des Denk- und Sagbaren.

Wir können nicht tiefer begründen, weshalb unter der Voraussetzung der Atomtheorie die chemische Analyse von Wasser die Formel H2O ergibt; wir können nicht tiefer begründen, weshalb unter der Voraussetzung der Zahlentheorie 2 x 4 = 4 x 2; wir können nicht tiefer begründen, weshalb Cäsar unter den gegebenen historischen Konstellationen wollte, was er wollte.

In einer mythischen Welt erklären wir physikalische Ereignisse und physiologische Veränderungen als Folgen absichtsvoller Handlungen göttlicher Wesen. – „Zeus schleudert Blitze auf die aufständischen Titanen.“ – „Apollon schießt vergiftete Pfeile auf die Achaier, um sie durch die Ausbreitung der Pest für ihren Ungehorsam zu bestrafen.“

Im Unterschied zu rationalen Erklärungen lassen mythische Annahmen keine weiteren Begründungen zu.

Das gegebene Ja-Wort, mag es dem Bräutigam auch zögernd über die Lippen kommen, bindet. Das Ja-Wort vertritt eine Aussage, nämlich die Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen des Ehekontrakts. – Die Scheidung verneint das gegebene Wort, aber macht aus dem Geschiedenen nicht wieder einen Junggesellen, sondern einen ehemals verheirateten Mann.

Wir können die Unterschrift unter einem Dokument als Ja-Wort betrachten.

Wir können die Gewißheit einer der Begründung nicht bedürftigen Aussage wie „Ich habe Schmerzen“ und die Authentizität eines gegebenen Ja-Worts wie einer Unterschrift nur in Zweifel ziehen, wenn wir dem Sprecher oder Schreiber unlautere Absichten unterstellen oder geistige Unzurechnungsfähigkeit attestieren.

Die verneinende, abweisende, verwerfende Geste bildet gleisnerisch und verräterisch das Verneinte, Abgewiesene, Verworfene ab, ähnlich dem Schatten, der den Umriß der Gestalt verrät.

Das Nein des Verzichts bildet eine Narbe, eine Kruste über dem Begehrten.

Horaz ist ein Meister der verneinenden Gebärde, in der das Verneinte in seiner durchaus verführerischen Pracht anwesend ist, aber auch der bejahenden, die durch Schlichtheit oder Nonchalance besticht:

Persicos odi, puer, apparatus,
displicent nexae philyra coronae,
mitte sectari, rosa quo locorum
sera moretur.

Simplici myrto nihil adlabores
sedulus, curo: neque te ministrum
dedecet myrtus neque me sub arta
vite bibentem.

Mich stößt ab Perserprotz und zuwider, Sklave,
sind die Kränze mir, die mit Bast verzwirnten.
Such nicht mehr, wo unter Schatten späte
Rosen noch glühen.

Lass die Myrte schlicht, das Gekünstel trübt den
Eindruck. So du dann mir die Schale spendest
und ich leere sie unter Weinlaubs Dämmer,
schmückt uns die Myrte.

Carmen 1, 28

Der allzu selbstherrliche Prunk und die überschwengliche Rhetorik des Zierrats und der Ranken an Bauten, Kleidern und Gedichten mögen der Bejahung des Daseins dienen, doch wirken sie hohl, wenn seine Quellen getrübt oder schon erloschen sind. – Die von Wittgenstein mitentworfene Villa für seine Schwester Margarete, die durch ihre allen ornamentalen Schmucks beraubte Ästhetik und die kahle Mystik ihrer Verschwiegenheit für sich einnimmt.

Der Asket, der sich in die Dämmerung einsamer Höhlen oder hinter die Mauern des Schweigens zurückzieht, scheint des Buhlens um menschliche Aufmerksamkeit entsagt zu haben, hofft aber auf gütige, und wenn nicht gütige, zumindest strenge Blicke aus höheren Sphären.

Die den funkelnden Spiegel zerschlagen, hoffen noch auf ein fernes Licht aus dem Dunkel.

Biegen wir ab, können wir die andere Seite nur nach einem langen Umweg erreichen.

Der asketische Bilderstürmer reißt die Wand mit den üppigen Fresken der Wollust nieder; das Gebäude stürzt ein, die Trümmer begraben ihn unter sich; es war eine tragende Wand.

Des rhetorischen Zierrats überdrüssig neigte er zu lapidaren Sätzen. – Doch auch Gnomen sind eine rhetorische Figur.

Man muß ausgeatmet haben, um wieder einzuatmen.

Man muß die Tafel reinigen, um neue Zeichen darauf zu schreiben; man muß die Ruine beseitigen, um neu zu bauen.

Man muß die Quelle der Selbsttäuschung trockenlegen, um die nährende zu finden.

Der asketische Atemkünstler ist eine radikalisierte Abwandlung des Kafkaschen Hungerkünstlers.

Man muß das Erlebte verdaut und das Verdaute ausgeschieden haben, um wieder frische Lebenskost zu sich nehmen zu können.

Seufzer, Flüche, Träume oder Witze sind unsere Weisen, das verdaute Erleben auszuscheiden.

Die Polarität von Licht und Dunkel, Leben und Tod, Mann und Frau ist, wie Goethe sah, die Weisheit der Natur, tiefer zu sehen, inniger zu fühlen, Dauer im Wandel zu haben.

Die Größe und Ruhe des weiblichen Eis werden von der Kleinheit und Beweglichkeit des männlichen Spermas supplementiert. – Die Winzigkeit und nervöse Unruhe des männlichen Spermas werden von der stoischen Ruhe und Gelassenheit des weiblichen Eis ironisiert.

Keine Gestalt ohne das Amorphe, dem sie entspringt, den Schatten, den sie wirft, das Gestaltlose, in das sie zurückkehrt.

Den Fortschritt der Beschleunigung bezahlen wir mit der zunehmenden Trägheit der Empfindung. – Den Halm gewahrt der Wanderer, die Wiese der Radfahrer, den Schatten der Landschaft der Autofahrer.

Achill bezahlt den Ruhm mit einem frühen Tod.

Wir bezahlen Wohlleben und Lebensverlängerung mit Abstumpfung und Langeweile.

Den weltanschaulichen Phantasten, die hysterische Mänade oder einen, der unter Panikattacken und Weltuntergangsängsten leidet, wollen wir nicht im Cockpit, nicht am Steuerruder des Staates dulden.

Der leptosome Schlacks wird kein Weltmeister im Kugelstoßen. – Doch der schüchterne Stotterer entpuppt sich als genialer Epiker.

Nur selten taugen Dichter zu Ministern. – Unter amtlichen Verlautbarungen knickt jeder Versfuß ein.

Gedichte, die am Phantomschmerz amputierter Versfüße leiden.

Das dialektische Gespräch zwischen Sympathikus und Parasympathikus, Lunge und Herz, Gehirn und Geschlechtsteil amüsiert, wenn wir schlafen, die Engel und die Dämonen des Traums.

Ein Lächeln zu sehen ist nicht die (richtige oder falsche) Deutung von Gesichtszügen. – Waren die Gesichtszüge, bevor du sie als Lächeln deutetest, ein nichtssagendes Kräuseln der Hautoberfläche?

Eine Frage zu verstehen ist nicht die (richtige oder falsche) Deutung einer Reihe von Lauten. – Waren die Laute, bevor du sie als Frage deutetest, nichtssagende Schwingungen der Luft?

„Warte hier eine Weile!“ – Wir bedürfen weder eines präzisen räumlichen noch zeitlichen Maßstabs, um das Gemeinte mitzuteilen oder zu verstehen. – Doch die geschuldete Summe wollen wir auf Heller und Pfennig auf die Hand gezählt bekommen.

Je tiefer die Sonne, umso länger die Schatten. – Erst Livius, dann Tacitus; erst Lukrez, dann Seneca.

Die Erinnerung ist nicht das Bild des Erinnerten. Wie könnten wir ihre Ähnlichkeit ermessen?

Der Name ist nicht der Schatten des Benannten. – Der Schatten sank ins Grab, der Name leuchtet im Gedächtnis.

Nur wer des Mißtrauens fähig ist, kann vertrauen. – Wer im Mißtrauen verharrt, bleibt allein, auch wenn er vorgibt oder wähnt, dieser und jener sei sein Freund. – Wer allzu vertrauensselig ist, wird von Schmeichlern und falschen Freunden übers Ohr gehauen.

„Die Sonne sinkt, die Schatten wachsen.“ – Die glitzernden Wogen unter der Sonne Homers, die Schattenspiele des reifen Horaz.

„Seine Seele hat sich verfinstert.“ – Umso bezaubernder der Glanz seines Lächelns.

Wir nehmen die Metaphern und Bilder zur Beschreibung seelischer Zustände aus der physischen Welt. Wir fühlen uns bedrückt oder gehoben, nehmen etwas schwer oder leicht. „Ein Stein fiel ihm vom Herzen.“

Es wäre töricht, jemanden zu fragen, wie schwer denn der Stein war, der ihm vom Herzen fiel.

„Er sah keinen Ausweg mehr.“ – „Die Landschaft hat sich wieder offen vor ihm ausgebreitet.“ – Die sind keine topographischen Beschreibungen.

Psychologie oder unser Verstehen seelischer Zustände und Vorgänge ist keine exakte Wissenschaft, die aus klaren Prämissen eindeutige Schlüsse zieht.

Wenn einer lächelt, folgt daraus nicht, daß er fröhlich, heiter oder glücklich ist. Wir sehen genauer hin und bemerken: Es gibt ein kaltes und ironisches Lächeln, die Maske eines konventionellen Lächelns oder ein Lächeln als Ausdruck von Unbehagen und Verlegenheit.

Wir bedürfen mehr als der Wahrnehmung eines Gesichtsausdrucks, einer Geste, einer Verlautbarung, um psychologisch ins Reine zu kommen; beispielsweise der Beschreibung der sozialen Situation.

Er lächelt, obwohl er sich unbehaglich und verlegen fühlt; er schweigt, obwohl er gefragt wurde und es auf sein Wort ankommt; er sieht keinen Ausweg, obwohl die Tür nur angelehnt ist.

Das Klagelied ist ein Supplement und Sublimat der Wehrufe und Seufzer der Totenklage.

Die Liebeselegie ist ein Supplement und Sublimat der Wehrufe und Seufzer über den Verlust der Geliebten.

Wehrufe sind keine Beschreibung dessen, was sie hervorruft; Klagelieder und Elegien keine Beschreibung des Totenschattens oder des Schattens der Geliebten, sondern die Beschwörung des Lebens des Verstorbenen und der Nähe der Geliebten.

Die Hügel werden von den Wassern des Himmels allmählich abgetragen, die Städte und Kulturen, die er nährte, reißt der Strom ins Vergessen, die Großsprecher werden kleinlaut am End.

Wir können das Mißbehagen, die Verluste, die Monstrositäten des Lebens nicht, wie Schopenhauer meinte, eindeutig unter das Saldo der Lebensbilanz eintragen. Die Enttäuschungen der erotischen Liebe wiesen Proust den Weg zur Erkenntnis des bleibenden Wertes der Kunst; den Frauen, die das Grab leer fanden, verkündete der Engel die Auferstehung; das Ungeheuer der Sphinx zerfiel vor dem Wort des Ödipus zu Staub.

 

Mrz 12 23

Wir Erben früher Zeit

Erst pflückten sie von Zweigen süße Frucht,
dann rieben sie den Stein, und Funken flogen,
die Pfeile schnellten schwirrend los vom Bogen,
vergiftete, dem Wild half keine Flucht.

Das Feuer war die Heimat in der Nacht,
unheimlich aber warf es auf die Bäume
die Schatten ihrer geisterhaften Träume,
und droben sprühte es, kristallene Pracht.

In Höhlen klatschten sie die feuchte Hand,
wie zu bezeugen, daß sie da gewesen,
zu hoher Bildkunst hat sie auserlesen
ein Blick, der magisch Form der Fülle fand.

Ihr ernster Mund, wie er den Mond beschwor,
geheimen Hain der Göttin zu erhellen,
trank heiße Sänge sich aus kühlen Quellen,
hell ward der Hain, wo sich die Spur verlor.

Die Erben sind wir noch der frühen Zeit,
wenn Träume wir wie Flammenschatten malen,
mit Liedes Blüten höhen irdene Schalen,
am Totenmale Licht der Ewigkeit.

Was dunklem Dichter in seinem Auge blinkt,
ein Stern ist es, aus ihrem Blut geboren,
die Mythe sank, das Bild blieb unverloren,
ihr Durst ist es, wenn unser Glutmund trinkt.

 

Mrz 11 23

Das Veilchen kehrt zurück

Daß wir den Mund, der uns geküßt, belehrt,
die trockne, sterbensbleiche Blume tränken.
Daß wir des Toten schweigend zu gedenken,
am Fenster lehnen, still in uns gekehrt.

Und manchmal gehn wir zum basaltenen Mal,
dem dunklen Namen Lichter zu entzünden,
und manchmal sind es Blüten, die wir winden,
und Blüten leuchten grüner Nacht Opal.

Daß wir des Wortes irden-schlichten Krug
mit Rosen höhen, schmücken mit Narzissen,
wenn wir des Liedes Blütenlicht vermissen,
und oft flammt Phlox und Ginster hell genug.

Und sommers liegen wir im Ufergras,
zu lauschen, ob uns Wellen noch bejahen,
des Fernen denken wir, des immer Nahen,
der unsrer Narben Rätselrunen las.

Daß wir es fühlen spät, das süße Licht,
erzittern in der Bitterkräuter Ranken
und wir mit Tränen es der Erde danken,
ist ihrer Qual erblüht das Lobgedicht.

Und muß das Veilchen, muß der lichte Blick
der Liebe blassen, muß im Schnee erblinden,
das Veilchen soll für immer nicht entschwinden,
im Frühling kehrt, im Lied kehrt es zurück.

 

Mrz 10 23

Der faunische Traum des Hirten

Die Bläue zittert noch von Faunes Lied,
der Wohllaut ist dem schiefen Mund gelungen,
der Hirt schläft ein, von Zauberduft bezwungen,
ein Plätschern hört, ein Seufzen er im Ried.

Ihm träumt, die Nymphe schwimmt, das Haar gelöst,
und weiße Blüten überschäumen Lenden,
Gestirne sind, die hohen Glanz verschwenden,
daß zartumfranst sich blauer Samt entblößt.

Da beugt das Ufergras sich blankem Huf,
es schmiegt ans Fell das Schilf sich dem Kentauer,
der Mann, er sieht, das Tier faßt wilder Schauer,
doch folgen weiche Wellen heißem Ruf.

Die Schöne lockt empor das Wunderbild,
der Pferdemann geht vor ihr in die Kniee,
ob sie sich aufschwang, daß sie mit ihm fliehe,
dem Träumer hat es jäher Dunst verhüllt.

 

Mrz 9 23

Das Lied von der Linde

Die Wolken mähte Wind wie Dämmergras.
Das Licht der Linde, wo sie abends lehnten,
die laue Luft mit Plaudereien dehnten,
ist still getröpfelt in ein grünes Glas.

Kam mit der Mundharmonika der Gnom,
die Federn am verbeulten Filzhut schwankten,
wenn seine Lieder Seufzer wild umrankten,
bis sie verstummt, erstickt im Tränenstrom.

Hat sich das Blatt dem Kuß des Monds geneigt,
gehörte Liebenden das dunkle Rauschen,
geheime Blicke feuchten Glanzes tauschen,
daß aus dem Abgrund Schaum der Wehlust steigt.

Du, armer Träumer, aber bliebst allein,
wenn in der Winternacht der Baum die Äste
emporgereckt zur öden Himmelsveste.
O Licht der Venus trink im goldnen Wein.

 

Mrz 8 23

Verlies der Kindheit

Verlies der Kindheit, Grünspan, Kohlenstaub,
die braunen Flaschen auf den Holzregalen,
Kartoffeln, dran vergebens Sprossen fahlen,
im Dämmerlichte zitternd Schattenlaub.

Ein Klotz, wo seufzend sich das Beil erschöpft,
wie ein Altar archaisch dunkler Weihen,
kein Flattern kann den Hahn vorm Tode feien,
wenn fluchend ihn der Opferpriester köpft.

Auf krummen Stufen tappst du in die Nacht,
den Wein zu holen, wie man dich geheißen,
da ist ein Flüstern, ist ein knöchern Gleißen,
die Alte strickt am Ofen, grinst und lacht.

Hier saßen sie, der Himmel hat gedröhnt,
und Fackeln warf der Gott, das Ungeheuer,
auf Gut und Böse, Dächer, Stall und Scheuer,
kein Heiland war, kein Kreuz, das ihn versöhnt.

Hier saß der Knabe auch, der Jüngling bleich,
gequält von Bildern dumpfer Phantasien,
Dämonen, die im Ohr des Herzens schrien,
bis Sapphos Hand ihn hob ins Blütenreich.

 

Mrz 7 23

Wo das Fragen mündet

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Sie können mit immer effizienteren Motoren sich immer schneller fortbewegen – doch wohin die Reise geht, wissen sie nicht.

Was für ein erbärmliches Volk, das jene Frauen kürt und feiert, die sich öffentlich brüsten, die Leibesfrucht getötet zu haben (die anderen verdienen keine Erwähnung).

Alle sagen, was alle sagen, alle denken, was alle denken. – Wer etwas anderes sagt und denkt, fühlt sich gleich unbehaglich.

Wer etwas verlautbart, ohne Partei zu ergreifen, gilt für verdächtig.

Sine ira et studio, die Devise der abendländischen Historiographie: Schall und Rauch.

Ähnlich wie die Kontinentalplatten zu Rissen und Brüchen, Verwerfungen und Erschütterungen zwischen Landmassen und Regionen führen, ist es mit der von den Unterweltsströmen der Geschichte hin- und hergetriebenen Tektonik der Kulturen.

Das Bemühen um historische Gerechtigkeit bei der Beschreibung vergangener Ereignisse beginnt mit der Aufzeichnung des Konfliktes zwischen Okzident und Orient in den Perserkriegen.

Die polemische Spannung zwischen hellenischer Freiheit und persischer Tyrannei, selbstherrlicher Gesinnung und hündischer Proskynese in der ersten uns erhaltenen Tragödie, den „Persern“ des Aischylos.

Die Schlacht bei Actium markiert die einschneidende Zäsur zwischen dem Imperium Romanum und dem Orient (aus den Persern werden die Parther, später die von asiatischen Nomaden vor sich hergetriebenen Goten).

Kleopatra als Femme fatale, Kokotte, Megäre und Mänade im Zerrspiegel der römischen Kriegspropaganda, von den Platitüden der Gasse bis zu den Gipfeln eines Horaz; die Ausschweifungen am ägyptischen Hof als Orgien unter bacchantischer Begleitung eines Chors von Kastraten.

Unter Perikles wurden die größten Künstler gefördert, unter Augustus die größten Dichter; unter Hitler und Stalin fast nur Ausschußware. – Unter dem Meinungsregime von Habermas und Konsorten sah sich einer der größten Gelehrten der Historikerzunft zur Emigration gezwungen.

Wie grandios die Rasse dichtet, sieht man an der Poesie der Négritude.

Will man den Stier zum friedlichen Kommunarden der Kuhherde machen, muß man ihn kastrieren.

Der Faszinierte kann recht dämlich dreinschauen.

Sagen wir, Testosteron sei das chemische Gemisch, das in Gewalttaten und Kriegen explodiert, wäre die Kastration des Mannes der Königsweg zu einer effeminierten und pazifizierten Weltkultur.

Von den üppigen Brüsten der Frau Welt ist einer nur so lange fasziniert, bis er das wurmzerfressene Hinterteil erblickt hat.

Wem aus den unendlichen Abgründen des Universums kein gütiger Blick mehr den seinen spiegelt, wäre erleichtert, träfe ihn wenigstens der böse eines Ungeheuers, wie es sich die Manichäer erträumten.

Wer den liebenden Blick der Frau sich verdunkeln sieht, was gewahrt er anderes als jene leeren kosmischen Tiefen?

Eine Art surreale Bombe explodiert, und am Ende bilden sich Sterne und Galaxien aus dem stofflosen Abgrund.

An die eigene Existenz kann man sich nicht gewöhnen wie an einen neuen Wohnort, andere Sitten oder sich in einer fremden Sprache auszudrücken, ja in ihr zu träumen.

Die Idee der Heiligkeit und Reinheit und die Idee der genozidalen Vernichtung alles Unreinen koinzidieren im Gott des Alten Testaments.

Das eine ist ohne das andere nicht zu haben, wie die schöpferische Potenz des männlichen Geschlechts nicht ohne seine destruktive.

Mit der Möglichkeit der Wahrheit, Luzidität und Redlichkeit kommt die Möglichkeit der Unwahrheit, Verwirrung und Verlogenheit zur Welt der Sprache.

Der treue Hund – doch weil er nicht lügen kann, vermag er auch nicht aufrichtig zu sein.

Im letzten trügt der Anschein nicht. – Jener scheue Schweiger und schamhafte Stotterer war der Verfasser des größten Epos der Römer.

Den Namenlosen krönt der Ruhm der Selbstüberwindung.

Nach dem genialischen Anfall, der ihn rätselhafte Ranken und panische Striche kritzeln und überkritzeln ließ, überkommt den Künstler der frostiger Schauer der Ernüchterung und er tilgt sie wieder aus.

Die Stille einzig ist wahr; waren alle nervösen Versuche, die Tür ihres Hauses zu öffnen, vergeblich, dem ohnmächtig auf die Schwelle Herabgesunkenen, dem Hoffnungslosen, tut sie sich mit einemmale von selbst auf. – Doch es ist zu spät, er hat die Kraft nicht mehr, sich zu erheben und die Schwelle zu übertreten.

Er hatte all sein Kraft bei den vergeblichen Versuchen, die Tür des Hauses der Stille durch Anwendung immer ausgefeilterer Techniken, am Ende mittels roher Gewalt zu öffnen, verbraucht; ohnmächtig auf die Schwelle herabgesunken vermochte er sich nicht mehr zu erheben, als sich die Tür mit einemmale von selbst auftat.

Besser der Horror des Kreuzes als der Kitsch des Lamms.

Er hatte so tief gegraben, bis der Spaten am nackten Felsen zersprang.

Wo das Fragen mündet: der stille Ozean.

Der Felsen, an dem der fliegende Holländer zerschellt, ragt vor den Inseln der Seligen.

Ein Gespenst, das über das Geröllfeld und Brachland der Sprache schleicht.

Die Sätze – schattige Zweige voller Stacheln, und die sie vor dem raschen Zugriff bewahren, die schwarzen Beeren des Sinns.

Die nach Seife riecht, Deodorant oder Chlor, die aseptische Sprache der Medien.

Im fruchtbaren Humus wimmeln die Würmer.

Der kastrierte Mann und die sterile Frau, das ideale Paar des Modern Life.

Im Nebel zu stochern vertieft nicht die Sicht; man muß geduldig warten, bis er sich im Strahl der Morgensonne auflöst.

Das Haus des Dichters: Jedes Zimmer, jeder Raum hatte seinen Duft, der Keller roch nach Wein, Holz. Kohlenstaub und Kartoffeln, der düstere Korridor nach der immer brennenden Honigkerze vor dem Marienbild, in der guten Stube mischten sich Gewürze, Rosenduft und herber Rauch des Ofens, durch die Mansarde wehte der Duft frischer Wäsche.

