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Mai 29 23

Vergebens war dein Rufen

Vom Aether aber fällt
Das treue Bild und Göttersprüche regnen
Unzählbare von ihm, und es tönt im innersten Haine.

Friedrich Hölderlin, Germanien

 

Nun ist von deinem Äther uns geblieben
blaß und verschwimmend,
ein duftentrücktes Veilchenblau,
von einer Liebe, die verlassen wurde,
am Saum des Abendhimmels scheu gepflückt.

Der Adler, den du kühn vom Indus her gesandt,
die Salzflut sah im Monde er noch glitzern
und rastete erschöpft im Alpenschnee.

Vergebens war dein Rufen nach den Hohen,
daß sie aus holden Lächelns Falten
uns tropfen ließen Tau
auf schon verdorrter Hoffnung
graues Herz.

Die du erweckt aus den papiernen Ranken
und Schattenrissen der Gelehrsamkeit,
daß jäh erzitterten
im Jahrhundertschlaf erschlaffte Wimpern
und feuchten Glanzes sich geweitet
die göttlich-stillen Augen,
von Meeresgischt gesprenkelte Gestalten,
von Mohn und Rosen überhauchte Schläfen
und Geister, die aus Quellen Liebesschauer,
aus Wolken die Erleuchtung brachten –
zertrümmert unter rohen Schicksals Hämmern,
von Fäulnisdunst zerfressen sind und
über ausgelaugten Furchen Dunst
jetzt jene tiefbeseelten Lebensbilder.

Was hier noch grünt, sind Herthas Haine nicht,
wo einst in weichen Wassers Schlaf
ein Schwan der Verse Traumgefieder
still hat eingetunkt.

Und was um Sangeswolken abendrötlich flammte,
es blättert ab wie Grind vergilbten Allgefühls,
wie schlecht vernarbter Wunde tauber Schorf.

Der Sage goldener Rauch,
der dir aus mythischen Ruinen quoll,
ward überschrieben von der Asche
erstickter Schreie.

Die Göttersprüche, die geregnet sind
von deinem Hellas-blauen Himmel,
versickerten in wüster Rede Karst.

Entstellt von Spritzern ätzenden Urins
am Wegrand aber siecht
die Blume, schwach leuchtend noch
wie Blut am Christusdorn,
die Blume deines Munds.

Uns Tagedieben wiesest du die Nacht,
den Abgrund, jenseits aller Sternenbilder,
worin einfältig lächelnd und
wie närrisch mit dem Schnupftuch winkend
langsam du versankst,
kein Flügel war, dich noch zu retten,
o langsam sankst hinab.

 

Mai 28 23

Das treue Hündchen

Schon hörst du wieder süßes Schnaufen,
o kreatürlich-warmer Schall,
es kommt das Hündchen angelaufen,
bringt dir zurück den roten Ball.

Du siehst es an dem Glanz der Augen,
wie wahre Treue tief beseelt,
wozu uns Worte schwerlich taugen,
stumm hat sein Blick es nicht verfehlt.

Wie rührend ist die Freundesgeste,
hebt es die Pfote auf dein Knie.
Die Hand, die stürmisch deine preßte,
ob sie nicht trog, du weißt es nie.

Und bist du munter, mag es fegen
durch Gras und Dickicht, und es bellt,
sich traulich dir zu Füßen legen,
wenn Schwermut auf das Herz dir fällt.

Gern pflückst du aus dem Fell die Kletten
und kämmst das immer krause Haar,
gern mag es sich aufs Kissen betten,
als wäret ihr ein altes Paar.

Gedenke, wie an wirren Tagen,
da Liebe kam und Liebe ging,
du wolltest unwirsch es verjagen,
und es mit Blicken an dir hing.

Und hörst du aus dem Napf es schlecken
und kratzen an der Wohnungstür,
kommt dich bisweilen an ein Schrecken,
daß stumm es wird, leer um dich her.