Die Seele ist kein Geist in der Flasche, den der Traum oder das Gedicht herausschlüpfen ließe, und seine gasförmige Essenz nähme schattenhaft und ephemer Gestalt an; sie ist plötzlich präsent in einem Lächeln, einer Geste, einem Wort, und sie ist noch da, wenn das Lächeln erstirbt, die Hand herabsinkt, das Wort verhallt.

Sie wollen alle bewundert werden, der Krieger im blinkenden Helm, der Priester mit den hohlen Wangen, der Malerfürst mit dem rubinroten Ring, der Mann für sein Bescheidwissen, die Frau für die wohlgeformte Taille, der Gourmet für sein rosiges Lächeln, der Asket für seine schrumpelige Haut.

Der Dichter will bewundert werden für seine Kühnheit, auf dem dünnen Hochseil sprachlicher Akrobatik das Gleichgewicht zu halten; er giert nach dem Applaus, der ihm aus dem schwarzen Orkus der Manege entgegenschwillt, wenn er, die Balancierstange der Grammatik von sich werfend, den Salto mortale einer grotesken Metapher vollführt.

Vor aller Augen von der räudigen Meute gehetzt oder zerfleischt zu werden gilt ihnen immer noch für erstrebenswerter als unbeachtet am Rand des Marktplatzes zu stehen, verborgen hinter der Maske des Herrn Jedermann.

Ich bin da, sagt der erste Vers, ich sterbe nicht ganz, der letzte.

Der Angstkitsch des Glaubens, der dem Schatten der Seele ein Bleiberecht im Jenseits abzwingen will.

Was sich vor aller Augen vollzieht, Fäulnis und Untergang der Kirche, lehrt den Verzicht auf den amtlich garantierten sakramentalen Trost.

Die feste Nahrung wird chemisch zersetzt und verdaut, nur so kann sie assimiliert werden. – Das Gesehene, Gehörte, Erlebte wird gedanklich zersetzt und verdaut, nur so kann es assimiliert werden.

Lohnschreiber und Journalisten oder Journalisten-Schriftsteller, die Unverdautes wieder erbrechen, und denen man es dankbar abnimmt, so gestaltlos und ungestalt es immer sein mag.

Nur feste Nahrung, nur wohlgeformte Sätze und Dichtungen können wir verdauen.

Die Kränkung verwinden ist das Ziel. – Die erste Kränkung: die Geburt und die kalte Dusche eines fremden, grellen Lichts.

Die Verwindung oder das Einrollen imaginärer Möglichkeiten. – Das kleine Kind sagt: „Hol mir den Mond vom Himmel“, denn er scheint ihm nahe wie ein Lampion.

Die Illusionen erotischer Allmacht oder die Kränkungen der Liebe.

Der in eine Sackgasse gefahren ist, kann nicht mehr wenden; er muß aussteigen und den Weg zu Fuß zurücklegen.

Die Kränkung des Erstgeborenen durch das Geschwister. – Vom Thron der Alleinherrschaft magischen Denkens steigen wir hinab in die Ebene alltäglicher Flickschusterei.

Die Kränkung verwinden, daß sich die Sonne des Daseins nicht um den kleinen Spielball der eigenen Existenz dreht.

Die Kränkung verwinden, daß es auf die immer wieder aufbrandende Welle der Fragen keine Antwort gibt; zu erkennen, daß sie das Gravitationsfeld eines fremden Körpers, des Mondes der Einbildungskraft, aufrührt und wieder versinken läßt.

Die Kränkung durch den Tod der Geliebten läßt sich nicht durch Geisterbeschwörungen verwinden.

Aus dem Nebel bilden sich Tropfen, sie fallen zur Erde, versinken; wir hoffen, daß sie Wurzeln nähren, Blumen knospen lassen oder Quellen speisen für den Durst der Kreatur und nicht augenblicks unter einem gnadenlosen Strahl verdunsten. – Wir können es hoffen, aber nicht wissen, auch nicht von den Tropfen, die sich aus dem Nebel unserer eigenen Existenz bilden.

 

Mrz 6 23

Die Alte und der Knabe

Dem Andenken an Katharina Hilten aus Alt-Metternich

Ja, dich umschwebte Duft verharzter Rinden.
Wie stiller Blüten mondbehauchte Leuchte,
wenn Dämmerungen sie sich hold entwinden,
war deiner gütigen Augen Veilchenfeuchte.

Kartoffeln konntest du und Äpfel schälen,
und Schlange hat geringelt sich an Schlange.
Der Knabe durfte dir die Haare strählen,
die Fülle raffen in die Silberspange.

Im steinernen Herd hast Scheite du geschichtet,
die zögernde, die blaue Flamme angeblasen,
das Dunkel hat sich milden Sinns gelichtet,
und Rosen glühten auf in irdenen Vasen.

Wenn aber Glocken durch die Weihnacht riefen,
ging unser Weg im Schnee zur lichten Krippe,
und Bilder, die im Schrein des Herzens schliefen,
erwachten, und es bebte deine Lippe.

Nun ist dein Grab, dein Herz, du bist verschollen,
könnt weinen deiner Asche, weich ein Knabe,
der graue Enkel, dir letzte Ehre zollen
und streuen auf den Stein die Blütengabe.

 

Mrz 5 23

Was seltsam ist

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Seltsam, aufzuwachen und dir zu sagen, daß alles noch da ist, alles an seinem Platz, der Stuhl, die Lampe, das Bild – und du selbst – nein, nicht ganz, etwas geschah in dieser Nacht, doch du kannst dich daran nicht erinnern, als sei es im Traum geschehen, der Traum aber bleibe für immer unzugänglich.

Sehen ist seltsam, nicht dies und das, worauf man starrt oder was man überfliegt, sondern irgendwas; und immer hat es eine beleuchtete, offensichtliche Seite und eine dunkle, verborgene; immer ist es etwas, was ruht oder sich bewegt, unbelebt ist oder belebt, stumm ist oder spricht, immer etwas, was mit anderen Dingen in Verbindung steht, die wiederum mit anderen Dingen in Verbindung stehen.

Ist Sehen (Theorie) eher eine Erfindung der Philosophen, während wir nicht anders können als schauen oder starren, spähen oder lugen, betrachten oder gaffen, Ausschau halten oder vor uns hin stieren, neugierig, gelangweilt, erschrocken, herablassend, beschämt, hochnäsig und auf hundert andere Arten sehen?

Seltsam zu sehen, daß man gesehen wird; ungesehen, versteckt, heimlich anders zu sehen als im Blickfeld der anderen, auf der belebten Straße anders als beim einsamen Gang durch das hohe Schilf des Uferpfads.

Unter dem prüfenden, registrierenden Blick des Arztes das Licht der Welt zu erblicken oder dem liebenden, bejahenden der Mutter. – Ärger als unter dem gleichgültigen Blick des Arztes unter dem verneinenden der Mutter.

Das Urteil im Blick der anderen, das uns ein Leben lang verfolgt. Das wir erst abschütteln, wenn wir Abschied nehmen für immer.

Sich so zu geben, zu bewegen, zu reden, wie man ins Blickfeld der anderen paßt. – Sich eng machen oder bücken, wie beim Eintritt in eine Höhle, einen Unterstand, einen Bunker.

Der schwierige Grat zwischen Höflichkeit, Galanterie und Selbsttäuschung.

Sich unkenntlich machen, maskieren, larvieren, um dem Blick des anderen zu entrinnen. – Bis man sich selber undeutlich, unkenntlich, verabscheuungswürdig vorkommt.

Mehr und mehr übte er sich darin, so zu reden, so zu schreiben, daß er unerkannt blieb, nicht mehr verstanden, mißverstanden wurde.

Sich ins Gestrüpp von Rätseln flüchten und an seinen Stacheln melodramatisch vor sich hin bluten.

Der Handel mit der Sichtbarkeit: ein Kostüm, eine Maske, eine Gestalt anziehen, die zum Image wird, das jeder auf Anhieb erkennt und wiedererkennt.

Die Meinung der anderen anziehen wie die Kleidung, die gerade Mode ist. Und wieder abstreifen müssen, wenn sie aus der Mode kommt; aber sie scheint zur zweiten Haut geworden, und bei allem Zerren und Reißen geht die erste, die echte mit ab.

Die Verlegenheit eines, der in guter Gesellschaft mit einer ärmlichen, zerschlissenen oder fleckigen Jacke auftaucht.

Der mit dem Stigma auf der Stirn bleibt zu Hause.

Der mit dem Stigma des Unglaubens hinsichtlich der fundamentalen Überzeugungen der anderen (Fortschritt, Gerechtigkeit, Demokratie, Diversität, Identitätsauslöschung, Gendersprache).

Sähen wir alles verzerrt, wüßten wir es nicht.

Als wäre erlöst, wer sich im Spiegel nicht mehr erkennt.

Der Überdruß ist die Schwelle, die in das Haus der Stille, der Stille der Resignation oder der Entsagung, führt, der Überdruß an den wieder und wieder gesehenen Bildern, den wieder und wieder gehörten Phrasen, den wieder und wieder erregten und enttäuschten Erwartungen.

Schreiend das Licht der Welt erblicken: sehen ohne zu begreifen.

Wenn Herr Jedermann es nachplappert, muß was dran sein, wenn Herr Niemand es bestreitet, muß es existieren.

Wer zur bösen Tat unfähig ist, kann keine gute tun; wer nicht töten kann, kann nicht zeugen.

Die Macht der Vernichtung und also die Erhabenheit des jüdischen Gottes wurde vom sentimentalen Geschwätz von Mannweibern in Talaren verdrängt; die Höllenfeuer Dantes vom warmen Urin kichernder Chorknaben gelöscht.

Alles, was beginnend mit den Gemetzeln der französischen Revolutionsbataillone und den Schlachten Napoleons an infernalischem Feuer und dämonischer Macht die Kabinettskriege der Preußen oder Habsburger übersteigt, entfesselt titanische Riesen und heilige Monster, die blasse Jünglinge im Futteral des Wohlstands und den Eierlikör der Ode an die Freude süffelnde Feuilletonmädchen nicht zu sehen vermögen, wenn sie vom Völkerrecht oder vom Verhandlungsfrieden schwadronieren.

Uns bleibt nur der Geruch der Erde, der uns einst mit Blumendüften zum Lächeln gebracht und nun im Anhauch fauliger Früchte und trüber Pfützen verläßt. – Das Licht aber, das uns zu Tänzen und Liedern gereizt, ist schon im namenlosen Abgrund erloschen.

Ein höherer Geist als der in den großen Dichtungen des Abendlandes, den liturgischen Gesängen und den Werken eines Mozart, Beethoven, Schubert und Bruckner hat sich uns nicht offenbart. – Von der Offenbarung am Jordan blieb uns einer Taube sanftes Geflatter.

Der Gassenhauer des männlichen und der Sirenengesang des weiblichen Geschlechts.

Erotisch Amusische geben vor, beides singen zu können.

Kastraten schwärmen von Orgien, Umnachtete vom Licht der Aufklärung.

Voltaire sah im Alten Testament den Gott der Vernichtung und des Genozids am Werk; Hamann das schöpferische Licht, von dem die farbigen Schatten der Schriftzeichen zeugen.

Wirkt etwas seltsam auf uns, weil es aus dem Strom des Lebens heraussticht wie etwa die Sieben Jungfrauen genannten Felsen bei Oberwesel, die bei Niedrigwasser nackt aus dem Rheinwasser ragen?

Das Gewohnte kümmert uns nicht, wie der Hammer und das Zeug Heideggers, das glatt in der Hand des Alltags liegt.

Sicher, der mit dem karierten Jackett, die mit dem Tattoo am Hals, der mit den Lacklederschuhen will auffallen; aber seltsam wirkt auf uns der Mann im härenen Gewand, der am Rand der belebten Straße sitzt, ein Lamm auf dem Arm hält und sich für einen Propheten ausgibt.

Seltsam ist der Gedanke des Kindes, daß die Großmutter nicht tot sein kann, weil sie ihm im Traum erschienen ist.

Seltsam ist der philosophische Gedanke, daß an etwas Nichtexistierendes wie Pegasus oder die Menge aller Primzahlen zu denken etwas Paradoxes impliziere.

Seltsam ist das Gefühl, durch den Gedanken an sie werde die Person gleichsam berührt, noch seltsamer, im Gedanken an sie habe uns die Person gleichsam berührt.

Das Paar plant, ein Haus zu bauen; sie sprechen bei jeder Gelegenheit über dieses Haus. Das Haus selbst aber ist weder das Thema ihrer Gespräche, Erwartungen und Träume noch was der Architekt an Skizzen und Plänen auf den Tisch breitet; es ist allererst das Haus, das fertiggebaut vor ihnen steht und über dessen Schwelle sie treten.

Gegenüber dem realen Objekt scheint das irreale oder imaginäre Objekt einer Erwartung, einer Absicht, einer Befürchtung oder Hoffnung ein seltsames Ding.

Doch richtig wäre zu sagen, daß nicht das irreale oder imaginäre Objekt seltsam ist, sondern die Annahme, es handele sich dabei um eine mentale Entität, die dem realen Objekt in jeder Hinsicht außer der Existenz ähnelt. – Doch es ist befremdlich zu sagen, ich beabsichtige morgen meinen Freund zu treffen, der dem imaginären Objekt meiner Absicht ähnlichsieht; denn sähe er ihm nur ähnlich, wäre er es nicht.

Die Gegenstände unserer Erinnerung können keine Bilder oder Vorstellungen dessen sein, woran wir uns erinnern; denn ich erinnere mich nicht an das Bild meiner Großmutter, das mir etwa zeigt, wie sie Klavier spielt, sondern an meine Klavier spielende Großmutter. – Was sollte die Vorstellung der Melodie sein, die meine Großmutter auf dem Klavier klimperte?

Wäre der Freund, den ich morgen zu treffen erwarte, mir als imaginäres Bild in meiner Erwartung gegenwärtig, könnte er anders aussehen, als das Erwartungsbild ihn zeigt, und ich ihn verfehlen.

Seltsam ist aber die Erwartung, daß ich morgen meinen Freund an der verabredeten Stelle NICHT antreffen werde, nicht nur wegen seiner bekannten Unzuverlässigkeit. – Doch seltsam nur, wenn wir meinen, das Wort Freund bedeute die Gegenwart dessen, den ich Freund nenne.

Es gibt nichts, was dem Wort Pegasus korrespondiert; aber deshalb wird das Wort Pegasus nicht bedeutungslos. Also ist die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, ob Worte oder Sätze, nichts, was ihnen korrespondiert.

Die Aussage „Es regnet“ verliert angesichts der Tatsache, daß es nicht regnet, nicht ihre Bedeutung, sondern nur den Status einer wahren Aussage, den sie hätte, würde es regnen.

Die wahre Aussage „Es regnet nicht“ kann kein Bild des nicht vorhandenen Regens sein oder enthalten.

Die Bedeutung der Aussage „Die Kerze ist erloschen“ ist nicht der Schatten der Bedeutung der Aussage „Die Kerze brennt.“

Die Verse Hölderlins von den längst erloschenen Opferfeuern der griechischen Tempel sind nicht ihre Schattenbilder.

Die Bedeutung von Aussagen und ihren Negationen ist weder der Glanz ihrer Anwesenheit noch der Schatten ihrer Abwesenheit.

Die Aussage „Die Kerze ist erloschen“ impliziert nicht, daß sie in unserer Vorstellung oder in einem imaginären Bild noch ein wenig geflackert hat.

Wenn ich von mir sage, ich sei gestern im Park gewesen, kann ich nicht ein imaginäres Bild dessen meinen, der nun redet; ich könnte sonst nie herausfinden, ob das eine dem anderen ähnlich sieht oder korrespondiert.

Seltsam ist, daß uns die Gestalten der Vergangenheit, uns selbst eingeschlossen, wie Schatten am Eingang zur Unterwelt erscheinen, denen Odysseus oder Äneas gleichsam vom Blut der Gegenwart zu kosten geben muß, auf daß sie lebendig werden und sprechen.

Der nicht vorhandene Regen kann nicht die Bedeutung der Aussage „Es regnet nicht“ sein, ebensowenig das Schattenbild des Regens, das die Aussage „Ich fürchte, es gibt Regen“ begleitet.

Das Zeichen, das den Fluchtweg anzeigt, verstehen, heißt ihn im Notfalle gehen, nicht das Zeichen interpretieren.

Die Aufforderung, dem Gastgeber die Flasche weiterzureichen, verstehen, heißt, es zu tun, nicht sie zu interpretieren. – Wir greifen auf Interpretationen nur zurück, wenn er uns in einer uns fremden Sprache aufgefordert haben sollte oder uns der Aufforderung verweigern, weil wir etwa seine Autorität als angemaßt betrachten.

Der Bewußtseinsstrom oder unser Vorstellungsleben mag oder mag nicht unser Sprechen begleiten, aber er ist kein Grund für das sprachliche Verständnis.

Was uns seltsam am Reden und Denken anmutet, mag durch genauere Betrachtung des Sprachgebrauchs immerhin aufgeklärt werden können; einer bringt dir trotz seiner ausdrücklichen Zusage das geliehene Buch nicht zurück. Vielleicht verwechselt er, was wir Zusage und Versprechen nennen, mit dem, was wir mit Vermutung und Voraussage meinen; er sah wohl voraus, wie er dir das Buch zurückbrachte, doch leider kam es dann anders.

Die Seltsamkeiten, die mit unserer nackten Existenz auf dieser Erde und der Existenz des Weltalls verbunden sind, können wir sie durch Sprachkritik auflösen?

 

Mrz 4 23

Verhorntes Leben

Die auf verhorntem Fuß sich träge schleppen,
sie grasen in der Angst des Pan.
Und jene dösen im Gestrüpp der Steppen,
nachts sprüht ihr Zeh, rot bleckt der Zahn.

Zu Haken, Dolchen, Messern formt die Krallen
des Lebens dunkler Genius.
Die Katze kratzt, dann streichen weiche Ballen.
In Stacheln stürzt der blinde Kuß.

Wir können Blumen pflücken, Blumen spenden,
uns hindert nicht das taube Horn,
zu tasten mit entblößten Fühlens Händen,
wie Liebe blüht, wie sticht ihr Dorn.

Auf wirbelten graziöse Mädchenzehen
den Blütenschaum in Lesbos’ Chor.
Gepanzert muß die stumme Kröte gehen,
ein Vers, der Schmelz und Charme verlor.

Und manchen wuchs Chitin wie den Termiten
zum kriegerischen Leibe rauh,
sie wissen nur den Stich, doch nicht zu hüten
die Blätter und die Knospe Frau.

Weh dem Pennäler, der beim Nägelkauen
Vokabeln paukt und würgend schlingt,
mag einmal seine spröde Lippe tauen,
wenn Sappho ihm die Rose bringt.

Die Schönen aber lächeln und bemalen
die Nägel sich mit Purpur hell,
die Finger tunkend in Duftwasserschalen
träumt ihnen von geflecktem Fell.

In langen Nächten wachsen sie den Toten,
als fänd der Dämon keine Ruh.
O daß sie ihnen schnitten Friedensboten,
zu wandeln dort im Seidenschuh.

 

Mrz 3 23

Die Tränen Davids

Wem erscholl in Jericho das Horn?
Ach, dem Gott der Väter, der die beiden
Helden Moses trieb und Josua im Zorn,
doch sah Moses nur von fern die Weiden.

Wer schwieg still Roms Macht zum Hohn?
Nägel waren drei, die ihn erhöhten,
und aus Wunden sprach das Wort, der Sohn,
lieblich bluteten die Abendröten.

Tränkten Tränen Davids nicht den Psalm?
Die vom Lamme sangen, die Propheten,
wie der Wolf ihm gönnt den zarten Halm,
ihnen wehte Luft von anderem Planeten.

Doch uns Epigonen sind versiegt
jene Wasser, die dem Sand entquollen,
und der Schwan, den sie im Schlaf gewiegt,
ist im Schilf der Dunkelheit verschollen.

 

Mrz 2 23

Der braune Gott

Eine Erinnerung an T. S. Eliot

Der Herbst hat, ins raschelnde Kleid einer Pappel gehüllt,
umschmiegt von einer Birke schneeiger Lende,
den Heimatlosen, die es nicht sehen,
aufgespart ein südliches Licht.

Am Strom zwischen Schilf und Geröll
schürte die Alte im fleckigen Mantel eines Soldaten
Glut mit dem krummen eisernen Haken,
Funken flogen empor auf die blauen Fransen der Dämmerung,
und sie schüttelte wie schwärmerische Johanniskäfer sie ab,
es ächzten die moosfeuchten Scheite,
es seufzte das Weib, da sie sprühend zerbarsten.

Aber der Strom, der einsame Spiegel des Alls,
wälzte wie Schlamm die Sage des Ursprungs
der Mündung entgegen, auf daß sie mondgepeitschtes Rauschen ersticke.
Das Wahnbild der Wolken verwischte der Schaum seiner Qual,
Schutt und Bruch gebranntschatzten Lebens,
Mark und Gedärme ausgeweideten Wilds,
Reliquiensplitter, Wiegen und Puppen,
Betten und Särge, Bilder und Vasen,
riß er, der ewige Skamander, in den ewigen Untergang.

Warst du es, banger Knabe,
der scheu sich ans Feuer gehockt, um wachsam zu lauschen,
wie die Alte mit rissiger Lippe zu singen verstand?
War es nicht Zwitschern eher als Singen,
ihr Keuchen nicht wirres Flattern von Flügeln,
die sich erschrocken schwankenden Nestern entrangen,
ihr gespenstisches Gurren nicht Liedes dunkler Refrain,
das tödlich getroffen zur Erde getaumelt?

O greisenhafter Knabe, bist du es noch,
da alles einst Erschaute begrub unter sich
der Schnee des langen Winters, der danach kam und blieb,
den kein Hauch, keine Sonne zu schmelzen vermochte,
es nachzulallen, gedenkst du, Heimatloser,
am einsamen Fenster starrend in sternlose Nacht,
des fernen Stroms, des braunen Gotts,
wie der Dichter ihn nannte?

 

Mrz 1 23

So brach er auf

Eine Erinnerung an Vincent van Gogh

Er stieg hinab in Düsternisse,
wo der Erde schwarze Adern von Erzen
schimmern und von topasblauen Schrecken,
er ritzte sich die Stirn an Stalagmiten
und letzte seinen Mund an Fäulnistropfen,
er rieb mit Kohlenstaub sich auf die Brust
das Schattenmal der Angst.

Doch blieb sein Auge licht
im braunen Dunst der Rüben- und Kartoffeläcker,
im düsteren Pferch des Elends,
wo hagere Hände nach den dünnen Scheiben,
der Armut ungesäuerten Oblaten langten,
im fahlen Blick erloschener Gesichter,
die keiner Kerze, keiner Inbrunst Glanz erweckt,
blieb in der Liebe Weiheschale
ihm noch Glut.

Die Späne aber, die vom Kreuz er abgebrochen,
konnte er daran nicht mehr entzünden,
die Hostie hoher Botschaft
verblaßte in der grünen Nacht,
die aus dem ewigen Schmerz des Meeres stieg,
vorm Asphodelenschaum des Monds.

So brach er auf
zu reingestimmten Himmeln,
wo Wolken knospenstumm versinken,
zu hymnenhellen Flammen,
die das dürre Laub des Kummers rasch verzehren,
zu blütenoffnen Augen,
an deren Wimpern Tränen in der Sonne blitzen.

Und ihm fielen Feuerrosen
auf die ausgestreckte Hand,
er flocht sie um die Schläfen,
fühlender das Bild zu sehen,
aber Schnee von Mandelblüten
schmolz auf seinem müden Lid.

Und sie peitschten ihn,
die gnadenlosen Strahlen,
die süßen Geißeln des Martyriums,
das dem Selig-Unerlösten
nur für eines Zeugnis gibt,
den schönen Glanz der Wunde,
die Wahrheit reinentsprungnen Bluts.

 

Feb 28 23

Das Jucken der Narben

Wovon du jäh erwachst in Frühlingsnächten,
als hätte wer, ach wer, an deine Tür gepocht,
es ist das Ächzen, ist das Erdgeschiebe tief
unter deinem Bett, und was da seufzt,
ach seufzt, ist nicht, die an die Schwelle ist gekehrt,
die du, die dich verlassen hat vor Jahr und Tag,
es ist das Schneegeviert, der Gartenrest
in deinem Hinterhof, klein wie ein Grab,
das hinschmilzt unterm lauen Sonnenhauch,
und einmal noch zu blühen sich bequemt.

Sieh in den scharfen Strahlen des August
die Flammenzungen eines stummen Sangs,
in den Strahlen sieh die Peitschen,
mit denen der Herr den Sklaven züchtiget,
wie eh und je, auf seinem Rücken sieh die Striemen,
das Jucken fühle deiner eignen Narben,
wenn du das hohe Lob dem Lichte singst.

Und was da glüht im Dämmergang der Lauben,
gehst du den alten Pfad, der im Gestrüpp
des Ungesagten mündet, ist keine Purpurfrucht,
die deinem Herbst von stiller Reife, von Vollendung spricht,
es ist der Doppelgänger, ist der Mond,
der wüst und unbehaust nicht aus sich selber strahlt,
nur den geliehenen Schein im Dunst des Untergangs
mit roher Schminke sich gespenstisch färbt.

 

Feb 27 23

Wahrnehmen und Wissen

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wer von einer Tulpe sagt, sie sei ein Veilchen, liegt daneben. Wer von einer Fichte, sie sei eine Tanne, ist nahe dran.

Die Farbe Purpur sehen wir unmittelbar, auch wenn wir nicht in der Lage wären, sie korrekt zu benennen. Daß es sich bei dem gesehenen Etwas um eine Tulpe oder eine Fichte handelt, sehen wir nicht unmittelbar.

Eine Farbe zu sehen ist keine Form des Wissens, etwas als Tulpe oder Fichte zu sehen, ist es.

Eine Farbe als Rot oder Grün zu bestimmen ist eine Form sprachlichen Wissens, etwas als Blume, Tier oder Mensch ebenfalls; eine Blume als Tulpe, ein Tier als Katze, einen Menschen als Inuit zu identifizieren eine Form klassifikatorischen Wissens.

Empfindungen, wie die Empfindungen von Wärme, Feuchtigkeit, Rauhheit oder Schwere, sind vorsprachlich und vorbegrifflich. Das Wissen, daß es sich bei der Farbempfindung um die visuelle Empfindung jener Farbe handelt, die wir Rot nennen, tut nichts zur Empfindung hinzu.

Der Laie mag Rot nennen, was der Maler Purpur nennt; hier gibt es keinen Streit.

Doch kann der Maler eine Farbspektrum anlegen, in welchem Rot und Purpur nach dem Charakter und dem symbolischen Wert der Farben in einer Weise unterschieden sind, über die sich der Betrachter seiner Bilder in Kenntnis setzen muß, um sie angemessen betrachten zu können.

Tiere und Menschen können dem süßen und bitteren Geschmack von Früchten nicht nur einen gustatorischen Wert beimessen, sondern ihn auch als grobes Merkmal zur Unterscheidung von genießbar und nahrhaft, ungenießbar und gesundheitsgefährdend benutzen.

Wir haben lange auf den Freund warten müssen, doch die Unterredung mit ihm war nur kurz. – Wenn wir solche Zeitangaben quantifizieren und etwa sagen würden: „Ich habe 30 Minuten auf meinen Freund Hans gewartet, gesprochen habe ich mit ihm 10 Minuten“, käme nicht zum Ausdruck, was wir mit dem Satz „Ich mußte lange auf Hans warten, nur um kurz mit ihm nur zu reden“ meinen.

Zu sagen „Mir war heiß“ ist etwas anderes, als zu sagen „Die Temperatur stieg auf 30 Grad.“ – Manch einem wird auch bei Minusgraden heiß.

Wir können sehen, daß es sich bei der Flüssigkeit im Teich und dem Eis, zu dem er gefriert, um denselben Stoff Wasser handelt; nicht aber, daß der Morgenstern und der Abendstern derselbe Planet Venus sind. Wenn wir dagegen die Flüssigkeit und ein Stück Eis einer chemischen Analyse unterziehen, kommen wir zur analogen Feststellung ihrer stofflichen Identität wie der Astronom bei der Beobachtung des Umlaufs von Morgenstern und Abendstern.

Anzeichen und sprachliche Zeichen sind wahrnehmbare Instanzen von Bedeutungen; der Rauch, sagen wir, bedeutet Feuer, der Ausruf „Aua“ bedeutet Schmerz. – Wir können uns irren oder täuschen lassen, wenn der Rauch nur Nebel war, der Ausruf von einem Schauspieler auf der Bühne oder einem Simulanten hervorgebracht wurde.

Wir erkennen den Wunsch des Freundes, der uns von der anderen Straßenseite aus zuwinkt, auf ihn zu warten oder ihm entgegenzugehen; gestische Zeichen verraten uns die Absicht dessen, der sie vollführt.

Die Absicht ist nicht eine der äußeren Wahrnehmung unzugängliche mentale Entität, deren Dasein wir aufgrund der wahrgenommenen Geste erschließen oder auch nur vermuten, sondern sie zeigt sich als das, was sie ist.

Wir können uns irren, wenn wir uns von unserem Gegenüber in der Bahn, einem alten Mann, der eine große Sonnenbrille trägt, als wolle er seine glotzenden Augen dahinter verbergen, unangenehm fixiert fühlen; doch dann sehen wir, er trägt am Ärmel die gelbe Binde der Blinden.

Die Absicht kann sich in der wahrnehmbaren Geste allerdings auch, gleichsam wie unter einem Schleier, verbergen. – Jemand ruft seinen Freund an, mit dem er sich vor einiger Zeit gestritten hat. Die beiden unterhalten sich kurz – über belanglose Dinge; zugleich verbirgt sich oder zeigt sich unausgesprochen die Absicht des Anrufers, ein versöhnliches Zeichen zu übermitteln.

Die Absicht des Anrufers, ein versöhnliches Zeichen zu übermitteln, kann dem Angerufenen hinter der Belanglosigkeit des Gesprächs verborgen bleiben; doch nach einiger Zeit erfährt er, daß sein Freund verstorben ist, in jener Klinik, aus der er ihn angerufen hat. Im Lichte dieses Umstandes wird ihm seine Absicht offenkundig erscheinen.

Wir können keine Absichten hegen und kundtun, ohne eine gemeinsame Welt vorauszusetzen, in der andere Menschen Absichten hegen und kundtun.

Wir können nichts sagen, ohne eine gemeinsame Welt geteilter Sprache vorauszusetzen.

Als Robinson der Insel Welt könnten wir wohl Schmerz empfinden, doch nicht den Satz bilden „Ich habe Schmerzen“, wenn es niemanden gäbe, der ihn verstehen könnte.

Zu sehen, daß die Ampel für die Fußgänger auf Rot steht, impliziert die Annahme, daß die Ampel für die Autofahrer nicht auf Rot steht.

Die aufgrund der Farbempfindung erzeugte Annahme, daß die Fußgänger halten müssen, impliziert die Annahme, daß die Autofahrer nicht halten müssen. Die erste Annahme und die negierte zweite Annahme bilden ein logisch kohärentes Netzwerk.

Je höher wir die Ansprüche an die Standards unseres Wissens schrauben, umso weniger werden wir wissen, ja schließlich in radikale Skepsis fallen und wähnen, rein gar nichts wissen zu können.

So ließ Descartes seinen radikalen Zweifel selbst die Annahmen über das Dasein anderer und des eigenen Körpers zernagen, nur im das reine Cogito als unbezweifelbaren Kern des Wissens zurückerhalten zu können. Doch die Möglichkeit des Irrtums in der Wahrnehmung dadurch auszuschalten, daß man die Wahrnehmung selbst ausschaltet, scheint ein zu hoher Preis für ein Maß an Gewißheit zu sein, das wir im Normalfalle weder erreichen noch zu erreichen wünschen.

Wir wissen ja, daß die Ampel von Grün auf Rot gesprungen ist, weil wir es mit eigenen Augen gesehen haben; die Möglichkeit des Irrtums in der visuellen Wahrnehmung, wie sie der Grenz- und Ausnahmefall des Rot-Grün-Blinden darstellt, kann uns dies Wissen nicht erschüttern.

Was unsere sensorischen Empfindungen uns anzunehmen gebieten oder nahelegen, ist keine Interpretation dessen, was wir sehen oder hören und was andere anders interpretieren könnten. – Es sei denn, einer sagt, das höre ich als gis, während der andere sagt, das höre ich als as (die sogenannte enharmonische Verwechslung) – doch hier entscheidet der musikalische Kontext.

Wir sehen im Ente-Hasen-Bild entweder das eine oder das andere; wir sehen kein diffuses Etwas und deuten es sodann als das eine oder andere. Und wenn wir plötzlich statt der Ente den Hasen sehen, haben wir nicht willkürlich die Interpretation geändert, sondern spontan den Aspekt gewechselt.

Primäres Wissen erwerben wir im primären Spracherwerb, wenn das Kleinkind die Mutter „Mama“ ruft und den Hund „Wauwau“; denn das sich über es beugende Lächeln dieses Gesichts entlockt dem Kind eben den einen Ausruf, das Tier mit dem wedelnden Schwanz den anderen.

Wir lernen das entsprechende Ding rot zu nennen, und sodann der Implikation inne zu werden, daß es nicht zugleich grün sein kann.

Wir lernen, alles was diesem Grün ähnelt, grün zu nennen, was diesem Hund ähnelt, Hund, und was diesem Menschen ähnelt, Mensch zu nennen.

DDie philosophische Rede von der Erscheinung eines Dings ist irreführend; wir wissen, dies Etwas rot und als Tulpe zu benennen, nicht die Erscheinung, hinter der sich etwas anderes, etwas Unbekanntes, ein gänzlich der Wahrnehmung Entzogenes, ein Ding an sich, verbergen könnte.

Der Optiker weiß nicht aufgrund seiner Ausbildung und seines fachlichen Wissens, was Sehen ist.

Bach, der über ein außerordentliches Gehör verfügte, wußte nicht besser, was Hören heißt, als irgend ein kleiner Thomanerchorknabe.

Gemäß dem Klassifikationssystem eines Linné Tulpen, Veilchen, Fichten und Tannen zu bestimmen und einzuordnen ist etwas anderes, als wahrzunehmen, daß dies eine Tulpe, ein Veilchen, eine Fichte und eine Tanne ist.

Es mutet seltsam an, den Sehvorgängen, die wir Schauen, Spähen, Lugen, Gaffen, Glotzen oder Anhimmeln nennen, ein neuronales Korrelat zuweisen zu wollen, falls dies überhaupt möglich wäre; und wäre es möglich, verhülfe es uns nicht zu einem Verständnis oder einem besseren Verständnis der genannten Arten des Sehens.

Die Bedeutung dessen, was wir unter „Sehen“ und „Hören“ verstehen, wird durch die wissenschaftlich-exakte Erforschung der Augen und des visuellen Cortex sowie der Ohren und des auditiven Cortex weder begründet und gerechtfertigt noch grundsätzlich modifiziert.

Es ist eine philosophische Sackgasse und eine Einbahnstraße des Denkens, alle Arten und Aspekte des Wissens unter einen einheitlichen Begriff fassen zu wollen.

Wir unterscheiden: lesen, schreiben, rechnen, Schach oder Geige spielen und Fahrrad fahren können; hier liegen Kenntnisse und Fertigkeiten vor, die sich auf das verbale oder motorische Gedächtnis, die Anwendung eines Kalküls oder von Spielregeln gründen. – Eine topographische Karte oder einen architektonischen Aufriß lesen können heißt um das Verfahren der maßstäblichen Projektion wissen; vom Blatt Geige spielen können die Regeln der Umsetzung der Noten- und Ausdruckszeichen in präzise Grifftechniken beherrschen.

Zu wissen, daß es sich bei diesem Baum um eine Fichte und keine Tanne handelt, impliziert das Primärwissen, daß wir bestimmte Dinge Bäume nennen, ein Wissen, das wir als Resultat des Spracherwerbs mittels Deixis (Hinweis oder Ostension) im sprachlichen Gedächtnis mit uns tragen; die Spezifikationen der Benennung mittels des Erwerbs botanischen Wissens beruhen auf dieser primären Quelle.

Nur wer rechnen (schreiben, lesen) kann, kann sich verrechnen (verschreiben, verlesen).

Wir müssen, um jene wahrnehmbare Flüssigkeit Wasser zu nennen, nicht wissen, daß Wasser H2O ist. Der Chemiker allerdings wird den Begriff eindeutig mittels der Formel bestimmen.

Wir schließen nicht von der bloßen Wahrnehmung der roten Ampel, daß Halt geboten sei; sondern aus dem mit der Wahrnehmung der roten Ampel verknüpften Wissen um ihre Bedeutung als Warnsignal. – Wer trotz der roten Ampel die Straße überquert, tut es ja, obwohl seine Wahrnehmung der roten Farbe ungetrübt und sein Wissen um ihre Bedeutung nicht ausgelöscht ist.

Einer glaubt, plötzlich in der Menge der Passanten seinen alten Freund zu erkennen; doch weiß er, daß er längst verstorben ist. – Er traut, sagen wir, seinen Augen nicht. Im Fall des Falles führen wir unser Wissen als Augenzeugen wider unsere visuellen Täuschungen ins Feld.

Aton oder Sol invictus ist nicht mehr unsere Sonne, die Luna des Endymion nicht mehr unser Mond. Die Verwendung des Namens der Sonne scheint nicht an den spezifischen Begriff gebunden zu sein, den das zeitgeschichtliche Wissen als ihr Kriterium ansieht – sonst müßten wir den Dichter Hölderlin schon deshalb als verrückt bezeichnen, weil er mit dem Namen den Mythos des Apollon mehr als das christlich entzauberte und wissenschaftlich untersuchte Zentralgestirn verbunden hat.

Die Wahrnehmung komplexer Vorgänge, die wir unter dem Begriff des bewaffneten Konflikts zwischen Ethnien, Nationen und Staaten subsumieren, berechtigt uns, von einem Krieg zu sprechen. – Wenn allerdings nur die modernen militärischen Techniken und die Drohung mit oder der Einsatz von chemischen und nuklearen Massenvernichtungswaffen uns als Kriterium für die Verwendung des Begriffes Krieg zu gelten hätten, wüßten wir nicht zu sagen, um was es sich bei dem bellum civile zwischen Antonius und Octavian oder dem gallischen Krieg eines Cäsar gehandelt hat.

Die Sonne Homers könnte plötzlich demjenigen scheinen, dem ein Wandlungszauber das moderne Weltbild und das zeitgenössische Wissen unverhofft eingeschmolzen hätte.

 

Feb 26 23

Wir Hirten

Die Stimmen, die wie Schwalben schwirrten
durch heißen Fühlens Laubengänge,
sie sind verstummt. Wir sind die Hirten,
die schweigend gehn, beraubt der Sänge.

Die Lieder, die uns Quellen sangen,
daß Blüten in der Nacht entsprossen,
sie sind verstummt. Wir Hirten bangen,
der Erde Schoß hab sich verschlossen.

Die Lichter, die ins Dunkel quollen
wie Milch von Eutern, nährend reine,
sie sind erloschen. Wie verschollen
in Wüstennächten sind die Haine.

Gestirne, die uns weisen mochten
das Lamm in reunumsungner Wiege,
sie sind verglüht gleich zarten Dochten.
O daß der Sehnsucht Blut versiege!

 

Feb 25 23

Die nächtliche Stimme der Erinnerung

Was an das Fenster streift in der Nacht,
ist keines Astes Ohnmacht im Wind,
ist, schmerzlicher wehend, Erinnerung.

„Geh einmal noch“, ruft ihre Stimme,
„den Pfad zwischen knorrigen Reben,
bis wo die Echse im Mittagsstrahl schläft.

Dort findest du es, das bittere Kraut,
pflück dir zum Traum die Würze des Tranks,
der zu verlorener Liebe entrückt.“

Was da seufzt in der Frühlingsnacht,
ist nicht der huldvoll tauende Schnee,
ist, lieblicher schäumend, Erinnerung.

„Geh einmal noch“, ruft ihre Stimme,
„den Uferweg an den Weiden entlang,
bis das Schilf sich auftut dem Glanz

moosgrüner Seide des Wassers,
dort findest du, die im Mondstrahl sich wiegt,
offen die Knospe, die Pforte der Stille.“

 

Feb 24 23

Nadelstiche und Seidenspitzen

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Das Leben stellt uns keine unbeantwortbaren Fragen.

Die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen, hält die Besonnenheit in der Waage, nicht weiter zu fragen.

Der Riese nahm den Zwerg auf die Schulter und sagte, er solle ihm beschreiben, was er von dort aus sieht. Doch der Zwerg konnte es nicht. Sah er nicht die fernen Hügel und das Meer oder hatte er keine Begriffe dafür?

Die Staatsformen der Hochkultur sind die Königs- und die Adelsherrschaft.

Re und Amun, die ägyptischen Götter des Lichts und des Dunkels, der sonnenhaften Epiphanie und der nächtlichen Verborgenheit, sind Zeichen eines hohen Geistes.

Journalisten oder Hunde, die dem Zeitgeist hinterherhecheln.

Hunde, die den Unrat apportieren, den sie öffentliche Meinung nennen.

Nach den Sippen und Stämmen bilden sich unter geistlichen und weltlichen Eliten Völker als geschichtlich wirkende Kräfte, so die Sumerer, Assyrer, Babylonier, Hethiter oder Ägypter; unter ihnen steigen unter dem Siegel göttlicher Berufung einige zu Reichsgründern auf, wie die Ägypter, aber die Latiner unter dem römischen Senat, die Franken unter den Karolingern und die Sachsen unter den Ottonen. Kaum zu überschauen ist die Anzahl der Völker, die vom Malstrom der Geschichte verschluckt wurden, wie die Hyksos, die Philister, die Phönikier, aber auch die Prußen, die Kurländer, die Sorben. In dieser Warte bleibt Deutschland nach dem Untergang Preußens und der Habsburger nur ein als blendendes Luxurieren getarntes langes Siechtum, das vom Zustrom kulturfremder Elemente beschleunigt wird, ganz im Sinne der Mehrzahl von Leuten, die sich auf der Seite einer höheren Moral sehen und Begriffe wie Vaterland, Heimat und kulturelle Identität, auf das eigne Volk angewandt, für moralisch stigmatisierend halten.

Kum einer hat bis in die dunkle Tiefe der Geschichte das ethnisch-kulturelle Substrat erforscht, das all den Völkernamen zugrunde liegt.

Die großen Völker, die zur Reichsgründung aufsteigen, gewinnen sich die kühnen, glänzenden Embleme der Macht wie die Symbole der herrscherlichen Tiere Adler und Löwe, die Krone, das Szepter, den Herrscherstab und den Reichsapfel

Das Christentum hat noch den Abglanz des Erhabenen im Königstitel des Erhöhten und dem Charisma seiner Kaiser und Könige, die sich von ihm eingesetzt und gesalbt glaubten.

Unter dem Druck der Gefahr, im Schatten des Feindes verstummt der Diskurs und das unverantwortliche Gerede.

Tausend Jahre kultische Feier des heiligen Opfers im mystischen Dämmerschein geweihter Kerzen des Hochaltars, dann kommen die aufgeklärten Banausen und installieren elektrisches Licht, um am runden Gemeindetisch gemütlich zu schmatzen und zu schwatzen.

Der Soldat weiß, was er zu tun hat, wenn es gilt, den verwundeten Kameraden aus dem Schützengraben zu bergen; er muß nicht den Moralphilosophen fragen, der in seinem dicken Wälzer leider gerade die Stelle nicht findet, wo er von den Pflichten der Kameradschaft handelt.

Der Denunziant im Auftrag einer höheren Moral ist gefährlicher und unwürdiger als der gedungene Spitzel, der gewissenlos sein mag, aber bisweilen sein Opfer zum Essen einlädt und sich einmal von ihm (statt umgekehrt) ausfragen läßt, während für den Denunzianten der Hypermoral eine solche Tischgemeinschaft Anathema ist.

Die ein Mitspracherecht einklagen, haben am wenigsten zu sagen.

Spitzen, Rüschen, Fransen an Revers, Kragen und Seidentüchern oder ornamentale Ranken, ob an Wänden und Fassaden oder auf Vasen und an Versen, gelten dem gemeinen Geschmack als vornehmes Getue und Blendwerk, hinter dem sich nur niedrige Absichten, wie die seinen, verbergen können.

Klopstocks im Hauch des zweiten abendländischen Frühlings wehenden rhythmischen Ranken gelten den schmerbäuchigen Literaturprofessoren und stumpf skandierenden Beckmessern für pathologisch anders als dem Dichter der „Sarmatischen Zeit“, dem der germanische Aöde nach eigenem Bekenntnis ein Zuchtmeister war.

Manchmal, wenn uns im Herbst die reifen Früchte vor die Füße fallen, bedürfen wir keiner Leiter.

Manchmal genügt es, die roten Äpfel ausgereifter Verskunst im Abenddämmer zwischen den Schatten geistreich verzweigter Andeutungen glimmen zu sehen.

Nun gut, du könntest die rote Ampel grün sehen, Hauptsache du hältst bei Rot an. – Daraus folgt, daß die Bedeutung unserer visuellen und sprachlichen Zeichen nichts Mentales und kein Vorstellungsinhalt sein kann.

Wir sagen, jemand, der vor einer roten Ampel Halt macht, wartet darauf, daß sie auf Grün springt. – Aber wir können nicht sagen, Warten sei eine gewisse mehr oder weniger starke Empfindung innerer Anspannung, die verschwindet, wenn das Erwartete eintritt. Denn auch wenn wir vor der Ampel Halt machen und dabei gar nichts empfinden, ist klar, daß wir gewartet haben, wenn wir, sobald die Ampel auf Grün springt, unseren Weg fortsetzen.

Die Psychologie kann die Semantik nicht erklären; sie kann die Bedeutung dessen, was wir propositionale Einstellungen nennen und in Sätzen nach dem Muster „Ich hoffe, daß p“, „Ich fürchte, daß p“ oder „Ich erwarte, daß p“ ausdrücken, nicht erklären.

Der Zwergpudel kann sich vor der Dogge fürchten. Aber der treue Hund, der sich langweilt, kann nicht hoffen, daß sein Frauchen heute früher nach Hause kommt.