 

Mai 27 23

Müden Dichters Winke

Sei wie das Wehen des Holunders,
Gardinenbausch, vom Mond gebläht,
die Rüsche eines Blumenwunders,
ein Reim, ans Traumrevers genäht.

Die Knospe nimm, keck hingehalten
von einer Fee, die schelmisch lacht,
wenn jäh die Blüten sich entfalten
und süßer Duft dich schwanken macht.

Der Dämmerschilfe Odem trinke,
vom Geist des Wassers hochgestimmt,
als ob noch einmal Ferne winke,
sieh, wie ein Boot ans Ufer schwimmt.

Laß nur das tumbe Ruder fahren,
o treibe hin gedankenlos,
hör bloß, wie lüstern Tritons Scharen
schon schwappen um das lecke Floß.

Im Dunkel knirscht es noch ins Röhricht,
mag es die Toteninsel sein,
steig aus, und blick zurück nicht töricht,
hier hüllt der Stille Laub dich ein.

 

Mai 26 23

Die Harmonie der Welt

Das Rauschen ist verebbt, die Gischt zerstoben,
im Traum hallt nach der hohe Wellenschlag.
Hat goldne Fäden Abendlicht gewoben,
ermißt du deiner Leiden Sonnentag.

Wir können nicht ergrübeln, wie es wäre,
nicht aufgewacht zu sein in dieser Welt,
wie fühlen wir den Schatten und die Schwere,
wenn Glanz der Träne von der Wimper fällt.

Und wenn die Blüten, hingestreute, schwimmen
auf schwarzen Wogen, nach und nach verblaßt,
erinnerst du dich an das feuchte Glimmen,
den wehen Duft, den du geatmet hast.

Die Harmonie der Welt ist im Gefunkel
der hohen Nacht verborgen, schweigt im Dunkel.

 

Mai 25 23

Die Marionetten

Sie baumeln wie an losen Fäden, wirren,
die Puppen eines abgetanen Spiels,
ein Wind kommt auf, läßt eins ins andre klirren,
Gebeine ausgemergelten Gefühls.

Der große Spieler, er hat hingeschmissen,
aus Überdruß vorm immer gleichen Plot,
wenn anfangs sie das Lilienbanner hissen,
am Ende jubeln sie um das Schafott.

Was dir in irdnem Kruge noch geblieben,
der feuchte Glanz aus schon versiegtem Quell,
laß, Dichter, ihn auf unsrer Stirn zerstieben,
damit die Nacht noch einmal werde hell.

O könnte uns, taubstumme Marionetten,
dein sanfter Hauch aus der Erstarrung retten.

 

Mai 24 23

Ausonius, de Bissula

Bissula, trans gelidum stirpe et lare prosata Rhenum,
conscia nascentis Bissula Danuvii,
capta manu, sed missa manu dominatur in eius
deliciis, cuius bellica praeda fuit.
matre carens, nutricis egens nescit <tamen> erae
imperium < … >
fortunae ac patriae quae nulla obprobria sensit,
illico inexperto libera servitio,
sic Latiis mutata bonis, Germana maneret
ut facies, oculos caerula, flava comas.
ambiguam modo lingua facit, modo forma puellam:
haec Rheno genitam praedicat, haec Latio.

 

Bissula, wohnen jenseits des schaurigen Rheins ihre Laren,
weiß sich Bissula ganz Sprößling des Donaugebiets.
Doch die sie faßte, die Hand ließ frei sie, daß selbst sie nun herrsche
wohl zur Freude des Herrn, der aus der Schlacht sie geraubt.
Fehlte die Mutter ihr, und mußte sie missen die Amme,
<ist keiner Herrin sie hier untertan und keinem Herrn,>
muß hier als Schmach empfinden nicht Herkunft und Schicksal,
dort, wo als Freie sie wohnt unter dem bergenden Dach,
Latium freilich hat sie verwandelt, aber germanisch
blieb ihr Antlitz, blauäugig, die Haare rotblond.
Bald leiht dem Mädchen Liebreiz die Sprache, bald ihre Schönheit,
kündet uns diese: „Vom Rhein kam ich!“, sagt jene: „Aus Rom!“

 

Mai 23 23

Sonett der Jahreszeiten

In Jahreszeiten spiegelt sich dein Leben.
Wie lichte Finger keimt es aus den Knollen.
Die Knospen, die sich träumend öffnen wollen,
von Rosen und von Orchideen beben.