Der sogenannte Tod Gottes ist nicht die Folge einer heroisch-prometheischen Tat von Aufklärern, Freigeistern und Atheisten, sondern das finale Stadium der Entwicklung ihrerseits religiöser Strömungen der Innerlichkeit (die bei Luther nicht entsprangen und bei Kierkegaard nicht versiegten) wie des Idealismus und des Pietismus, wonach das, was wir mit Gott bezeichnen, nur in den verborgensten Falten der Innerlichkeit gegenwärtig, aber als gegenwärtig zugleich auch eigentümlich abwesend ist, sodaß am Ende nicht einmal mehr der Religiöse zu sagen vermag, ob er glaube, vielmehr nur Gott um seinen Glauben oder Unglauben wissen kann.

Etwas wissen heißt nicht, etwas zu wissen glauben.

Etwas meinen heißt nicht, etwas zu meinen glauben.

Vorurteile sind Krücken der Daseinsvorsorge.

Ohne Vorurteile hinsichtlich der Eigenarten gewisser Ethnien wäre schon mancher ihnen aus Unbedachtsamkeit zum Opfer gefallen.

Das größte Vorurteil besteht in der Annahme, von allen Vorurteilen frei zu sein.

Stereotype sind wie Kleiderpuppen; bekleiden à la mode müssen wir sie selbst.

Erst lernen wir den Typus kennen und wiedererkennen, den Lehrer, den Kaufmann, den Polizisten, den Amtmann, den Dichter, den Schauspieler; dann lernen wir den Lehrer Meier und die Schauspielerin Müller kennen; am Ende versuchen wir uns zu erinnern: Wie hieß noch dieser Lehrer, wie diese Schauspielerin?

Immerhin, der Name gehört als Eigentümlichkeit zum Typus Mensch und zugleich als Eigenname zur individuellen Person.

Das Kind zieht der Puppe unterschiedliche Kleidungsstücke über, die ganz verschiedenen Moden oder Zeitaltern angehören, verschiedenen Zwecken dienen mögen, sagen wir eine Ritterrüstung, einen Smoking und eine Badehose; das einzig Erforderliche: Sie müssen passen, zur Figur und den Maßen der Puppe und dem Spiel, welches das Kind in der Phantasie mit ihr treibt. So auch unsere Verwendung sprachlicher Ausdrücke.

Was heißt hier passen? Der Dichter evoziert, was er nicht lassen kann, in seiner Liebeselegie den Mond; der Astronom verwendet dasselbe Wort, nur in seiner, wie wir sagen, wörtlichen Bedeutung.

Was der Dichter mit Mond meint, kann von dem, was der Astronom darunter versteht, so verschieden sein wie die Göttin Luna, die sich den Hirten Endymion zum Geliebten erwählt, von dem Erdtrabanten, auf dem Menschen ihre Spuren hinterlassen haben. – Indes, Luna ist der mythische Name des Erdtrabanten, auf dem Menschen gelandet sind.

Nehmen wir an, phantasiebegabte Gegen-Menschen oder kosmische Antipoden einer fernen Gegen-Erde, um die kein Trabant kreist, hätten mythische Erzählungen von der Göttin Luna und Gedichte wie das Mondgedicht des Matthias Claudius hervorgebracht; würden sie dann, wenn sie mit einem Raumschiff den Weg zu uns gefunden und des Nachts den Erdmond gesehen hätten, ausrufen: „Da ist er ja, der Mond!“?

Technisch hochbegabten Robotern auf einem fernen lebensfeindlichen Planeten, auf dem es kein Wasser gibt, ist es gelungen H2O zu synthetisieren; würden sie, mit einem Raumschiff auf die Erde gelangt, was hier in den Flüssen und Meeren wogt und aus den Leitungen quillt, Wasser nennen?

Der „Luna hat sich in Endymion verliebt“ ist nicht im gleichen Sinne und gemessen an denselben Kriterien unwahr wie der Satz „Der Mond besteht aus Käse.“

Wir können nur Aussagen über Dinge und Sachverhalte korrigieren, bei denen wir in wesentlichen Hinsichten übereinstimmen. – Deshalb gelingt es uns nicht, den Verrückten, der von sich behauptet, Cäsar oder Jesus zu sein, eines besseren zu belehren.

Ein Kleid kann nicht ausschließlich aus Rüschen, Fransen und Spitzen bestehen, ein Gebäude nicht ausschließlich aus Ornamenten.

Auch der Schmuck der Rede oder die dichterische Verwendung von Metaphern und bildhaften Wendungen bedarf eines gleichsam schmucklosen Kerns und Fundaments; wir nennen dies die wörtliche Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke.

Was wir Bewußtsein nennen, kann kein ornamentaler Zierrat unserer neuronalen Behausung sein.

Der Gedanke, also gleichsam die Berührung oder Nahtstelle zwischen uns und der Welt, hat die logische Struktur des Satzes, in dem wir ihn zum Ausdruck bringen. – Das reine Bewußtsein des Descartes dagegen ist strukturlos. – Der Gedanke, daß Wasser H2O ist, hat eine solche Struktur; nicht aber der Gedanke „Ich weiß, daß ich weiß.“

Das Cogito ist nicht die epistemische Nadelspitze, die eine Welt tragen könnte.

Wir können natürlich alle ornamentalen Ranken und Zierrate von der Wand oder der Fassade abschlagen, um unserer radikalen Leidenschaft für die nackte Wahrheit zu frönen; aber wir können kein Gedicht schreiben, in dem wir auf Endymion anspielen, ohne die Blöße des Erdtrabanten mit dem milden Schleier Lunas zu verhüllen.

 

Feb 23 23

Die irrende Seele

Flüchtige Erinnerung an André Breton

Ist es der Nachtwind, der heult
über die Disteln des Gräberfelds,
rüttelt an knöchernen Riegeln des Schlafs?

Es ist nicht der Wind,
es ist die irrende Seele.

Ist es die Quelle, die Nymphe. die seufzt
zwischen schneeblinden Lenden und schäumt,
wenn sie vorm Mondstrahl erschrickt?

Es ist nicht die Quelle,
es ist die irrende Seele.

Ist es der Schatten des Abendgewölks,
der die Anmut der Schwäne verdunkelt,
worin sich die Liebe gespiegelt?

Es ist nicht der Schatten,
es ist die irrende Seele.

Ist es die veilchenblaue, die Sommernacht,
die das Lied aus dämmernder Laube,
durchs offene Fenster geweht?

Es ist nicht die Nacht,
es ist die irrende Seele.

 

Feb 22 23

Das Vermächtnis des Grünspans

Es blieb das Vermächtnis des Grünspans
an den Wänden der windschiefen Scheune,
wo in freudloser Muße sie starrten,
die Sense, die Hacke, die Kanne,
wo die rote Kruste Bluts
auf dem Eichenklotz
kein Kind mehr schauern ließ
vor kopflos flatternden Hühnern.

Die blindlings gekeimt im feuchten Dunkel,
dem Gespensterverlies,
in das niemand mehr hinabstieg,
sie aufzuklauben, zu schälen, zu kochen,
die eingeschrumpften Kartoffeln
haben die Ratten vertilgt.

Und die keine Hand mehr gefunden,
die lilafarbene Schleife,
die Frauenanmut geschlungen,
zitternd zu lösen,
kein Herz, das zärtlicher pochte,
die zierlichen Schattenranken der Schrift
mit ihren blassen, vertrockneten Blüten,
Moosröschen und Vergißmeinnicht,
Hauch um Hauch auseinanderzubreiten,
die Briefe zerfielen zu Staub.

Die Hand und das Herz
zerfielen zu Staub.

Es blieb den Toten kein Angedenken,
ihnen, die sie schwangen, Sense, Hacke und Kanne,
ihr nicht, die sie streute, die Blüten,
ihm nicht, der sie gelesen, die Briefe.

Die letzte Kerze am ärmlichen Grab
mit verwehten Samen von Veilchen,
eines bleichen Enkels dürftige Schwermut
hatte sie angezündet,
ist lang erloschen.

Überwachsen von Moos sind die Namen
auf dem basaltenen Mal,
das wie ein wurmzerfressener Stumpf
sich niedersenkt auf die Erde,
die grausam-vergeßliche Mutter.

 

Feb 21 23

Die steinernen Engel

Nun auch ruhen sie still,
wie faulende Blätter des Vorjahrs,
ermattet an Tropfen nächtlichen Taus,
kleine verblichene Bilder, und ihr,
die wie Früchte im Dunkel geglüht,
ihr Wasserfarben der Kindheit.

Geht noch ein Wind,
rascheln jählings die Blätter,
rinnt die Träne im Schlaf,
Tupfen erweckend am Bild,
voller Mond, die gelbe Quitte im Meer,
o purpurne Kirsche der Sonne.

Oder löscht jedes Bild im Glänzen
bitterer Tränen die Nacht?

Sie auch scheinen für immer zu schlafen,
wie steinerne Engel des Grabs,
die ihre Flügel gesenkt
über erloschener Flamme,
Träume der Jugend und ihr,
der Anmut blassende Bilder.

Streift noch ein Mond
über die einsamen hin,
weckt aus den Schatten ein Flüstern,
mochte der Wehmut hagere Hand
spät eine Kerze entzünden,
und sie tauchen mit Stimmen
eins in des anderen Schlaf.

Oder reißt jedes Wort ins Rauschen
salzigen Wassers die Nacht?

 

Feb 20 23

Normative Ordnungen

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Einer sagt: „Schreibe mir bitte den Namen des Platzes, wo wir uns treffen sollen, auf ein Blatt.“ Der andere schreibt es auf und reicht ihm das Blatt, doch stehen nur rätselhafte Hieroglyphen darauf.

Der Lehrer sagt: „Teile 27 durch 3“, der Schüler antwortet: „1“ – dies ist kein trivialer Rechenfehler, sondern ein systematischer Fehler, denn der Schüler hat so gerechnet: 27 : (3 x 3 x 3).

Der Klient bittet: „Bringen Sie mir den Bildschirm möglichst bald!“ – Der orientalische Dienstleister bringt ihn endlich nach mehrfachen dringenden telefonischen Nachfragen in zwei Wochen.

Wir schreiben weder in Bilder- noch in Silbenschrift, sondern in jener Buchstabenschrift, die uns von den Phönikiern (durch die semitische Konsonantenschrift) und den Griechen (durch die Vokalzeichen) überliefert worden ist. – Wir, das heißt: wir Menschen der abendländischen Kultur, die durch die normative Ordnung der indogermanischen Sprache und ihrer Darstellung in Lautschrift geprägt sind.

Wir rechnen nach Regeln, die sich aus dem Zehner-Stellen-System unserer normativen Zahlenordnung ergeben, nicht beispielsweise nach dem Sechziger-Stellen-System der Babylonier.

Wir haben eine Zeitordnung entwickelt, die, auch wenn sie Ausdrücke wie „nach einer Weile“, „morgens“ oder „bald“ nicht präzise festlegt, doch ausschließt, daß sie „nach einem Jahr“, „um 15 Uhr“ oder „in zwei Wochen“ bedeuten.

Was „wir“ sagen, umfaßt alles, was die Ordnung einer sozialen Gruppe und einer kulturellen Gemeinschaft bestimmt.

Autos fahren hier rechts, so schreibt es die Straßenverkehrsordnung vor.

Doch sind die normativen Ordnungen der Gemeinschaft keine konkreten Gebilde, keine Individuationen, sondern strukturelle Schemata, Muster und Modelle, die einen Spielraum ihrer Konkretion und Erfüllung offenlassen; die Autos könnten auch auf der linken Seite fahren.

Was wir unter Malerei und Plastik verstehen, begegnet uns erstmals vor einigen zehntausend Jahren in den Höhlenmalereien von Lascaux und Altamira, in der Venus von Willendorf und der Elfenbeinfigur des Löwenmenschen aus der Stadel-Höhle am Hohlenstein im Lonetal auf der Schwäbischen Alb; wir wissen nicht genau, ob diese Kunstwerke den Zwecken der Magie oder Idolatrie dienten, doch haben wir an ihnen das Schema und Muster dessen, was wir auch heutzutage Kunstwerke nennen.

Malerei, Plastik, Musik und Dichtung verkörpern normative Ordnungen, die in unseren biologisch bedingten Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten verankert sind, aber intentional und spielerisch an spontanen oder willentlich fixierten Ordnungssystemen ihren Sinngehalt zur Geltung bringen. Der Symbolgehalt von Farben und das Projektionsverfahren der Malerei, die Raumbeherrschung und der suggestive Gestus der Plastik, die Notensysteme und Formensprachen der Musik sowie die rhythmisch-metrischen Gliederungen der Dichtung sind Beispiele normativer ästhetischer Ordnungen.

Überlieferte ästhetische Normen können von genialen Erfindern an eine Grenze geführt werden, wo sie in neue ästhetische Ordnungen übergehen; das zeigt der Tristan-Akkord von Richard Wagner.

Indes, bloße zufällig aufgenommene Alltagsgeräusche wiederzugeben, ohne sie in eine neuartige musikalische Ordnung einzufügen, sodaß die entscheidende Frage nach ihrem ästhetischen Wert sinnlos wird, überschreitet nicht das Gewohnte in neue Ausdrucksbereiche, sondern unterschreitet es ins Diffuse und Unterkomplexe. – Das ästhetisch Unterkomplexe kann schon aus dem Grund keinen Kunstanspruch erheben, weil es – ein nur scheinbares Paradox – keinen Fehler oder Schnitzer erlaubt (wenn es an jedweder normativen Ordnung als eines Kriteriums mangelt).

Den Mißgriff des Pianisten bei der Interpretation einer Klaviersonate von Mozart, Beethoven oder Schubert hört das kultivierte Ohr des Kenners unmittelbar heraus; doch sind wir in der zweideutigen Lage, zwischen Ton und Mißton mangels ästhetisch-normativer Kriterien nicht mehr unterscheiden zu können, sind wir weder willens noch befugt, von Musik zu reden.

Normative Ordnungen sind weder ideale Modelle und ewig gültige, zeitlose platonische Formen und Ideen noch haben sie den Status transzendentaler Gesetze wie bei Kant; sie sind langlebig, doch können sie wie die strenge architektonische Ordnung der antiken Tempelanlagen und die musikalischen Vorschriften der phrygischen oder lydischen Tonskalen der Griechen mit deren Kultur untergehen oder aufgrund von auftretenden Inkonsistenzen ihren Anspruch auf formale Gültigkeit und Universalität verlieren, wie die Risse und Sprünge zeigen, die Kierkegaard zwischen dem Anspruch sittlicher Allgemeinheit und der Forderung religiöser Innerlichkeit entdeckt hat.

Die Norm ist kein empirisches Datum; die Sprache ist zwar empirisch in all den Verlautbarungen und Notaten vorhanden, die wir erfassen mögen; doch können wir in die normative grammatische Ordnung der Sprache nicht willkürlich eingreifen und beispielsweise dekretieren, daß wir nunmehr mit dem grammatischen Geschlecht das sexuelle Geschlecht bezeichnen, also mit dem Ausdruck „Sprecher“, „Bürger“ oder „Zuschauer“ nur Vertreter des männlichen Geschlechts; wir können ebensowenig durch Hinzufügung willkürlicher Zeichen den mitgemeinten Bereich großzügig, aber leider normwidrig, von der grammatischen Polarität vollständig ablösen und in ein schillerndes Spektrum zur Benennung realer oder imaginärer sexueller Geschlechter ausweiten.

Wir können sagen: „Sie fragte. – Er antwortete.“ Doch wir können nicht, was einzig unsere Grammatik noch hergäbe, sagen: „Es sprach“, denn das Neutrum des Pronomens bezieht sich auf eine stumme Sache.

Wenn wir in einer amtlichen Mitteilung aus den fünfziger oder sechziger Jahren lesen: „Alle wahlberechtigten Bürger der Gemeinde nahmen an der Kreistagswahl teil“, müßten wir die Wahrheit dieses Satzes anzweifeln, wenn wir das grammatische mit dem sexuellen Geschlecht identifizierten und unter „Bürger“ nur die männlichen Vertreter der Gattung verstünden.

Die normative Ordnung der Sprache zeigt sich daran, daß wir nichts sagen können, was nicht andere im Prinzip auch sagen könnten oder hätten sagen können.

Wir sind berechtigt, jemanden, der inkohärente und inkonsistente Behauptungen aufstellt, der Gedankenlosigkeit, der Falschmünzerei oder der Selbsttäuschung zu zeihen oder zu verdächtigen.

Wir nennen eine Person, die sich sträubt oder unfähig ist, sich einer normativen Ordnung wie den logischen Anforderungen an Kohärenz und Konsistenz der eigenen Überzeugungen zu fügen, uneinsichtig oder willensschwach.

Die Zusage, das Versprechen, die Vereinbarung sind der sprachliche Keim der sittlichen Ordnung. – Einer philosophischen Sonder- und Hypermoral wie der Moralphilosophie eines Kant oder der Diskursethik eines Apel und Habermas bedürfen wir nicht; die normativen Implikationen unseres alltäglichen Sprachgebrauchs genügen unseren bescheidenen, doch elementaren Ansprüchen als Zoon politikon.

Eine soziale Ordnung, in der das gegebene Wort nicht mehr zählt, ist zum Untergang verurteilt.

Normative Ordnungen beruhen auf einem sprachlich strukturierten Weltbild, das in unseren Äußerungen zumeist unausgesprochen, stillschweigend oder implizit vorausgesetzt wird: Wenn wir zusagen, unserem Freund das geliehene Geld in zwei Wochen auszuhändigen, gehen wir davon aus, daß sich die Bedeutungen dessen, was wir mit Geld, einem Kredit, einer Rückzahlung, ja mit Stunde, Tag und Woche meinen, bis dahin nicht geändert haben werden.

Freilich, der gleichsam apokalyptische Fall ist nicht undenkbar, daß mit einem plötzlichen Entzug der allgemeinen Anerkennung gewisser Münzen und bunter Scheine als Zahlungsmittel auch der Sinn der Begriffe „Kredit“ und „Rückzahlung“ vom Malstrom des Untergangs der sozialen Ordnung verschluckt wird.

Der Tadel, der Verweis, der richterliche Urteilsspruch sind Instantiierungen des Sanktionsregimes, das jedem System sozialen Lebens eigentümlich ist. Derjenige, der befugt ist, den Schüler wegen eines Fehlers zu tadeln, den Linksabbieger im Kreisverkehr einer Ordnungswidrigkeit zu verweisen, den Delinquenten zu einer Haftstrafe zu verurteilen, muß über die Autorität verfügen, die ihn aufgrund seiner Funktion und seines Amtes als Lehrer, Polizist und Richter legitimiert, Sanktionen auszusprechen und wirksam werden zu lassen.

Ein Sozialsystem ohne ein Sanktionsregime, das die Einhaltung seiner Normen kontrolliert und reguliert, zerfällt; der Schüler wird aufmüpfig und die Schule ein Ort des sozialen Unfriedens und der Randale, der Verkehr bricht zusammen, unbescholtene, doch wehrlose Bürger, Frauen und Greise trauen sich im Dunkel nicht mehr auf die Straße.

Es gibt nicht nur das Fieber bei grippalem Infekt; es gibt auch das geistige Fieber, das durch die gefährlichen Viren fanatischer Ideologien und endzeitlicher Heilslehren ausgelöst werden und unbehandelt zu ebenso zerstörerischen Folgen für die Gemeinschaft führen kann wie das von einer schweren Grippe verursachte für das Individuum.

Die Ordnung des Ameisen- und Termitenstaates wird kausal durch die Wirkung bestimmter chemischer Duftstoffe aufrechterhalten, bei deren Versagen eine Art Bürgerkrieg zwischen den Kasten der in Anarchie gestürzten Insekten entbrennt; die Ordnung der menschlichen Gemeinschaft wird intentional durch die Wirkung der Anerkennung der geltenden normativen Ordnungen aufrechterhalten, bei deren Versagen ebenfalls ein Bürgerkrieg auszubrechen droht.

Normative Ordnungen können sich nicht ohne ihre symbolische Darstellung artikulieren und Geltung verschaffen; die Ursymbole traditioneller sozialer Ordnung sind die herrscherlichen Tiere Löwe und Adler, sie werden zu Emblemen der Souveränität. Die Verbindung mit der vergöttlichten Sonne leisten die edelsteinfunkelnde Krone, das leuchtende Szepter und der goldene Herrscherstab. – Pindar beschwört die Macht des hymnischen Gesanges, wenn er dem Adler des Zeus, der auf seinem Herrscherstab hockt, die Lider schwer werden und ihn die Flügel herabsenken und einschlummern läßt.

Souverän ist, wem man die Entscheidung in der Krise aufbürdet; ist sie glücklich, singt man sein Lied, kann sie dem Chaos nicht wehren, macht man ihn zum Sündenbock.

Nur wir sprachbegabten Lebewesen unterliegen normativen Ordnungen; wir folgen Verpflichtungen, die aus der Anwendung sprachlicher Fähigkeiten erwachsen; denn durch sprachlich artikulierte Normen gebunden sein heißt beispielsweise eine Zusage und ein Versprechen machen, kurzum, zu seinem Wort stehen.

Auszeichnung und Degradierung als Weisen der Statuserhöhung und der Statusminderung sind normativen Ordnungen von Gruppen wesentlich: daher die eminente Bedeutung von Abzeichen, Ehrenzeichen, Orden, Zeugnissen und Preisen.

Informelle und formale Inklusion und Exklusion als Weisen der Einbindung und der Ausschließung aus Gruppen, Verbänden und Organisationen sind für das Entstehen und den Erhalt von normativen Ordnungen konstitutiv; wer den Eignungstest bestanden und das Vorstellungsgespräch mit Bravour absolviert hat, wird in das Unternehmen aufgenommen, wer gegen die Hausordnung verstoßen oder seinen Aufgaben nicht gerecht geworden ist, entlassen.

Diskurse können normative Ordnungen nicht begründen (aber wenn sie unter großem Echo in Frankfurt stattfinden an ihrer Zersetzung mitwirken); vielmehr ist es die unter dem Risiko des Scheiterns und Mißerfolgs getroffene Entscheidung jener, die beispielsweise einen Verein gründen, nur Mitglieder aufzunehmen, die den Vereinsstatuten entsprechen.

Organisationen von Gruppen sind von Haus aus normativ und exklusiv ausgerichtet: Nur wer ihren Zwecken dient, ihre Traditionen anerkennt und ihre Sprache spricht, kann hoffen, in sie aufgenommen zu werden.

Wer sich aufs Angeln versteht, darf auch Anglerlatein sprechen.

Wir unterscheiden normative Ordnungen danach, ob ihre Verpflichtungen und Sanktionen informell zur Wirkung gelangen, wie beispielsweise in einem Orchester, bei dem der Dirigent und die Partitur den Maßstab des Vorgeschriebenen angeben, oder formal ausgearbeitet und fixiert sind, wie beispielsweise bei einer Handelsgesellschaft, für die der amtliche Gründungsvertrag Gegenstand, Zweck und anzuwendende Mittel und Methoden notariell beglaubigt und festhält.

Formale Organisationen unterscheiden wir nach der Dichte und Strenge ihrer Regularien, Auflagen und Richtlinien; so den Wanderverein vom Malerbund, den Sportclub vom Zirkel einer religiösen Sekte, das Unternehmen von der Heeresorganisation.

Normative Ordnungen gehorchen, soweit sie eben normativ sind, keinen kausalen Gesetzen; daher ist es widersinnig, von einer Befehlshierarchie innerhalb der Regionen und neuronalen Vorgänge des Gehirns zu reden oder von Regeln und normativen Regulationen tierischen Verhaltens bei Vogel- und Fischschwärmen, Insektenstaaten und Primatenhorden; denn diese sind keine informellen oder formalen Organisationen, sondern mittels unbedingter und bedingter Reflexe gesteuerte Tierverbände.

Formale Organisationen sind rechtlich und rechtskräftig kodifiziert; das erhellt eine ihrer hervorstechenden Funktionen, das Amt, bei dem wir von pflichttreuer Wahrnehmung, aber auch von Amtsmißbrauch sprechen.

Auch Streit, Konflikt und Krieg können wir nur verstehen, wenn wir sie als Teil und Moment normativer Ordnungen betrachten. Der Streit der Bauern um den Grenzverlauf ihrer Felder und der Streit der Erben und Miterben um die genaue Interpretation des im Testament niedergelegten Willens des Erblassers sind nur verständlich vor dem Hintergrund der im Bodenrecht und im Erbrecht explizierten normativen Ordnung des Eigentums.

Der Konflikt zwischen nomadisch geprägten und bäuerlich-städtischen Kulturen, der noch heute im Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen islamischen und westlichen Gruppen, Nationen und Staaten mitschwingt, ist unauflösbar, weil er den Hintergrund zweier gegensätzlicher normativer Ordnungen ins Spiel bringt.

Der Krieg dagegen kann ein bewaffneter Konflikt zwischen Staaten oder im Falle des Bürgerkriegs zwischen sozialen und ethnischen Gruppen innerhalb einer Nation sein. In beiden Fällen können einander widersprechende normative Ordnungen ins Spiel und Feld geführt werden, die nicht miteinander verträglich sind; dann kann der Konflikt zu einem Kampf um Sein oder Nichtsein wie im Krieg der Römer und Punier und der Roten und Weißen nach der Russischen Revolution oder im Konflikt zwischen Bolschewiken und Menschewiken und den urbanen roten Garden und den Kulaken und Bauern in der Sowjetunion und in Rotchina ausarten. – Ein Verhandlungsfrieden oder ein sozialer Kompromiß dagegen setzt die Übereinstimmung der Kriegs- und Konfliktparteien hinsichtlich grundlegender Züge und Aspekte einer gemeinsamen normativen Ordnung voraus; dies ist offenkundig der seltenere Fall in jenen Blättern der Geschichte, in denen wie Hegel sagt das Glück nicht federführend zu sein scheint.

Jene, die mit der Utopie hausieren gehen, eine Abwälzung des lästigen Drucks normativer Ordnungen oder, wie Freud es hellsichtig nannte, des „Unbehagens an der Kultur“ eröffne der geplagten menschlichen Existenz das Tor zu einem goldenen Zeitalter der Egalität und Gerechtigkeit, gleichen Kynikern ohne das Salz sokratischen Witzes, also Hunden, die sich in der Sonne räkeln, doch die tragische Wahrheit verkennen, daß nur normative Ordnungen wie die Sprache, die Organisationen der Daseinsvorsorge und die Symbolisierungssysteme des künstlerischen Ausdrucks dem Menschen ein Maß von Selbstachtung, Größe und Souveränität zu vermitteln vermögen, ohne das er zur unwürdigen faulen Existenz herabsinkt.

 

Feb 19 23

Am Saum des Weges

Dort kam sie aus dem Nebel des Gartens,
die Locke aus der heißen Stirne streichend
mit der vom Jäten und Rupfen,
vom Wringen und Scheuern
aufgerauhten, rissigen Hand,
den aus Bast geflochtenen Korb am Arm,
Früchte der Erde, Boten des Lichts,
von Nachttau genährt,
morgenrötlichen Schimmers,
Äpfel und Pflaumen, Kirschen und Beeren
und für dich, Mutter der Mutter,
Knospen des Monds
und Flammen der Venus,
Lilien und Rosen,
auf- und untergehend
zwischen den summenden Schatten
von Flieder- und Holundergebüsch.

Ihr Lächeln war noch mädchenhaft scheu,
doch von feuchten Funken
blauender Blicke umsprüht,
wie das Lächeln einer Dryade,
die Taubengeflatter geweckt
aus der harzigen Rinde des Schlafs.

Die Schalen sah ich als Kind noch,
worin sie die Früchte gehäuft,
die schön bemalten irdenen Vasen,
die sie mit Blüten erhöht,
aber sie lagen verwittert im eichenen Kasten,
in Leinentücher gewickelt,
als müßte man sie vor Frost
oder böser Blicke Verätzung bewahren.

Dort hockte die Greisin auf einem Stein,
wo am Saum des Weges die staubige Distel sich zackt,
das Haupt gebeugt
unterm veilchenbetupften Tuch,
der viel zu große schäbige Mantel,
den sie dem Leutnant mühsam hat abgezogen,
starr lag er im Schnee
und zeigte statt des Gesichts
einen erloschenen Krater,
er blähte sich wie ein schwarzes Nomadenzelt
über die schwärende Glut eines Herds,
sie aber schürfte geistesabwesend
mit einem Weidenzweig
im braunen Löß und Geröll
wie nach einem verlorenen Ring.

Der Treck war weitergezogen,
sie hatte keine Stimme mehr,
den Fliehenden nachzurufen,
mit ihren Habseligkeiten,
den Eimern, Schüsseln, Tellern und dem Besteck,
das sie oft auf der Terrasse geputzt,
wenn das leise Raunen der See
die Muschel des Traumes gefüllt hat.

Dort ging ich den gewundenen Pfad
durch die knorrigen Reben hinan
zur Kapelle, die wie eine hudernde Glucke
zwischen Moosen und Farnen des Walds
die weißen Flügel gebreitet,
scheu wie ein unreiner Knabe
über die basaltene Schwelle mich tastend,
um vor der Himmelskönig,
die huldvoll den Mantel,
den Azur der Gnade,
um die verirrten Schafe hüllte,
die halbblinden Küken,
eine Kerze anzuzünden,
den Müttern, den Vätern
und jenen, die am Saum des Weges
nicht mehr die Blumen der Heimat grüßten,
und für mich selbst,
den am ärgsten Verirrten.

 

Feb 18 23

Der Träumer im rheinischen Weinberg

Du fühlst es noch, das jugendliche Beben,
siehst du, wie zwischen Blüten Schwäne gleiten,
das Angesicht, das fahle, magst du heben,

auf weichem Veilchenteppich summend schreiten,
und die nach Mündung weint, die Quelle finden,
an Tropfen Lichts das bange Herz zu weiten.

Doch brichst du nicht durch mütterliche Rinden,
zu folgen heißen Gischtens Stromgesängen,
den Wassern, die sich in die Ferne winden.

Dort, wo verrunzelt späte Trauben hängen,
auf kargem Hügel mußt du schweigend rasten,
bis sich des Abends blaue Schatten längen.

Nach andern Trauben geht des Traumes Tasten,
die in den Gärten grüner Buchten glühen,
wo um Gewölke baumeln Purpurquasten,

in Sapphos Hain Adonisknospen blühen,
schon winken Malven, locken Orchideen,
in Dämmerranken aber wollen ziehen

zwei Augen, die wie schwarze Brunnen flehen,
zu schöpfen süßes Licht aus Nacht und Grausen.
O Träumer, könntest du doch widerstehen.

Beim ersten Trunk mußt du im Öden hausen.
Erwachend unter mondgebleichten Trauben,
hörst du statt heller Oden Meeresbrausen

das geisterhafte Gurren grauer Tauben.

 

Feb 17 23

Geister und Schatten

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Namen, einer des anderen Schatten.

Der ukrainische und der russische Vorname Wolodymyr und Wladimir sind phonetisch unterschiedlich, aber etymologisch strukturgleich; das bezeugt die Intensität der Feindseligkeit zwischen verwandten Sippen.

Vor Schatten erschrecken – gemahnt an den Tod, das Schattenreich.

Klarheit der Sicht und der Einsicht, vom eigenen Schatten verstellt.

Das Unsagbare sagen, über den Schatten der Sprache springen.

Der schattenlose Augenblick Nietzsches, den er als Glück empfand; doch ist es schon übermenschlich und kaum zu ertragen.

Die sublime Malerei beginnt wohl mit der Skiagraphie.

Das Erlebte, den Schrecken, das Unbewältigbare in den Schatten gewahren, die wie die von langen Wimpern und dunklen Lidern auf ein Lächeln fallen.

Auf ihren glänzenden Gucci-Schuhen hafteten immer noch Staubteilchen von dem längst betonierten Kartoffelacker ihrer Kindheit auf dem Land.

Die Sonne Homers, die Gischt unterm Kiel des Odysseus, die Gischt auf des Hexameters Wogen.

Der Großvater, der eigentlich Maler werden wollte, aber schwer verwundet aus dem Krieg in die Landwirtschaft der Großmutter einheiratete, hat dem Enkel mit leichter Hand den Umriß von Tieren, Hunden, Katzen, Pferden, ins Schulheft skizziert und starb langsam, Schluck für Schluck und Krug für Krug des lieblichen moselländischen Weins, umlauert, gelockt von ihrem Schatten, seiner Frau nach.

Das Schattenspiel der platonischen Höhle; als wären, was wir sehen, die Schatten der wirklichen Dinge; also auch die Worte, mit denen wir sie benennen, die Schatten der wahren Namen.

Die Schatten der Toten, die den Lebenden einen Blutzoll abverlangen, auf daß sie zu reden begönnen.

Der lange Schatten des Sinai, den die fahle Sonne der Aufklärung nicht aufzulösen vermochte.

Das Schöne an der Sonnenuhr ist, daß sie des nachts nicht geht.

Die Bangigkeit, die uns zur Stunde der wachsenden Schatten befällt.

Der Schatten der Vergangenheit, den die verstörten Deutschen zu bewältigen trachten, indem sie ihn immer wieder rituell beschwören.

Das unwirkliche Licht des Sommerabends, das geisterhaft über Wellen, Zweige, Gräser und die entrückten Gesichter der Liebenden hinzittert.

Farbige Schatten, im Dunst gezeugt vom müden Strahl der untergehenden Sonne, sie rinnen ineinander, löschen sich aus, ergrauen, als seufzten sie nach der Nacht.

Die einsame Kerze am durchbohrten Fuß des Gekreuzigten, die in einem geisterhaften Hauchen flackert; dort auf dem verschneiten Pfad sind noch die Spuren dessen zu sehen, der sie angezündet hat.

Der Ton der Klage, der wie die Lerche ins kältere Blau sich schwingt, wo keine Pforte, kein Nest ihn aufnimmt, und schluchzend in den echolosen Abgrund hinabsinkt, dem Vogel gleich, der tödlich getroffen Federn streuend auf die Erde hinabtaumelt.

Das Grauen, das immer in uns lauert, ist aus den Schatten gemischt, die wir den Personis dramatis unserer Tragikomödie wie geisterhafte Flügel oder Staub aufwirbelnde Schleppen anhängt haben.

Aus dem Dunkel der Tiefe gestiegen, um die staunenden Augen in die strahlende Leere des Himmel zu heben.

Die Fasnacht der schweizerischen und süddeutschen Regionen, die schwäbisch-alemannische Fasnet, ist noch nicht völlig nicht dem Kommerz und dem Flachsinn des Zeitgeistes zum Opfer gefallen wie der Karneval in Köln und Mainz; dabei bezeugen die urtümlichen Tiermasken und dämonischen Fratzen, wie man sie noch in Rottweil, Endlingen und Villingen findet, die orgiastischen Tänze und das wilde Gebaren der solcherart Maskierten eine ferne Verwandtschaft mit dem Geisterglauben und den Maskeraden der alten Stämme Afrikas, Australiens und Sibiriens.

Es sind die Tiere, die wir gejagt und getötet, gezüchtet und geschlachtet haben, die ihren Tribut an unseren Ängsten und Schreckvisionen fordern; es sind die Tiere der unheimlichen Wildnis, die uns mit Zähnen und Klauen, dem Fletschen tödlicher Reißzähne und dem Zischen glühender Zungen heimsuchen und welche die Masken der Kult- und Totemtänze inspirierten.

Die Geister der Dämonen steigen wie Rauch aus dem Blut der geopferten Tiere.

Tiergeister und Tierdämonen waren auch die Urformen der griechischen Götter, Ursprung der Mythen, aus denen die Kunst und Dichtung des Abendlands sich formten. Das bezeugen die alten Namen, die Homer überliefert, wie die eulenäugige Athene, oder die ihnen zugeschriebenen Attribute wie der Kuckuck, der Pfau und die Kuh der Hera oder der Adler und der Stier des Zeus.

Gewiß, die olympischen Götter schreiten erhaben und anmutig in rein menschlicher Gestalt einher, doch die halbtierischen Wesen, die sich wie die Satyrn und Mänaden um Dionysos scharen, oder die Sirenen und Kentauren sind anderen Geistes.

Es ist bezeichnend, daß der an griechischer Religiosität entzündete dichterische Sinn eines Hölderlin wohl den edlen und majestätischen Gestalten des Chiron und des Zeusadlers Eingang in seine Oden und Hymen gewährt, nicht aber den wilden Mischwesen der alten Sage.

Die Aura einer Person, die sich in der Atmosphäre äußert, die sie unwillkürlich um sich verbreitet, kann ein Tiergeist sein, der schon ihre Ahnen heimgesucht hat, und von dessen Gegenwart ihre bewußte Wahrnehmung nichts registriert.

Der letzte große Dichter, dem man wie in der Antike Homer, Pindar, den Tragikern und Vergil einen Zugang zum Reich der Geister und Schatten nicht absprechen kann, war Goethe, wie nicht nur seine bekannten Balladen „Erlkönig“ und „Der Zauberlehrling“ bezeugen. – Nachklänge geisterhafter Schattenspiele und dämonischer Überwältigung finden wir in der Prosa und Dichtung der Romantiker, aber auch bei Storm und Poe, bei George, Huchel und Bobrowski.

Maskerade und Verwandlungszauber sind dem Panoptikum des poetischen Geistes unentbehrlich; Verlaine hat dies mit seinem Rückgriff auf das Rokoko und die Figuren der Commedia dellarte ebenso veranschaulicht wie Hofmannsthal mit seiner wehmütigen Erinnerung an das Wien des Canaletto.

Gaukler, die verschmitzt uns grüßten,
Süßholzraspler, Pansgesicht,
Schranzen, die den Trank versüßten,
schlüpften aus Verlaines Gedicht.

(Siehe: http://www.luxautumnalis.de/kusshand-fuer-verlaine/)

Freilich, wer sich der Bedrängnis durch Geister und Schatten nicht mittels produktiver Metamorphose in Kunst und Dichtung erwehren kann, wie der unfreiwillige Narr, der Psychotiker, ist oftmals dazu verdammt, sie an der Leber seiner Instinkte und Gefühle fressen zu lassen, ohne daß sie durch die Einnahme von einschlägigen Medikamenten wieder vollends nachwachsen kann, oder wild fuchtelnd, radebrechend und genasführt mit seinem eigenen Schatten zu fechten.

Die Dämonen und Schatten, die das Denken der Philosophen heimsuchen, sind wie Wittgenstein diagnostizierte die trügerischen Bilder, die den kurzschlüssigen Analogien und verfänglichen Suggestionen unseres Sprachgebrauchs entspringen.

Wer nach der Bedeutung eines Namens fragt, als wäre er der Ausfluß oder Schatten des Benannten, gleicht dem Kind, das glauben mag, die verstorbene Großmutter hause nun wie eine verbannte Hexe unter der Erde, weil ihr Name auf dem Grabstein prangt; oder wer das unbestimmte Pronomen „niemand“ mit einem Namen verwechselt und nicht die Form der Negation in einem Satz wie „Niemand ist im Zimmer“ erkennt, nämlich: Es gibt nicht ein a, so daß gilt: a ist in dem Zimmer; er gleicht dem König in der Erzählung „Alice hinter den Spiegeln“ von Lewis Carroll, der nach Alice Antwort auf seine Frage, ob sie jemanden auf der Straße sehe: „Nein, ich sehe niemanden“, ganz erstaunt ob der Tatsache ist, daß sie – und das bei dieser Entfernung – diesen Niemand erkannt habe.

Ein seltsamer Geist ist auch der Dämon in den Meditationen des Descartes, der einen undurchdringlichen Schatten auf alles wirft, was wir wahrnehmen, so daß wir außerstande sind, die Dinge so zu erkennen, wie sie in Wahrheit sind, und eigentlich nichts wissen können (es sei denn, Gottes Gnade beraubt ihn seiner Trugmacht – wenigstens teilweise, nämlich in der wie Descartes annahm unerschütterlichen Wahrheit des Satzes „Cogito ergo sum“)). Hier sitzt der Philosoph, der den Zweifel zur alles unterhöhlenden Methode macht, einem Begriff des Wissens auf, der ein Maß von Strenge und Exaktheit impliziert, welches wir bei alltäglichen Aussagen wie: „Warte hier eine Weile“ oder: „Der Berg, den wir erreichen wollen, ist noch ziemlich weit entfernt“ nicht benötigen – denn in beiden Fällen bedürfen wir, um uns verständlich auszudrücken, keines exakten Maßstabs für die Messung der Zeit und der Entfernung.

Eine andere Form philosophischer Narretei resultiert aus dem, was man den Schatten der Repräsentation nennen könnte; als wäre die Bedeutung dessen, was wir sagen und tun, gleichsam dem Strom des Bewußtseins oder den Vorstellungsbildern, den Erinnerungen und Erwartungen zu entnehmen, die unsere Äußerungen und die Wahrnehmung und Deutung von akustischen und visuellen Zeichen begleiten, oder den Absichten und Erwartungen, mit denen wir unsere Gesten und Handlungen ausführen.

Jemand mag sich vorstellen, das Geräusch fallender Tropfen bedeute Regen, doch was da plätschernd herabfällt, sind die Tropfen des Nachbarn im oberen Stock, der seine Blumen gießt. – Ein Mann mag erwarten, die abstrakten Embleme für Mann und Frau bedeuteten, daß ihn Vertreter des jeweiligen Geschlechts hinter der Türe, an der sie jeweils befestigt sind, freundlich begrüßen werden; indes, die Protestrufe, die ihm entgegenschallen, wenn er die Tür mit dem Zeichen für Frau öffnet, um seiner Erwartung genügezutun, werden ihn eines besseren belehren.

Der Inhalt unserer Vorstellungen und Überzeugungen, Absichten und Erwartungen ist weder konstitutiv für die Bedeutung von sprachlichen Zeichen noch deren Kriterium, vielmehr ist es, was wir ihre konventionelle oder definitorische Festlegung durch die Gemeinschaft derer nennen, die sie verwenden.

Jemand, der sich nicht vorstellen kann, daß der Abendstern derselbe Planet wie der Morgenstern ist, muß sich am Ende der Definitionshoheit der Forschergemeinschaft beugen, die diese Identität aufgrund astronomischer Entdeckungen festgeschrieben hat.

Jemand, der sich berechtigt fühlt, sich am Eigentum der Wohlhabenden zu vergreifen, um es in wohlwollender Absicht an die Armen zu verteilen, kann den Diebstahl nicht mittels seiner moralisch lauteren Absicht rechtfertigen und adeln. Was wir (die rechtsetzende Gemeinschaft) als kriminelle Handlung qualifizieren, schließt ihre Eignung als ein „gutes Werk“ per definitionem aus.

Daraus folgt, daß die Bedeutung von Zeichen eine Sache ihrer konventionellen Festlegung, nicht aber ihrer Interpretation darstellt, einer Interpretation, die je nach Perspektive und Weltbild des individuellen Interpreten mal so und mal so ausfallen kann.

Ein weiterer Geist in der Nachfolge des kartesischen Dämons ist, was Ryle das Gespenst in der Maschine genannt hat. Dieses kennen wir nunmehr zur Genüge von der „neurophilosophischen“ Reduktion dessen, was wir Bedeutung nennen, auf neuronale Vorgänge im Gehirn. – Auch wenn das Feuern einer Gruppe von Neuronen die Äußerung eines Satzes begleitet, kann es dessen Bedeutung nicht konstituieren; denn diese ist durch den Gebrauch in der Sprachgemeinschaft konventionell festgelegt, die neuronalen Abläufe aber gehorchen deterministischen oder probabilistischen Modellen, die bestimmte Vorstellungs- und Verhaltensmuster mit neuronalen Strukturen korrelieren.

Wären die Bedeutungen unserer Sätze aber spezifisch determinierte Wirkungen der neuronalen Vorgänge im Gehirn, könnten wir wahre nicht mehr von falschen Sätzen unterscheiden, vielmehr wäre der Unterschied von richtig und unrichtig, wahr und falsch weder anwendbar noch begründbar.

Der Fehler in der Berechnung ist kein Folge eines logischen Mißgriffs der Maschine oder der neuronalen Synapsen, sondern ein Versagen der relevanten Schaltungen und Algorithmen. – Die Maschine kann nicht hinsichtlich des korrekten Aufbaus logischer Schlüsse belehrt, sondern muß neu programmiert werden; nicht die Neuronen haben versagt, sondern die betreffende Person hat einen logischen Fehler begangen.

Der wahre Satz „Der Abendstern scheint nicht der Morgenstern zu sein“ wird demselben neuronalen Muster folgen wie die falschen Sätze „Der Abendstern scheint nicht der Abendstern zu sein“ und „Der Morgenstern scheint nicht der Morgenstern zu sein.“ – Der wahre Satz „Der Abendstern ist der Morgenstern“ impliziert das Wissen von der Wahrheit der Sätze „Der Abendstern ist die Venus“ und „Der Morgenstern ist die Venus“; denn er ist die logische Folgerung aus diesen beiden Sätzen. Logische Folgerungen aber sind keine neuronalen Vorgänge.

 

Feb 16 23

Späte Liebe

Wahre Worte prüf am Hauch.
Mögen sie nur Stacheln tragen,
wenn sie dir von Rosen sagen,
sind sie mehr als schöner Brauch.

Aus dem Dunkel glomm der Blick.
Nur den Augen magst du trauen,
die an deinen Blicken tauen,
vor den starren schrick zurück.

Mund, wie beeriger Topas.
Nur wenn Lippen sanft erbeben,
mag des Kusses Falter schweben,
der die Dunkelheit durchmaß.

Hand, sie schimmert, goldberingt,
öffnet sie die bleiche Mulde,
ohne Scheu sei, schluchzend dulde,
wenn sie sich um deine schlingt.

Schneien kann der Spätherbst schon.
Wärmt es treuen Herzens Glühen,
kann dein Herz noch einmal blühen
blaßt vor Wehmut nicht wie Mohn.

Blaue Nacht dehnt ein Gesang.
Süße Stimmen kannst du hören,
die dein banges Herz betören,
Späte Liebe weilet lang.

 

Feb 15 23

Fade Soße und bittere Kräuter

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Alles verstehen, doch nichts begreifen.

Bei vielen ist verstehen wollen schon Anmaßung.

Das Edle den Edlen, das Seltene den Seltenen, das Geheimnis den Einfältigen.

Die fade Soße der guten Gesinnung, die sie über das moralisch Eingemachte gießen, soll auch die verwöhnten Zungen betören – und wehe, wenn sie sich angeekelt sträuben.

Die blaue Blume wurzelt in der verschollenen Heimat, der dunklen Erde der Einbildungskraft, sie nährt sich vom Tau eines Monds, der langsam in den Wassern der Schwermut versinkt.

Der Dichter, der die blaue Blume pflückt und in sein Album preßt, verstummt.

Die Landschaften sind die Haut, die Metropolen die Geschwüre.

Das Latein der Liturgie wurde vom Kauderwelsch des Sentiments und Ressentiments verdrängt.

Gegen die labbrige Sülze des Kulturreports hilft nicht einmal mehr der Magenbitter einer horazischen Satire.

Wer allem und allen eine Stimme gibt, hat selber nichts zu sagen.

Nach dem langen Geschwätz müßte einer das erlösende Wort sprechen; doch da ist keiner.

Für die letzten Fragen und nach dem langen Zögern beim Morgengrauen gibt kein Argument und kein Konsensus den Ausschlag, sondern einer, der beherzt vorangeht; doch da ist keiner.

In den mit dem Kot des Künstlers selbsteigen gefüllten Blechdosen gipfelt die Kunst der Moderne.

Die verlogene Arbeiterjoppe eines Brecht und der abgenutzte Frack eines Proust, an dessen Revers die Chrysantheme leuchtet.

Der seiner Herkunft, seiner Tradition und ihrem Kult entfremdete jüdische Intellektuelle, Zeitungsschreiber und Fernsehmoderator, Mister Anywhere, der heute in Tel Aviv, morgen in Frankfurt und übermorgen in New York lebt, und überall denselben lauwarm-menschelnden Jargon von sich gibt, ist ein Urbild des Homo novus.

Vor kurzem bestellten sie sich noch ukrainische Huren aufs Hotelzimmer, heute kämpfen sie, heldenhaft in den Sessel furzend, für den Sieg Kiews.

Sie zeigen ihre aufgemalten Wunden her und halten die Hand auf.

Das glänzende Barbie-Puppen-Gesicht der Lüge und die schwarze alemannische Fasnachtsfratze der Wahrheit.

Erheuchelte Stigmata sollen für die Tiefe ihrer seichten Verse bürgen.

Der Massentourismen schändet die Landstriche, Strände und alten Städte des Südens, nicht minder die Kunstwerke der Museen, doch werden diese paradoxerweise durch die Blindheit der Gaffer davor gerettet, augenblicks zu verbleichen.

Die Sklaven der öffentlichen Meinung und die neuen Heloten der staatlich überwachten korrekten Gesinnung entblöden sich nicht, „Studierende“ zu sagen, wenn sie „Studenten“ meinen, ohne der grammatischen Evidenz inne zu werden, daß ein Studierender einer ist, der jetzt am Schreibtisch oder in der Institutsbibliothek sitzt, nicht aber einer, der wieder im Café hockt, obwohl sein Hauptseminar soeben begonnen hat, während ein Student, auch wenn er schläft oder mit seinen Kumpanen auf Zechtour ist, immer noch Student bleibt.

Die gesinnungsterroristische Vergötzung der Diversität ist eine Form der Verdrängung der geschlechtlichen Wahrheit, daß nur die Vereinigung männlicher und weiblicher Gameten neues menschliches Leben zu erzeugen vermag.

Die Idolatrie der ihrem Wesen nach sterilen Perversionen ist ein Zeichen für das Nachlassen des Lebenswillens eines Volkes, ein bionegatives Menetekel.

Die feigen Heloten sagen und radebrechen „Künstler:innen“, „Bürger:innen“, „Polist:innen“, aber nicht „Sadist:innen“, „Vergewaltiger:innen“, „Mörder:innen“.

Hier kann, wer genügend Dreck auf das Bild eines einst verehrten Vorfahren oder eines Heiligen schmiert, sich als Künstler einen Namen machen; hier darf, wer heute Karl oder Petra heißt, sich morgen Karla oder Peter nennen; doch wer das besudelte Bild der Sprache zu reinigen bemüht ist, wer die Namen der würdigen Ahnen, die Namen von Vater und Mutter vor der Degradierung und Schmähung durch den promiskuitiven Pöbel der Diversität zu bewahren sucht, muß zu seinem eigenen Heil im Verborgenen leben.

Die systematische Verstörung von Kinderseelen durch die sadistische Pädagogik der Gesinnungswächter wird sich, statt im Eingeständnis der Sippenhaft für die Schuld der Vorfahren am Judenmord zu münden, in einem schwärenden antijüdischen Ressentiment rächen.

Die Ferne ist die Nähe des Mysteriums.

Die Abwesenheit ist die Wahrheit und die läuternde Bedrängnis der Liebe.

Die mystischen Botschaften der russischen Liturgie ertönen im alten Kirchenslawisch, das den Zeitgenossen kaum mehr verständlich ist, die der griechischen Liturgie auf Altgriechisch, und der alte Ritus der katholischen Kirche bewahrte sie in der Sacra Lingua, der lateinischen Sprache, die sie auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen haben, weil sie Krethi und Plethi nicht wie die fade Soße ihres sentimentalen Gewäsches runtergeht, sondern durch ihre Ferne und Erlesenheit die erschreckend-schöne Aura des Erhabenen verbreitet.

Was Hinz und Kunz nicht auf Anhieb verstehen, gilt hierzulande als suspekt.

Ihre würdelose Haltung folgt der pädagogisch erleuchteten Devise: „Wir lassen keinen zurück“ – auch nicht den geborenen Triebtäter, Vergewaltiger und Mörder.

Der Schwachkopf wird in die erste Reihe gesetzt, der Hochbegabte lümmelt in der letzten.

Die Entwürdigung menschlicher Körper im sogenannten Tanztheater, wo sie nach den perversen Phantasien von ungebildeten Regiemaniaks sich wälzen und verrenken, zappeln und wie dämonisch-groteske Puppen an unsichtbaren Schnüren hin- und her- und auf- und niedergezogen werden, läßt in uns die reaktionäre Sehnsucht nach dem anmutigen Liebesspiel des Pas de deux auflodern.

Eine Feuilletondame wird von einem halbirren Regisseur mit Hundekot beschmiert (so geschehen am 11. Februar 2023 in der Staatsoper Hannover), nachdem sie es gewagt hatte, über seine geistigen Defäkationen ein wenig die Nase zu rümpfen; das kann man auch als etwas harsches Quidproquo für ihre ansonsten einfühlsamen Beiträge über solch kloakenselige Aufführungen deuten.

Ein Kulturvolk, das seine Klassiker auf offener Bühne der Schändung durch manisch-depressive Regisseure preisgibt, ist keines mehr.

Der freie Gedanke wird dem sklavischen Bekenntnis geopfert.

Wer dem Bekenntniszwang sich nicht beugt, verliert sein Ansehen, seine Verbindungen, seine Stellung. Daraus folgt, daß Leute mit hohem Ansehen, den besten Verbindungen und einer exponierten Position sie meist nicht ihrer Begabung, sondern ihrer Chuzpe, Tücke oder moralischen Taubheit verdanken.

Wir glauben dem Mann mit dem Evangelium, der im Ersten Weltkrieg sich die Tapferkeitsmedaille des kaiserlichen Hofs verdiente, weil er sich vor dem feindlichen Geschützfeuer nicht in sein Mauseloch verkroch, und der um sich selbst zu entrinnen, in den Gefechtsgräben den Tractatus Logico-Philosophicus verfaßte, mehr als dem edlen Pazifisten, der unterdessen seine apokalyptischen Visionen gefahrlos zur Bühnenreife brachte.

Die hohe Schwelle, die das Alltägliche vom Ungemeinen trennt, soll der bekotete Schuh nicht betreten.

Vor dem Lärm und Geschrei des Marktes schließt sich die schwere Pforte der Andacht.

Wo im Dämmer vor dem heiligen Bildnis die stille Kerze brennt, sind wir dem gemeinen Alltag entrückt und unserem besseren Ich näher.

Nach der alten Theologie des Ostens ist die irdische ein Abbild der himmlischen Liturgie. – Ein Zwielicht fällt auf jene, die sie mit dem Geschwätz des Tages und dem Nervengift elektronisch erzeugter Klänge bereichern wollen.

Hymnen, die dem Gesang der Engel vorfühlen, sollten nicht in der Vulgärsprache abgefaßt sein.

Der lateinische Choral ist eine Art Interlinearversion und Übersetzung der urchristlichen Zungenrede.

Das bittere Kraut der Einsamkeit, wenn im ernsten Blau des Spätsommermittags die Wolke ratlos verharrt. Kraut, das nicht würzt und nicht nährt.

Das bittere Kraut der Wehmut, wenn im Grau des Novembernachmittags Tropfen an den Scheiben zittern und der Ruf des Kuckucks längst schon verklungen ist. Kraut, das nicht würzt und nicht nährt.

Das bittere Kraut der Erinnerung, wenn sich im zugefrorenen Fluß der nicht sinken will, der Mond noch spiegelt und vor dem dunklen Kreuz am Wegesrand einsam eine Kerze flackert. Kraut, das nicht würzt und nicht nährt.

Das bittere Kraut der Verlorenheit, wenn unterm sanften Frühlingsstrahl es aus der schneeverhüllten Erde gluckst und der Ruf der Morgenglocken im Dunst der Auen verhallt. Kraut, das nicht würzt und nicht nährt.

Das bittere Kraut des Schweigens, wenn der Duft der Rosen aus fernen Gärten ins einsame Zimmer dringt. Kraut, das würzt und das nährt.

Das bittere Kraut der Hoffnung, wenn der Ruf des Kranichs den Abschied des großen Sommertags verkündet. Kraut, das würzt und das nährt.

Das bittere Kraut der Liebe, wenn Schnee auf Schnee fällt und die Spuren der Angst verwehen. Kraut, das würzt und das nährt.

 

Feb 14 23

Begriffliche Klärungen VII – Verstehen

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wenn ich dem Freund gegenüber den Wünsch äußere, die Erzählung zu lesen, von der er mir so angeregt sprach und die in dem Sammelband mit Erzählungen enthalten ist, den er besitzt, versteht er mich recht und bringt mir bei seinem nächsten Besuch das Buch mit, auch wenn ich nicht ausdrücklich gesagt habe: „Bring mir doch bitte das Buch mit.“

Ein Quadrat ist das, was wir mit der Definition meinen: geometrische Figur auf der Ebene mit 4 Seiten, von denen jeweils 2 im rechten Winkel zueinander stehen. – Für das, was wir mit „Buch“, „eine Weile“ oder „Angst“ meinen, haben wir keine Definition gleicher Art und Strenge, ohne an der korrekten oder sinnvollen Verwendung dieser Worte irgend gehindert zu sein.

Bring mir das Buch, das meint nicht: Bring mir die bedruckten und zusammengebundenen Seiten, bring mir die Wörter, die Silben, die Buchstaben auf all diesen Seiten; auch wenn, was wir mit Buch meinen, all dies impliziert.

Sagt der Freund: „Warte hier eine Weile, ich bin gleich zurück“, warte ich eine gute Weile (aber nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag), doch nach dieser guten Weile werde ich unruhig und halte Ausschau nach ihm. Freilich verstehe ich, was er meint, auch wenn eine Weile auf keiner Zeitskala exakt abgebildet ist.

Daß dir angst und bange vor der Prüfung war, habe ich dir angesehen. – Du kannst mir nicht weismachen, daß deine Blässe und das Zittern deiner Hände, das du verlegen zu verbergen trachtetest, ein Ausdruck freudiger Erregung waren.

Was wir angemessen, gut, genau verstehen, ist nicht das Ergebnis einer Interpretation, eines hermeneutischen Verfahrens, wie wir es bei der Deutung etwa schwieriger fremdsprachiger Texte anwenden, indem wir eine unklare oder lückenhafte Stelle durch Vergleich mit ähnlichen Wendungen im vorliegenden Text oder im Gesamtwerk des Autors zu klären versuchen; denn unser Versuch mag fragwürdig bleiben und von einem geschickteren Interpreten und feinfühligeren Hermeneuten durch einen besseren Vorschlag ersetzt werden. – Doch den ängstlichen Gesichtsausdruck verwechseln wir nicht so leicht mit einem freudigen, die Frage nicht mit einer Behauptung, dir ironische Bemerkung nicht mit einer Schmeichelei.

Auf deine Aufforderung hin, eine Weile zu warten, muß ich, um sie zu verstehen, nicht darüber nachgrübeln, was du mit ihr eigentlich beabsichtigst; ob du eine Sache erledigen willst, bei der ich ein unwillkommener Zeuge wäre; ob du eine Verschnaufpause einlegen und mich für eine Weile los sein willst; ob du mich auf eine Geduldsprobe stellen willst. Wie dem auch sei (oder auch nichts von alledem), ich verstehe, was du meinst.

Um eine Äußerung zu verstehen, müssen wir nicht zwingend die Absicht oder Intention, die sich hinter ihr verbirgt, kennen.

Die ältere Hermeneutik glaubte, am besten beim Geschäft der Deutung lückenhafter Texte zu fahren, wenn sie sich durch Kenntnisnahme des Gesamtwerks des Autors über dessen Haltung, Gesinnung, Weltanschauung klar geworden war und mit diesem Hintergrundwissen die Intention des Schreibers bei der fraglichen Textstelle identifizierte: So ergebe sich die Füllung der Textlücke wie von selbst, gleichsam intuitiv.

Aber wenn ich in dem Karton mit alten Briefen krame und einen mit schöner Handschrift ohne Absender herausfische, lese ich vielleicht: „Wü … ich Dir, mein Bester, anläßlich Deines Promotionsjubi … besinnliche Stunden!“, wobei die gepunkteten Lücken in der mit Tinte geschriebenen Schrift verwischt sind; es ist offensichtlich ein Leichtes, die Textlücken zu ergänzen, auch wenn ich nicht weiß und herausfinden kann, ob der Wunsch ernsthaft gemeint oder ironisch getönt war.

Freilich, sagt mir jemand, nachdem ich beim Schachspiel die Dame ohne Not geopfert habe: „Du bist doch ein wahrer Ritter ohne Furcht und Tadel!“, entgeht mir natürlich der Witz der Äußerung, wenn ich sie wörtlich und nicht ironisch verstehe. – Ironie und ihr sprachlicher Ausdruck, die spöttische Bemerkung, sind in diesem Falle die Äußerung der Sprecherabsicht, ohne deren Wahrnehmung sie mir unverständlich erschiene.

Wenn dich dein Freund auffordert, eine Weile zu warten, er wolle nur rasch zur Bankfiliale, um sich Kontoauszüge zu besorgen, und dann nicht mehr auftaucht, wird, je länger du vergeblich wartest, der Verdacht in dir geweckt, er wolle ein böses Spiel mit dir spielen. Dein Verdacht wird genährt, wenn du am nächsten Tag erfährst, daß der Pappenheimer auf unbestimmte Zeit verreist ist. – Hier mag ein Roman über Intrigen seinen Ausgang nehmen, mit Verdächtigungen, Kränkungen, Bezichtigungen und einer vielleicht überraschenden Auflösung.

Wer sagt, er habe keine Angst gehabt, als ihn ein wütender Bullterrier anbellte, obwohl er alle Anzeichen des Erschreckens zeigte, schwindelt entweder oder weiß nicht, was wir unter dem Begriff Angst verstehen.

Anzeichen von Angst zu zeigen oder zu sagen „Ich habe Angst“, obwohl man keinerlei Anzeichen von Angst zeigt, ist etwas Verschiedenes, auch wenn sie dasselbe meinen; denn Anzeichen physiognomischer Art und sprachliche Zeichen sind begrifflich zu unterscheiden.

Wir verstehen, worum es sich handelt, wenn jemand in angsterzeugenden Situationen Anzeichen von Angst zeigt; doch denjenigen, der bei heiterem Sonnenschein am Arm seiner Liebsten sagt, er habe Angst, verstehen wir nicht im gleichen Sinne.

Fieber ist ein Symptom einer Viruserkrankung; es wird zum Kriterium der Korrektheit der Diagnose, daß der Betroffene an einer Viruserkrankung leidet, wenn der Erreger im Labor isoliert und chemisch oder durch DNS-Abgleich identifiziert wird. – Das Krankheitssymptom ist als ein Anzeichen kausal mit dem Krankheitserreger verknüpft.

Die Verwendung sprachlicher Zeichen ist nicht kausal mit den mentalen Zuständen verknüpft, die ihre Artikulation begleiten. – Einer kann sagen, er habe keine Angst, obwohl er von Ängsten heimgesucht wird, etwa um sich als heldenhaft aufzuspielen.

Wir sagen, die Verwendung sprachlicher Zeichen ist im Regelfalle eine willentliche Kundgabe.

Demnach sind Interjektionen wie „O!“ und „Aua“ eine lautliche Form unwillkürlich geäußerter Anzeichen, nämlich der Überraschung oder des Schmerzempfindens.

Wir verstehen den Ausruf „Aua!“, wie wir das Erblassen des Erschrockenen verstehen. Wir müssen ihn nicht als Ausdruck des Schmerzempfindens interpretieren, sondern als solchen gleichsam deutungslos hinnehmen.

Die Äußerung „Ich habe Schmerzen“ kann, wie Wittgenstein zeigte, als Übersetzung der Interjektion „Aua!“ aufgefaßt werden; sie teilt mit ihr den eigentümlichen semantische Status von Äußerungen in der ersten Person über das eigene Empfinden, Fühlen und Beabsichtigen, deren Gewißheit wir anders als Aussagen des gleichen Typs in der dritten Person im Normalfalle nicht anzweifeln.

Der Psychiater weist auf einen Patienten, der scheinbar freudig erregt herumhüpft, und behauptet, er habe Angst; wir verstehen erst, wenn er die Erklärung hinzufügt, er leide unter einem akuten psychotischen Anfall einer Phobie. – In solchen Fällen können wir etwas aufgrund von Erklärungen verstehen.

Der Kriminalist erkennt, daß es sich bei den vorliegenden Tatmerkmalen um ein Muster handelt, das ihm schon bei der Untersuchung anderer Fälle begegnet ist; sein Ausruf „Aha!“ ist ein Anzeichen für die plötzliche Einsicht. Aber der Ausruf ist kein Kriterium ihrer Wahrheit, denn er könnte sich irren, und eine DNS-Probe belegt, daß es sich um verschiedene Täter handelt. Er glaubte zu verstehen, aber saß einem Mißverständnis auf.

Der Mythos stellt natürliche Ereignisse dar, als seien sie Willensäußerungen der Götter: Zeus regnet. – Dies ist nicht ein Mißverständnis in dem Sinne, wie wir von jemandem sagen, er unterliege einem Mißverständnis, weil er annimmt, es regne, wenn er hört, wie Tropfen auf den Fenstersims fallen, aber bloß, weil der Nachbar im oberen Stock die Blumen gießt.

Wenn wir miteinander reden, plaudern, uns verständigen, sind unsere sprachlichen Äußerungen keine kausal bewirkten, unwillkürlichen Anzeichen unseres Befindens (mögen dies auch unsere Mienen und Gesten sein), sondern nicht ohne Absicht erzeugte Zeichen. Doch bedarf die absichtsvolle Äußerung keiner bewußten Entscheidung, auch wenn wir bisweilen eine bewußte Auswahl der Worte und Wendungen oder der Beispiele und Geschichten vornehmen, die wir zum besten geben.

Ungrammatische Bildungen wie „Blau und aber“ oder bizarre wie „Das Fragezeichen hat Heimweh“ sind in sich unverständlich; dagegen können enigmatische Wendungen wie „Das Nichts nichtet“ oder „Die Welt weltet“ auf dem Hintergrund eines eigentümlichen philosophischen Sprachspiels entschlüsselt werden.

Wir sagen: Die Mimesis der Orchidee dient dazu, ihr ähnliche Falter anzulocken; das Murmeltier warnt seine Sippe mit einem Warnpfiff vor dem herannahenden Beutegreifer, damit sie in ihrem Bau Deckung sucht; der Hund eilt wedelnd auf sein Herrchen zu, weil er sich über seine frühe Rückkehr freut. – Unser Gebrauch von Ausdrücken der Gemütsbewegung und grammatischer Konstruktionen wie des Kausal- und Final-Satzes bei der Beschreibung tierischen Verhaltens erlaubt uns scheinbar, das Verhalten ohne weiteres zu verstehen. Indes ist es unsinnig, der Orchidee mit ihrer Anverwandlung an die Gestalt eines Schmetterlings die Absicht zu unterstellen, diesen zur Bestäubung zu reizen; ist es ethologisch unstimmig anzunehmen, daß ein Murmeltier seinen Warnpfiff in der Absicht ausstößt, seine Artgenossen zu warnen: Sein Pfiff erfolgt unwillkürlich, und die Fluchtreaktion der Artgenossen ist ein bedingter Reflex.

Gewiß freut sich der Hund über die Rückkehr des Herrchens; doch könnte er sich nicht darüber freuen, daß sie ein paar Tage früher erfolgte als angekündigt; oder gar deswegen enttäuscht sein wie seine Ehefrau, die auf weitere erholsame Tag der Ruhe gehofft hat, oder die untreue Geliebte, weil sie das Treffen mit ihrem Liebhaber absagen muß.

Wir sagen, alles, was irgend mit Sinn versehen ist, wie Gesten, Mienen, Handlungen und sprachliche Äußerungen, können wir verstehen; die Vorgänge bei der Inflation des frühen Universums, der Bildung von Atomen, Molekülen, Sternen und Galaxien oder die Evolution von lebenden Organismen können wir nicht verstehen, wie wir verstehen, daß der untreue Freund uns mit seinem Fernbleiben einen bösen Streich spielt, sondern nur mittels Theorien, das heißt wissenschaftlicher Hypothesen, zu erklären versuchen.

Wir können die Entscheidung des Machthabers, in das Nachbarland mit Truppen einzufallen, sowohl verstehen, wenn wir die Motivation seiner Handlung und ihre Absicht berücksichtigen, als auch erklären, wenn wir sie mittels Hypothesen über die Typen imperialer und hegemonialer Herrschaft und die Formen ihres Erhalts und ihrer Ausweitung analysieren. – Im Unterschied zu beispielsweise physikalischen Hypothesen können historische Vermutungen allerdings nicht verifiziert, sondern nur mehr oder weniger plausibel gemacht werden.

Die Entscheidung des Macht- und Befehlshabers, in das Nachbarland einzufallen, hat dieselben Folgen, ob er eine vermeintliche oder echte Bedrohung seines Machteinflusses durch das Nachbarland und seine Verbündeten wahrnimmt; doch unser Verständnis seiner Entscheidung ist im einen und im anderen Falle verschieden.

Cäsar traf die Entscheidung, mit dem Überschreiten des Flusses Rubikon das Herrschaftsgebiet des Senats und der Res Publica anzugreifen; wir verstehen anhand seiner Selbstzeugnisse, was er tat, doch eine plausible Hypothese zur Erklärung seines Vorgehens finden wir nicht (etwa nach dem klassischen Muster imperatorischer Machtsicherung oder dem Handlungsmodell der Eroberung der alten und ihrer Unterminierung und Ersetzung mittels Installation einer neuen Herrschaftsform).

Wir sind natürliche und sprachliche Wesen; die Grenzen unseres Verstehens werden einerseits durch die Fremdheit natürlicher Phänomene und Vorgänge wie der Singularität von schwarzen Löchern oder der Bildung des DNS-Stranges und des Einbruchs von schweren körperlichen oder geistigen Erkrankungen, andererseits durch die Fremdheit, Rätselhaftigkeit und Unzugänglichkeit anderer Kulturen abgesteckt.

Wir verstehen die Bedrohungsgefühle oder das Leiden dessen, der sich vor der Ansteckung durch ein epidemisches Virus fürchtet oder sich damit infiziert hat; das epidemische Geschehen selbst entzieht sich dem, was wir unseren Sinn- und Verstehenshorizont nennen können. Bizarre Theorien über ein göttliches Strafgericht insinuieren nur den trügerischen Anschein eines Verstehens.

Die Physiognomie des Schmerzes, der Freude, der Trauer, der Furcht und der Hoffnung sind unserem Verstehen als natürlich verankerte affektive Phänomene kulturübergreifend zugänglich.

Wir verstehen, was Shakespeare mit dem Vers „The Beauty’s rose might never die“ meinte. Doch versteht es der Bewohner einer fremden Kultur, der mit der abendländischen keinen Kontakt hatte, ein australischer Buschmann oder ein Amazonasindianer, wenn ihm die Eigenart unserer dichterischen Sprache, Metaphern und Allegorien für seelische Phänomene zu formen, und die Eigenart der europäischen Lyrik von Sappho über die Marienhymnik, die Troubadours, Dante und den „Roman de la rose“ bis eben zu Shakespeare, die Rose als religiös und metaphysisch konnotiertes Bild für Liebe und Schönheit anzusehen, vollkommen fremd sind?

Fremde Sprachen können wir übersetzen; aber nicht alle in ihrem Mutterboden eingewurzelten Konzepte, begrifflichen Strukturen und Netzwerke verstehen.

Der heidnische Römer wußte ja, was Crux heißt; doch das Mysterium des Glaubens an das Heil am Kreuz blieb ihm unverständlich, ob er nun ein einfacher Legionär im fernen Gallien war oder ein gebildeter Mann der Elite wie Tacitus oder Ammianus Marcellinus.

Wir verstehen die nichtsprachlichen Gesten, Wendungen, Abbreviaturen und flüchtigen Mitteilungen in den Quartetten und Sonaten eines Haydn, Mozart und Beethoven; aber wer versteht wirklich (und affektiert es nicht nur) die bizarren Klänge und Ausdrucksgestalten der höfischen japanischen Oper und des No-Spiels?

Welch ein rätselvoller Greuel mußten den alten Hebräern zur Zeit des Auftretens ihres religiösen Heros Moses der Tierkult der Ägypter, die Idolatrie und Mumifizierung von Katzen, Pavianen und Krokodilen sein, ähnlich grotesk und unverständlich wie hernach der Kult des Gottes Baal, den wir freilich nur in jener häßlichen und bösartigen Fratze kennen, die uns die Propheten übermittelt haben.

Freilich, die neuen Kosmopoliten und Allesversteher glauben von all den Physiognomien der ihnen im Tiefsten rätselhaften und suspekten fremden Kulturen bloß die wässrig-fade Sauce der moralischen Gesinnung des Homo novus – Egalität aller im Geiste der Ignoranz und Indifferenz – abschlecken zu können, die ihre mit Eau de Paris getauften und trotz aller Lippenbekenntnisse europhil und xenophob vernagelten „Philosophen“ gleichmäßig in einer Weise auf ihnen verteilt haben, daß jede Fuge und Falte eingeebnet, jedes fremdartige Lächeln und Zähneblecken übertüncht worden sind.

 

Feb 13 23

Der Liebe Inbild

Du hast an jenes Herz dein Haupt geneigt,
als wärest du dir selbst entronnen,
getrunken hat der Mund, wie süß er schweigt,
das Wort aus einem klaren Bronnen.

Und deine Hand darf einer Schwalbe gleich
im Nest der seinen träumend rasten.
Die Lider matt, der Nacken, mädchenweich,
biegt Fingern sich, die huldvoll lasten.

Er aber, königlich, gibt deiner Anmut Halt,
daß Tränen nicht in Nichts zerrinnen,
das Wort der Liebe nicht im Tod verhallt,
schmiegt sich von Schoß zu Schoß das Linnen.

Die Gesten reiner Zärten, hoher Huld,
daß wir in dieser Nacht sie fänden,
erlöst von Bitterkeit und Ungeduld,
die Herzen hielten auf den Händen.

 

Siehe:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/4f/Apostel_Johannes_an_der_Brust_Christi_Bodenseegebiet_um_1310.jpg

 

Feb 12 23

Was wird uns halten?

Was ist es denn, was hält und mag uns tragen?
Dünn ist die Wand, klopf nur dagegen,
der Klang ist hohl, du darfst es endlich wagen,
und reißt sie ein, und wie zum Segen

erweitert sich der Raum, mehr Licht kann fließen.
Der Zierrat, die Metaphernranken,
sieh, wie in Laubes Dämmer sie verschließen
den Marmor tragender Gedanken.

Doch was wir an den Tempelsäulen sehen,
sie stemmen kühn das Dachgebälke,
sind üppige Voluten, wo Akanthusblätter wehen,
aus Stein, daß Anmut hier nicht welke.

Erblicken silbern wir im Blau die Flocken,
hält uns die Erde. Geküßt von Strahlen,
die aus dem Dunkel zarte Knospen locken,
birgt mancher sie in Blumenschalen.

Und wenn die schönen sich, die Blüten, neigen,
was wird uns halten, da wir fallen?
In Liedes Lichtung weht ein Nebel – Schweigen,
das hohe Wort zerrinnt in Lallen.

 

Feb 11 23

Die Zwillingsschwestern

Grellgeschminkt, mit Plastikbrüsten,
überhaucht von Moschusdunst,
daß betäubt sind, die sie küßten,
feilscht die Lüge geil um Gunst.

Ihre falschen Tränen locken,
wie den Falter Sonnentau,
und erschrockne Herzen stocken,
ah, sie schmatzt, die kalte Frau.

Wie erloschen, bleich und hager,
nur das feuchte Auge glänzt,
einsam auf dem Bettellager
hat kein Freier sie bekränzt.

Ihre Blicke, sie versehren,
dringen in das Herz sie ein,
Wahrheit nähret mit Entbehren,
und ihr Kuß ist herber Wein.

 

Feb 10 23

Begriffliche Klärungen VI – Namen

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

„Peter!“ – Der Angerufene weiß sich gemeint und antwortet ohne zu zögern „Hier!“

Diese scheinbar so beiläufige und nichtssagende Kommunikation kennzeichnen wir als eine Ursprungssituation des Menschen als historische Existenz. Nur als historisch in einer Familie, einer Sippe, einem Kulturvolk Angehöriger trägt er einen Namen, nur als Namensträger geht der Mensch soziale Beziehungen ein, nämlich Beziehungen mit Personen und Bindungen zu Institutionen und Gemeinschaften, die ebenfalls einen Namen tragen und den ontologischen, diskursiven und juristischen Status von Personen einnehmen, für sich beanspruchen und geltend machen.

Der Name und seine Glorie, seine Aura, sein Ruhm begründen den Anspruch auf Herrschaft, auf daß er in aller Munde sei, ein Schrecken den Feinden, den Getreuen ein Wohlklang.

Mit der Auszeichnung des Namens der Herrschaft beginnt die Geschichte der Hochkulturen; zugleich legen die im Namen des Herrschers erlassenen Edikte und Gesetze, wie wir sie seit Hammurabi oder dem Zwölf-Tafel-Gesetz  archäologisch erfassen, sowie mit den Aufzeichnungen ihrer historischen Taten, den res gestae, wie sie Kaiser Augustus im Imperium Romanum auf Stein hat meißeln und verbreiten lassen, den Grundstein der Historiographie.

Die Genealogie und der Stammbaum der Ahnen mit den Zweigen und Früchten der Namen der herrschenden Geschlechter sind, wie Herodot zeigt, die Schußfäden im Gewebe der Geschichtserzählung.

Die Macht Roms erblüht nicht an irgendeinem Fluß, sondern am Tiber, der Triumphzug der siegreichen Feldherren gipfelt nicht auf einem beliebigen Hügel, sondern auf dem Kapitol, die Gräber der großen Familien befinden sind nicht wahllos über eine Gemarkung verstreut, sondern leuchten mit ihren Marmorbildern schon von fern dem Wanderer auf der Via Appia.

Die das Dasein des Einzelnen tragenden Institutionen sind ursprünglich eine Art lebender Allegorien und haben Namen wie die den Penaten geweihte Familie, die der Göttin Roma zugehörige Stadt, die den Göttern bestimmten Kulte mit ihren Tempeln und im Festkalender vorgeschriebenen feierlichen Umzügen.

Die ungeheuren Strahlungen mythischer und heiliger Namen herrscherlicher Gebilde und Institutionen, von Heeren, Kultgemeinschaften, Staaten und Reichen erklären ihre Faszination und die Unterwerfungsbereitschaft ihrer Anhänger und Mitglieder, die bis zum freiwilligen Opfertode reichen kann. – Kultisch geprägte Terrorgruppen von den Assassinen bis zu den Dschihadisten geben uns reichliches Anschauungsmaterial.

Inhabergeführte Unternehmen tragen den Namen ihres Gründers und gelten im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches als Personen. – Die Analogie ermißt man, wenn man daran denkt, daß in Shakespeares Königsdramen die Herrscher oft im Namen und der Maske ihres Herrschaftsgebiets und Landes wie Kent, Dänemark, Norwegen auftreten; man denke auch an Wendungen wie „das Haus Hessen“, „das Haus Hannover“, „das Haus Habsburg“, womit nicht nur ihre Wohnsitze, sondern die Monarchen selbst gemeint sind.

Ein wesentlicher Zug, den das Individuum mit der als Person gedachten institutionellen Einheit verbindet, ist die Verpflichtung, die ursprünglich aus dem Verhältnis zwischen Einzelnen erwächst, wie zwischen Freund und Freund, Gastgeber und Gast, Leihgeber und Schuldner.

Die Aura der Person verschmilzt mit der Aura des Namens. – So wird aus dem Individualnamen Cäsar der Allgemeinbegriff Kaiser.

„Wo bist du Adam?“ – Adam weiß, wer ihn ruft, und schweigt und sucht sich vor Gottes Angesicht zu verbergen.

In der Flucht vor dem Anruf, sei es der Anruf Gottes, wie es der Bericht der Genesis in religiösen Bildern malt, sei es der Anruf der inneren Stimme des Gewissens, erkennen wir das Gefühl und das
Eingeständnis der Schuld. Der biblische Autor deutet sie in der Scham, aufgrund derer sich das erste Menschenpaar die Nacktheit bedeckt; der Autor von „Sein und Zeit“ deutet sie nach dem Verblassen der religiösen Bilder als Flucht vor dem Anruf zur Eigentlichkeit, nämlich zu sein, der man ist, ein der Sorge und der Angst vor dem Tode anheimgegebenes Dasein, das sich in der Entschlossenheit und dem Mut bewährt, mit welchem es beides annimmt.

Wer auf den Anruf seines Namens hört, antwortet nicht nur „Hier!“, in der Absicht, seine Position im Raum anzuzeigen oder seine Identität zu bestätigen; um „Hier!“ oder „Hier bin ich“ sagen zu können, wird ein weltbildliches Koordinatensystem vorausgesetzt, worin sich der Sprechende im Nullpunkt, dem Nullpunkt seiner Existenz, verortet und verzeitlicht; denn die Koordinaten des Systems konstituieren sowohl räumliche als auch zeitliche Dimensionen.

Wir sagen nun, nur Personen sind in der Lage sich am Nullpunkt ihrer Existenz zu individualisieren, und eine Person zu sein heißt, einen Namen zu tragen.

Der Fips genannte Hund weiß nicht, daß er Fips heißt, auch wenn er freudig wedelnd herbeieilt, wenn man ihn mit seinem Namen ruft. Der Name des Hundes ist aber ein akustisches Anzeichen, auf welches das Tier wie auf einen bedingten Reflex reagiert, dagegen kein sprachliches Zeichen wie der Name Peter, auf den der so Angerufene nicht nach Art eines bedingten Reflexes reagiert, sondern etwa mit der Frage antworten kann: „Meinst du mich?“

Das Hündchen Fips kann nicht des lieben Hundefreundes Micki gedenken, mit dem es immer so gern herumgetollt ist, wenn der Name von Micki bei einer Unterhaltung zwischen seiner ehemaligen Besitzerin und Fipsens Herrchen fällt, in deren Verlauf sie wieder einmal auf ihren schon seit langem verstorbenen Liebling zu sprechen kommt.

Wir sehen, daß ein durch eine Psychose bedingter Zerfall der Persönlichkeit mit der Unfähigkeit einhergehen kann, sich des eigenen und fremder Namen korrekt zu bedienen; so unterschrieb etwa Hölderlin etliche seiner Turmgedichte mit fiktiven Namen, so erblickte der kranke Nietzsche in der angebeteten Cosima die mythische Ariadne und identifizierte sich selbst mit Dionysos und Christus.

Wir unterscheiden tragende und nichttragende Wände; Zierrat und Schnörkel bloßer Rhetorik von den für den Gehalt des Gesagten und Mitgeteilten unverzichtbaren Bestandteilen der Rede.

Die nichttragende Wand können wir abreißen; der Raum wird großer und meist lichter. Die rhetorischen Floskeln können wir beiseitelassen; das Gesagte wird klarer, übersichtlicher, einsichtiger.

Wenn die nichttragende Wand allerdings ein kostbares Mosaik oder Wandgemälde aufweist, wie etwa in einer pompejanischen Villa, werden wir den Teufel tun und sie niederreißen. Der Wandschmuck auf einer nichttragenden Wand ist der dichterischen Sprache vergleichbar mit ihren verschiedenen Verfahren der Wiederholung, Spiegelung und metaphorischen Steigerung.

Als Beispiel diene der Gebrauch der Verdopplung der Aussage im typischen Parallelismus des Autors der Genesis: „Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist auf der Erde. Und es geschah so. Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringt, ein jedes nach seiner Art, und Bäume, die da Früchte tragen, in denen ihr Same ist, ein jeder nach seiner Art. Und Gott sah, daß es gut war.“ Genesis, 11–12 (Lutherbibel)

Hier besteht der Parallelismus in der Spiegelung des schöpferischen Befehls Gottes (zur Erschaffung der Pflanzenwelt) und seiner Verwirklichung („Und es geschah so“). Der formelhafte Abschluß des dritten Schöpfungstages („Und Gott sah, daß es gut war“) wird am Ende eines jeden Schöpfungstages wiederholt.

Die semantische Relation, die sich darin manifestiert, daß der Name Cäsar den Mann meint, der am 10. Januar 49 v. Chr. den Rubikon überschritt, ist gleichsam das Fundament des Hauses der Sprache; wir sehen und betreten das Haus, das Fundament ist unsichtbar.

Was wir Bedeutung, Bezugnahme, Wahrheit nennen, sind gleichsam die unsichtbaren Tiefenschichten, auf denen das Haus der Sprache errichtet ist. Doch ist, was sie meinen, nicht darstellbar, erklärbar oder ableitbar, sondern nur indirekt zu ermitteln; denn am Ende können wir über das, was wir beispielsweise mit Bedeutung und Wahrheit meinen, nur sagen: Der Satz: „Es regnet“ bedeutet, daß es regnet, und er ist wahr, wenn er ausgesprochen wird, wenn es regnet.

Die historische Person, die mit dem Namen Cäsar gemeint ist, kann eindeutig mittels der Angabe identifiziert werden, daß es der Mann ist, der am 10. Januar 49 v. Chr. mit einem Heer den Rubikon überschritt.

Natürlich können wir den Mann, der mit Cäsar gemeint ist, auch dadurch identifizieren, daß wir sagen, es sei der Mann, der am 15. März 44 v. Chr. in der römischen Kurie ermordet wurde.

So wie wir wissen, daß der Morgenstern und der Abendstern der Planet Venus sind, wissen wir, daß der Mann, der am 10. Januar 49 v. Chr. den Rubikon überschritt und am 15. März 44 v. Chr. ermordet wurde, Cäsar ist.

Es kann nicht sein, daß der Morgenstern Venus und der Abendstern nicht Venus ist; aber es hätte sein können, daß Cäsar am 10. Januar 49 v. Chr. den Rubikon überschritten hätte, aber nicht am 15. März 44 v. Chr. ermordet worden wäre. Die Bedeutung des Namens Cäsar wäre in diesem Falle eine andere als diejenige, die wir aktuell mittels der genannten beiden Daten festgelegt haben.

Wir ermitteln den rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Träger eines Namens, anhand der Identifikation der Person, indem wir beispielsweise eine DNA-Untersuchung durchführen, die es uns ermöglicht, dem Usurpator die Verwendung des Namens zu untersagen. – Wenn wir dagegen den legitimen Gebrauch des Namen „Wasser“ anhand von Kriterien wie trinkbare Flüssigkeit und Flüssigkeit, die bei bestimmten Temperaturen ihren Aggregatzustand modifiziert, festlegen, müssen wir ihn all jenen nicht absprechen, die nicht wissen, daß Wasser H2O ist.

Es ist bezeichnend, daß die Hervorbringungen und Geschöpfe Gottes im Bericht der Genesis mit den trivialen Allgemeinbegriffen (Wasser, Erde, Pflanzen, Tiere) benannt werden und nur die Menschen Eigennamen tragen.

Mit dem Eigennamen beginnt die Geschichte des Menschen, konstituiert sich die menschliche Lebensform.

Die mythischen Namen sind in ein Zwielicht von Eigenname und Allgemeinbegriff getaucht: Zeus oder die Macht des Gewitters, Aphrodite oder die Macht der Liebe, Ares oder die Macht des Krieges.

Die Namen der mythischen Götter verblassen zu Allegorien, wenn sich das Zwielicht auflöst und der Allgemeinbegriff gleichsam den Eigennamen des Gottes absorbiert: Statt zu sagen „Zeus regnet“, sagt man einfach „Es regnet.“

Der Name des biblischen Gottes ist kein mythischer Name; der Name des biblischen Gottes ist nicht in das Zwielicht von Mythos und Allgemeinbegriff getaucht. Streichen wir den biblischen Gottesnamen, bleibt kein Allgemeinbegriff zurück; auch wenn dies die an der aristotelischen Ontologie geschulten christlichen Theologen des Mittealters, ja noch Descartes und die Deisten glaubten.

Der begrifflichen Konfusion und Verwechslung des Eigennamens Gott und des Begriffs von Gott verdanken wir den ungeheuren Aufwand der Theologen und Philosophen des Mittelalters, ja noch eines Descartes und Leibniz, die Existenz Gottes aus seinen begrifflichen Eigenschaften ableiten zu wollen, und ebenso ihr notwendiges Scheitern.

Die Nachtigall, wenn sie uns denn noch zu hören vergönnt ist, sie ist die gleiche wie die Nachtigall, die Sophokles im Hain bei Kolonos gehört hat.

Der alten Dame ist ihr Hündchen Micki gestorben; sie kauft sich ein neues, das dem alten ganz ähnlich sieht und nennt es Micki.

Wir existieren sowohl als anonyme Natur- und Gattungswesen als auch als Personen, die einen individuellen Namen tragen; unsere natürliche Existenz reicht von der Geburt bis zum Tod, unsere personale Existenz reicht über das Gezweig der Namen unserer Ahnen weit in die Vergangenheit zurück, vermag sich aber auch über die Träger unseres Namens, unsere Kinder, in eine unbestimmte Zukunft auszudehnen.

Der Dichter Fernando Pessoa entwarf fiktive Dichterpersönlichkeiten mit eigener Biographie und eigenem Namen (etwa Alberto Caeiro und Ricardo Reis), um seine Ausdrucksmöglichkeiten zu vermannigfachen. Doch was die fiktiven Personen geschrieben haben, hat natürlich Pessoa geschrieben.

Wird der Scheckbetrüger, der unter falscher Identität gehandelt hat, entlarvt und vor Gericht gestellt, kann er sich nicht auf die Taten seines Doppelgängers herausreden, sondern wird unter seinem Klarnamen angeklagt und verurteilt.

In Samuel Becketts trostlos-grotesker Welt jenseits des Menschen tragen die Protagonisten entweder clowneske Namen (wie Lucky und Pozzo, gleichsam tragikomische Inversionen der Namen der Commedia dellarte), oder sind schlicht namenlose Figuren.

Die Lebenswelten können in Tafeln und Stammbäumen von Allgemeinbegriffen wie der Systematik der Pflanzen und Tiere von Linné erfaßt und klassifiziert werden; die vom Menschen überschaute natürliche Welt und die von ihm geprägten Daseinsbereiche und Lebensformen können in Listen, Registern, Musterbüchern und (illustrierten) Katalogen mit ihren jeweiligen Namen als Lemmata dargestellt werden: Flüsse, Berge, Länder, Kontinente, Orte und ihre Straßen und Plätze, Bauwerke, Brücken, Schiffe, Tage und Monate und manches andere haben wir mit Eigennamen versehen und ausgezeichnet.

Die riesige Tafel mit den Klingeln und den verschmierten, überklebten, zerfledderten Namensschildern neben dem Eingang des heruntergekommenen Hochhauses in einem sogenannten sozialen Brennpunkt, dieses Sinnbild der Häßlichkeit, des Chaos und des kulturellen Verfalls, spricht uns vom Scheitern der liberalistischen, globalistischen und sozialistischen Utopien.

Es gibt die vielen Berge der Alpen, aber nur einen Montblanc, es gibt die vielen Gipfel des Himalaya , aber nur einen Mount Everest.

Mit der Benennung oder Taufe tritt das Kind in eine profane oder sakrale Gemeinschaft ein.

Den Protagonisten und Helden von Dramen und Erzählungen verleihen allererst ihr meist fiktiven Eigennamen das Gewicht und die Plausibilität ihrer Scheinexistenz.

Manche Namen genialer Künstler saugen die Seele des Toten auf, sodaß sie noch posthum ihre Aura mittels ihrer Namen auszustrahlen scheinen: Mozart, Beethoven, Schubert, Goethe.

Nur Menschen leben in der Welt der Namen, Tiere und tierische Gemeinschaften in einer namenlosen, anonymen Welt.

Schon dieser begriffliche Unterschied zwischen dem vorsprachlichen und namenlosen Dasein der Tiere und der auf die Bedeutung des Personennamens gegründeten menschlichen Existenz  taucht alle Versuche neurowissenschaftlich orientierter „Philosophen“, das soziale Leben von Tiergemeinschaften und dasjenige des Menschen über einen Leisten zu schlagen, in ein flackerndes und trübes Licht, das jedenfalls nicht das stille und klare der philosophischen Besinnung zu sein scheint.

Der Name ist wie ein Faden, der uns mit der Existenz der anderen, der Lebenden und Toten, verknüpft, manchmal lose verbindet, manchmal aufs schmerzlichste fesselt.

Der Name der Geliebten kann den Liebenden begeistern oder entsetzen, ins Offene locken oder in Verliese bannen, beflügeln oder zu Boden schlagen.

Die Namen der Verstorbenen, die auf Grabsteinen und Gedenktafeln uns entgegenblicken, sind ein bedeutsames Zeugnis menschlicher Lebensform und ein Zeichen der Pietät, die uns von der Barbarei trennt.

Das Grab zu schänden, den Namen des Verstorbenen zu entstellen und zu entehren gilt zurecht als schweres Sakrileg. – Doch müssen wir dies in Umbruchszeiten wie diesen, da eine neue Generation die Sitten der alten zynisch oder von einer höheren Moral besessen von sich abschüttelt, oft bis zu einem Maß und einer Form der geistigen Entfesselung erleben, die uns empört oder sprach- und ratlos zurückläßt.

Als würde im Namen der Toten jenes Moment der Seele weiterexistieren, das sich in der Andacht und hymnischen Gewalt manifestiert, von der die Widmungs- und Totenbilder der Dichter und Maler, aber auch ein Totengedenken wie das Violinkonzert von Alban Berg künden.

Die Schreckensherrschaft beraubt die Opfer ihrer Namen (und ersetzt sie zynischer- oder diabolischerweise gar durch Nummern).

Die jüdische Religion ist der Kult um Gottes heiligen Namen, der nicht geschrieben, nicht (außer einmal im Jahr beim Jom Kippur durch den Hohepriester) ausgesprochen werden darf.

Der Ruhm ist an das Echo des Namens im Munde zukünftiger Generationen geknüpft; wie die Ode des Horaz an Melpomene „Exegi monumentum aere perennius“ bezeugt.

Verspottung mittels Verkleinerung: „graeculi“ wurden die Haussklaven und Hauslehrer der römischen Aristokraten genannt.

Der Gebrauch von Diminutiven und Kosenamen unter Liebenden, mit dem sie sich bei stürmischem Wetter in die gute und gut geheizte Stube des Hauses der Sprache zurückziehen, um von dort aus dem Fenster wie kleine Kinder dem Flockentreiben zuzuschauen.

Die römischen Namen zeigen die Bedeutung des Vaterrechts in der indogermanischen Kultur, denn ihr zweiter Bestandteil nach dem üblichen praenomen (unserem Rufnamen) ist das nomen gentile, das die Herkunft aus der väterlichen Linie angibt, sowie das inschriftlich verwendete patronymium (Marci filius). Das noch hinzutretende cognomen (sowie der Ehrenname, das agnomen) dienten der Vereindeutigung der Benennung: Gaius Julius Caesar, Publius Cornelius Scipio Africanus.

Der Niedergang der patriarchalisch geprägten Hochkultur, wie wir sie seit den Schüben der großen Revolutionen und im Gefolge der Industrialisierung, Technisierung und Vermassung erleben, zeigt sich in der Inflation fremdstämmiger Namen und der Degradierung und weitgehenden Tilgung oder zumindest Verächtlichmachung des Namens des Vaters und der Namen der Väter.

Staatliche Inschriften wie die römischen sind Dokumente des Willens zur Macht, private wie die intime Grabbilder auf der Via Appia sind beredte Zeichen der Mnemosyne.

„Dem unbekannten Soldaten“ – diese Inschrift ist ein echtes Kennzeichen vaterländischer Gesinnung.

Der Eigenname und die Sprachhandlungen, mit denen wir ihn verleihen, gehören ebenso zum Fundament der Sprache wie die Sprechakte des Zusagens, Versprechens, Beeidens und Vereinbarens, die wir durch namentliche Bezeugung oder unsere Unterschrift besiegeln. Nur aufgrund der Tatsache, daß die anderen wie wir selbst Namen tragen, sprechen wir ihnen ein Dasein als Personen zu, denen wir Reden und Handlungen als Willensäußerungen zuerkennen.

Nur Helga kann Peter ihr Wort geben, nur Peter kann Helga beim Wort nehmen, namenlose Tiere und anonyme Roboter können dies nicht.

 

Feb 9 23

Verlorenes Leben

Kein Wasser war, um uns zu taufen,
wir sind der Liebe Foltergluten,
die Hexe und der Scheiterhaufen –
ins Dunkel laß, o Gott, uns bluten.

 

Es stillt uns nicht in Wälder fliehen,
in uns der Lärm, das Schreien, Greinen,
und Schwärme wirrer Stimmen ziehen,
und Kinder, die im Abgrund weinen.

Was ließe helle Nerven dämmern,
auf bangen Geist gespannte Saiten,
wenn Finger wilder Musen hämmern,
auf ihnen hin- und widergleiten?

Uns hilft nicht knien vor Madonnen
in kühlen Liliendämmerungen,
wenn durch die Adern rollen Sonnen,
der Rose Duft uns hat bezwungen.

Was könnte löschen Durst und Feuer,
die Traumes Funken neu gebären,
was sättigen die Ungeheuer,
die sich von unsern Herzen nähren?

 

Feb 8 23

Begriffliche Klärungen V – „Es regnet“

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

„Es regnet“ – einer der merkwürdigen Sätze indogermanischen Typs, die sich nicht weiter analysieren und in Subjekt und Prädikat aufspalten lassen. Sie sagen, was sich ereignet: Es schneit. Es blitzt. Es donnert. Es wird wärmer. Es zieht.

Sätze mit dem Schein-Subjekt „es“ muten an, als seien sie ursprünglich Phänomenen der Witterung zugedacht; und wirklich sagte man im Altgriechischen auch „Zeus regnet“, bevor man sagte „Es regnet.“

Einfache Aussagen wie „Tropfen fallen“ haben die logisch-grammatische Form a (P), wobei die Variable a für ein Objekt der Welt, P für ein Prädikat steht, das man ihm zuschreiben kann. „Tropfen steigen empor“ ist gewiß ein ebenso sinnvoller Satz wie „Tropfen fallen“, doch nicht in der Welt, in der wir leben.

Der Satz „Es regnet“ hat, außer den gewöhnlichen Zeichen, die wir in ihm vorfinden, kein Sonderzeichen, an dem wir erkennen könnten, daß er eine Aussage über die Welt ist, in der wir leben. Würden wir das Ausrufezeichen mit der neuen Bedeutung verwenden, daß der mit ihm versehene Satz wirklich etwas über die Welt sagt (wie es Frege mit dem Behauptungszeichen vorgeschwebt haben mag), läsen wir etwa: „Es regnet!“ oder einfach „Regen!“ – Doch könnten wir ebensogut im Märchenbuch von dem Zwerg lesen, der aus einer Baumhöhle klettert und ausruft: „Es regnet!“ oder einfach „Regen!“

Wir können nicht sagen, Aussagen wie „Es regnet“ müßten von demjenigen, der sie versteht, in bedeutungsgleiche Ausdrücke übersetzt werden können; denn jemand könnte wissen, was der Satz „Es regnet“ bedeutet, ohne zu wissen, was der Satz „Tropfen fallen“ bedeutet, oder von den Prämissen „Wenn es regnet, fallen Tropfen“ und „Es regnet“ den Schluß folgern zu können „Es fallen tropfen.“

Der Ausruf aus dem Munde des Zwergs „Es regnet!“ bedeutet im fiktionalen Kontext des Märchens augenscheinlich etwas anderes als derselbe Ausruf aus dem Mund des Gastgebers, der aus dem Fenster schaut. nachdem er mit seinem Gast vereinbart hat, noch einen Spaziergang zu unternehmen. Denn im Kontext dieser Situation stellt er nicht nur die deskriptive Aussage über ein Ereignis in der Welt dar, sondern zugleich die präskriptive Äußerung „Bleiben wir lieber hier!“

Die Äußerung „Es regnet“, die bedeutet „Bleiben wir lieber hier“, sagt nicht „Bleiben wir lieber hier“; wer situationsgemäß versteht, was die Äußerung besagt, kann es ihr nicht anhören oder ansehen, denn sie sagt ja nicht, was sie meint.

Das Bild der Wolke mit den fallenden Tropfen, auf das die Wetterfee in der Nachrichtensendung weist, sagt, daß es in dieser Region regnet (oder bald regnen wird). Das Bild mit der ikonischen Figur eines Mannes oder einer Frau an der Tür, sagt nicht, daß wir auf Vertreter des jeweiligen Geschlechtes treffen, wenn wir die Tür öffnen, sondern daß nur Vertreter des jeweiligen Geschlechts sie öffnen und eintreten sollen. – Das Bild mit der Regenwolke ist deskriptiv (oder prognostisch), das Bild mit der ikonischen Figur an der Toilettentür ist nicht deskriptiv, sondern präskriptiv.

Das Bild mit der Regenwolke ähnelt dem, was es meint, der Satz „Es regnet“ nicht. – Die ikonischen Figuren auf den Toilettentüren sind dem, was sie darstellen, ähnlich, doch nicht dem, was sie meinen („Du kannst eintreten, wenn du mir ähnlich bist“).

Der frühe Wittgenstein glaubte, Sätze seien Bilder von möglichen Sachverhalten und Gedanken seien sinnvoll nur, wenn sie in solchen Sätzen ausgedrückt werden; es bestehe eine logische oder strukturelle Ähnlichkeit und Isomorphie zwischen dem Gedanken und dem ihn ausdrückenden sinnvollen Satz und dem möglichen Sachverhalt, den der Satz darstellt. Demnach wäre der Satz „Peter sitzt links von Petra“ sinnvoll und der Ausdruck eines sinnvollen Gedankens, weil seine logische Form mit der logischen Form des Sachverhalts, nämlich der Relation a (S) b übereinstimmt, wobei a und b für die Namen der Personen und S für die Relation des geordneten Nebeneinandersitzens steht und die Tatsache, daß der Name „Peter“ links von dem Namen „Petra“ steht, die Tatsache abbildet, daß Peter links von Petra sitzt.

Aber welche logische Form hat der Satz „Es regnet“? Was sind seine logischen Bestandteile und was bildet er strukturell ab? Der Satz „Es regnet“ läßt sich augenscheinlich nicht so analysieren, daß die Analyse die grammatisch-semantischen Subjekte aufdeckt, deren Relation der Satz zum Ausdruck brächte; denn der Satz druckt keine Relation aus, auch keine einstellige wie etwa der Satz „Tropfen fallen.“

Strukturelle Ähnlichkeit und logische Isomorphie zwischen Sätzen und möglichen Sachverhalten sind demnach kein notwendiges semantisches Sinnkriterium.

Mit der Äußerung „Es regnet“ oder der Aussage, daß es regnet, meinen wir ein mögliches Weltereignis, ein Ereignis, das stattfindet oder nicht stattfindet. – Findet das Ereignis bei der Äußerung des Satzes, der es meint, statt, nennen wir ihn wahr, findet es bei der Äußerung des Satzes nicht statt, nennen wir ihn falsch.

Dem Satz „Es regnet“ sehen wir nicht an, ihm steht es nicht an der Stirn geschrieben, ob er wahr oder falsch ist. Dagegen zeigt der Satz „Es regnet oder es regnet nicht“ und der Satz „Es regnet und es regnet nicht“, daß sie wahr beziehungsweise falsch sind; den ersten nennen wir eine logische Tautologie, den zweiten eine Kontradiktion.

Wahrheit und Falschheit sind Eigenschaften von deskriptiven Sätzen; logische Wahrheit und logische Falschheit sind Eigenschaften von mindestens zwei deskriptiven Sätzen, die durch die logischen Konstanten „und“ beziehungsweise „oder“ verknüpft sind.

Wolken ziehen sich zusammen, der Himmel verdüstert sich. Einer sagt „Es gibt Regen“; die Wettererscheinungen dienen uns als Anzeichen künftiger Ereignisse, der Satz aber bedient sich keiner Anzeichen, und sprachliche Zeichen sind autonom (und keine Anzeichen).

Der Ausruf „Aua!“ kann ein Anzeichen für Schmerzen sein; aber der Satz „Ich habe Schmerzen“ ist es nicht. Doch kann die Aussage „Ich habe Schmerzen“ als Übersetzung des Ausrufs „Aua!“ aufgefaßt werden; aufgrund des Umstands, daß in diesem Falle die sprachlichen Zeichen eine vermíttelte oder indirekte Wiedergabe nichtsprachlicher oder unartikulierter Anzeichen sind, begreifen wir leichter die Sonderstellung von Äußerungen der ersten Person über ihre mentalen Zustände, die anders als Aussagen in der dritten Person wie „Er hat Schmerzen“ oder „Es regnet“ meist von Zweifeln ausgenommen sind.

Der Maler eines Selbstporträts mag während des Malvorgangs über sein Leben nachgrübeln, und die Intensität seiner Selbstbetrachtung kann sich in den Zügen des Porträtierten, dem physiognomischen Ausdruck und der Farbgebung kundtun; doch was wir die Ähnlichkeit des Bildes mit dem Dargestellten nennen, ist keine Widerspiegelung solcher mentalen Vorgänge, sondern die Wirkung eines projektiven Malverfahrens.

Die Ähnlichkeit des Porträtbilds mit dem Porträtierten können wir nur feststellen, wenn wir das Bild mit dem Gesicht des Malers vergleichen. – Aussagen können mit nichts verglichen werden, es sei denn mit anderen Aussagen, beispielsweise ihrer Umformung mittels synonymer Ausdrücke wie etwa „Es schüttet“, „Es rieselt“, „Es schauert“ oder ihrer Übersetzung in andere Sprachen wie beispielsweise „It is raining“, „Il pluit“, „Piuve“.

Einer, der sagt „Es regnet“, mag hören, wie Regentropfen aufs Dach fallen, oder aus dem Fenster auf die fallenden Tropfen schauen; doch der Satz „Es regnet“ ist keine Beschreibung eines akustischen oder visuellen Eindrucks.

Nehmen wir an, die Vorstellung von fallenden Regentropfen sei durch einen Komplex feuernder Neuronen im Gehirn repräsentiert: Der Neurologe könnte mittels eines Gehirnscans nicht ausfindig machen, daß ein solches neuronales Geschehen dem Sinn des Satzes „Es regnet“ äquivalent ist.

Wir können von der Wüste reden und dabei an Regentropfen denken, wir können vom Regen reden oder sagen „Es regnet“ und dabei an die ausgetrocknete Sahara denken.

Die semantischen Eigenschaften von Sätzen können wir nicht auf der Grundlage der Vorstellungen (Phantasiebilder, Erinnerungen) erfassen, die sie begleiten.

Semantische Eigenschaften sind keine mentalen oder psychologischen Eigenschaften.

Semantische Eigenschaften und die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke können nicht aus neuronalen Zuständen oder Ereignissen abgeleitet werden.

Die Bedeutung einer Aussage befindet sich nicht im Gehirn dessen, der sie äußert.

Die Semantik ist weder auf Psychologie noch auf Neurophysiologie reduzierbar.

Die Falschheit der Äußerung „Es regnet“, wenn es nicht regnet, mag die Wirkung einer auditiven Halluzination sein; doch dieses neuronale und psychotische Ereignis begründet nicht die Falschheit der Äußerung – jemand könnte die auditive Halluzination herabprasselnder Regentropfen haben, während es tatsächlich regnet; seine Äußerung „Es regnet“ wäre zwar wahr, aber ihre Wahrheit wäre nicht durch die zufällige Koinzidenz seines seltsamen Erlebens mit der Wirklichkeit begründet, sondern durch die Tatsache, daß es regnet.

Die wahre Äußerung „Es regnet“, wenn es regnet, wird nicht falsch, wenn der Sprecher glaubt, daß es gar nicht regnet, aber seinen Gast mit der scheinbar falschen Äußerung zum Bleiben nötigen will.

Der bequeme Gastgeber will den Gast dazu verleiten, auf den geplanten Spaziergang zu verzichten und gemütlich in der warmen Stube noch weiterzuplaudern, und sagt, während es auf den Balkon tropft (freilich, weil der Bewohner der oberen Wohnung die Balkonpflanzen gießt) „Es regnet“ – er mag es nun selbst glauben oder flunkern. Ob er Falsches annimmt oder lügt, beidemal ist die Aussage unwahr.

Die Äußerung „Ich weiß, daß es regnet“, wenn es regnet, ist keine wahre Äußerung über den Regen, sondern über die Überzeugung des Sprechers; und sie ist sinnvoll nur, wenn sie beispielsweise den Zweifel des Gesprächspartners ausräumen soll. – Denn aus dem Fenster zu schauen und es regnen zu sehen und dann zu sagen „Ich weiß, daß es regnet“ ist unsinnig.

Die Äußerung „Ich fürchte, es gibt Regen“, wenn sich Wolken zusammenziehen und der Himmel sich verdüstert, ist keine Wetterprognose, sondern der Ausdruck der Bedenklichkeit des Sprechers und seines Wunsches, lieber daheim zu bleiben.

Die Semantik deskriptiver Sätze wie „Es regnet“ ist keine Funktion mentaler Zustände oder Dispositionen, die wir mit Wendungen wie „Ich glaube, daß p“, „Ich weiß, daß p“, „Ich fürchte, daß p“ oder „Ich hoffe, daß p“ zum Ausdruck bringen.

Die Bedeutung der Aussage „Es regnet“ ist keine Funktion des Wissens, daß Regentropfen aus Wasser und Wasser aus H2O besteht; denn der Bewohner der Putnamschen Gegenerde mag sagen „Es regnet“, auch wenn er weiß oder nicht weiß, daß die Regentropfen, die auf der Gegenerde niedergehen, nicht aus H2O bestehen.

Gleichgültig, ob wir die neuronalen Ereignisse in unserem Gehirn deterministisch oder probabilistisch deuten, die Tatsache, daß wir auf ihrer Grundlage den Satz bilden „Es regnet“ und damit meinen, daß es regnet, ist weder eine neurophysiologische Tatsache noch ein rein phänomenaler Bewußtseinsinhalt.

Von Neuronen und neuronalen Ereignissen (ebenso wie vom Regen und von Regentropfen) sprechen zu können setzt die semantische Relation zwischen Sprache und Welt schon voraus, kann sie demnach nicht begründen.

Wenn die semantische Beziehung zwischen der Äußerung „Es regnet“ und dem Ereignis, daß es regnet, weder aufgrund der Ähnlichkeit, der Abbildungsfunktion oder der logischen Isomorphie des Satzes mit dem Wetterphänomen noch aufgrund der psychologischen Zustände und mentalen Dispositionen des Sprechers besteht, worin gründet sie dann?

Sagen wir einmal, was naheläge, die semantische Relation gründe in den Kontexten der Äußerung von Sätzen, die uns ermöglichen, sie zu bestätigen oder zu widerlegen (beziehungsweise ihre Annahme nahezulegen oder in Zweifel zu ziehen).

Die Äußerung „Es regnet“ lassen wir gelten, wenn uns der Blick aus dem Fenster bestätigt, daß Tropfen fallen.

Somit würde die semantische Relation in der Wahrheitsfähigkeit (oder Widerlegbarkeit) von Sätzen gründen, mit Hilfe welcher Prüfverfahren ihre Bestätigung oder Widerlegung auch immer erfolgen mag.

Aber drehen wir uns nicht im Kreise? Offensichtlich. Denn Wahrheit ist ja trivialerweise die semantische Fähigkeit von Sätzen, einen Bezug auf bestehende Sachverhalte nehmen und durch diese bestätigt werden zu können.

Daraus folgern wir, daß die semantische Relation zwischen Sprache und Welt, die Conditio humana schlechthin, insofern wir uns als Homo loquens definieren, nicht erklärt oder abgeleitet werden kann; jede Erklärung und Ableitung setzt sie bereits voraus.

Der Heidegger von „Sein und Zeit“ tat demnach gut daran, die Welterschlossenheit des menschlichen Daseins nicht als philosophisches Problem zu behandeln, sondern als Existential vorauszusetzen. Nur daß sie sich nicht bloß im zeughaft-technischen und künstlerischen Weltumgang oder in existentiellen Stimmungen wie der Angst und der Sorge kundtut, sondern, wie er in seinem Spätwerk selber darlegt, um sich auf solche Weise manifestieren zu können, das Sprachvermögen und die semantische Kraft der sprachlichen Darstellung zur Grundlage hat.

Der sinnvoll klingende philosophische Satz, wonach die Aussage „Es regnet“ die Tatsache bedeute, daß es regnet, ist ein Scheinsatz; denn es gibt keine Tatsachen in dem Sinne, wie es Regentropfen oder Dinge der Welt gibt. Wir reden von Tatsachen, aber eigentlich reden wir von der semantischen Kraft der Sprache, also von einer begrifflichen Struktur.

Wasser, sagen manche, habe die Bedeutung von H2O; doch Dinge, Substanzen und Ereignisse haben keine Bedeutung, sondern nur Sätze, die von ihnen reden.

Von Dingen, Substanzen und Ereignissen zu reden ist schon zweideutig; denn eigentlich sind sie begriffliche Formen der Sätze, mit denen wir von Tropfen, Wasser und Regenfällen sprechen.

Die Äußerung „Es regnet“ über den bestehenden Sachverhalt, daß es regnet, ist ein Konstituens der Tatsache, daß es regnet, nicht freilich der Regentropfen.

Die seltsame, aber gnomisch-stimmige Äußerung Heideggers „Es weltet“ ist ein Hinweis auf die gleichsam sprachähnliche Ereignisstruktur der Welt, in der wir leben, und auf die welterschließende semantische Kraft der menschlichen Sprache, die von ihr Zeugnis gibt. Ohne die semantische Kraft der Sprache könnten wir das Bestehen des Sachverhalts und also die Wahrheit der Aussage „Es regnet“ nicht erfassen.

Ohne das Dasein des Homo loquens und die darstellende Funktion der menschlichen Sprache fielen wohl Regentropfen auf die Erde nieder, doch wäre es unsinnig, von einem möglichen Sachverhalt zu reden, den wir mit der Aussage „Es regnet“ meinen und deren Wahrheit wir mit einem flüchtigen Blick aus dem Fenster bestätigen.

Über die Jahrhunderte und die Länder verteilt könnte man Einträge in Tagebüchern finden wie „Es regnet“, „It is raining“, „Il pluit“, „Piuve“, und statt zu sagen, dann und dann hat es geregnet, können wir auch sagen, im Tagebuch des N. N. vom xx.xx.xxxx steht „Es regnet.“

Vorkommnisse eines natürlichen Ereignistyps wie Regen, Gewitter, Schneefall können wir auf einer beliebig langen Zeitstrecke anhand des jeweiligen Protokollsatzes „Es regnet“, „Es blitzt“, „Es schneit“ datieren; dies gilt nicht für singuläre und historisch einmalige Ereignisse. Der Meteorit schlug nur einmal auf; Cäsar überschritt nur einmal den Rubikon.

Da wir die natürlichen Ursachen des Regens kennen, können wir voraussagen, daß sich dieses Wetterphänomen unter den gleichen kausalen Umständen wiederholen wird; dagegen kennen wir keine natürlichen Ursachen, aus denen sich das Handeln einer Person gesetzesförmig ableiten ließe.

Der Mythos, gemäß dem es der Wettergott Ist, dem das natürliche Ereignis Regen als willensmäßiges Handeln zugeschrieben wird, ist eben aufgrund dieser poetischen Illusion ein Mythos.

 

Feb 7 23

Des Verses wilde Ranken

Die Wellen, die ans Ufer rollen,
umschäumen noch den bleichen Tand
von Inseln, die im Meer verschollen,
und kein Homer hat sie benannt.

 

Wovor zurück wir ängstlich weichen,
im Zwielicht finden wir den Halt,
wo dumpf wir hin im Nebel schleichen,
glänzt sie hervor, die Wohlgestalt.

Der Wurzel gilt es nachzufühlen,
die sich ins Hadesdunkel streckt –
wo Klagen sickern, Geister wühlen,
hat sie den sichern Grund entdeckt.

Die Blüten, die auf Wassern schwanken,
zu träumen sind sie aufgetan,
Tau tropft von Verses wilden Ranken,
geschüttelt jäh vom Stab des Pan.

Die Anmut lernen wir vom Schaukeln
der Schönen, die am Hochseil schwebt,
wenn Gong und Pauke sie umgaukeln –
sie fliegt, ein Schwanenfittich bebt.

Die Landschaft will ins Ferne rücken,
reißt auf die Nacht ein Schreckensstrahl,
wie zittern wir, die Frucht zu pflücken,
und schmecken süß der Liebe Qual.

 



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