Der Sommertag mag dich dir wiedergeben,
wisch ab die Tropfen, auf die Stirn gequollen
im schwarzen Glanze aufgewühlter Schollen,
und sieh im Abendlicht die Mücken weben.

Und hörst die Früchte du im Dunkel fallen,
glimmt noch Erinnerung wie Apfelsinen
in blauer Schale. Stimmen, sie verhallen,
sie gehen fort, die dir so nahe schienen.

Daß nicht Schneewehen dich dir selbst entreißen,
und Flocken dir wie weiße Blüten gleißen.

 

Mai 23 23

Erwacht im Traum

Das Herz erwacht im Traum, wenn jäh Kristalle
in dunkler Erde schmelzen und sie tönen.
Uns ist, als ob ein Blatt aufs Herz uns falle,
als könne Krokus mit der Welt versöhnen.

Betört uns das Gesumm in weißen Dolden,
sind Schatten zwei, die eins im andern münden,
hell ist dein Wort, dein loses Haar rotgolden,
doch dunkel, was die feuchten Augen künden.

Und seufzt noch unser Schritt im braunen Moose,
zerschlitzt den blauen Samt azurner Stille
der Schrei des Kranichs, und die Herbstzeitlose
schließt scheu vorm kalten Mond die Blütenhülle.

Daß uns, geblendet von kristallnem Gleißen,
der Erde Lied mag aus dem Abgrund reißen.

 

Mai 22 23

Uns bleiben dürre Halme

Verblaßter Rosen Sommer ist vergangen,
sie neigen sich, kein Duft gibt ihnen Halt,
die weichen Tropfen auf den weichen Wangen,
sie schimmern noch, verrinnen aber bald.

Uns bleiben dürre Halme, unscheinbare,
die selbst des Mondes Grabeslicht verschmäht,
als feuchter Spiegel nur zwei Augenpaare,
daß dämmernd eins im andern sich errät.

Wie ferne flattert grellen Tages Fahne,
verstummt auch ist das Angelusgeläut.
Der alte Fährmann löst das Tau vom Kahne,
womit er früh am Ufer es vertäut.

Wir hören noch den Alten irre lallen,
wenn dunkel unter uns die Wogen wallen.

 

Mai 21 23

Der arme Schlucker Verlaine

Membran, fatal gewölbte, Stirne, Schläfe,
wie zarten Tones Porzellan aus Meißen,
sie bebt, als ob ein süßer Hauch sie träfe,
ihr die Rocaille der Hüfte zu zerreißen.

Zerschlissnem Rokoko nahm Talmi-Flitter
der arme Schlucker, zitternd ein Verlaine,
hing spöttisch ihn in grüner Verse Gitter,
auf dunklen Wellen aber schwankten Schwäne.

Wie sie in bleichen Dunst des Monds sich lösten,
mußt auch der Wellen weicher Sang verstummen.
Der Dichter, den Absinth nicht mochte trösten,
hört eine Biene dumpf im Schädel summen.

Wo nehmen wir, die Öde zu begrünen,
den Duft des Sommers und das Lied der Bienen?

 

Mai 20 23

Das blasse Mal

„Schorf!“, spricht die ausgeheilte dumme Wunde,
es blättert ab wie Kalk, was einmal stach.
Doch kommt ein Regen, kommt die blaue Stunde,
fühlt die Erinnerung der Narbe nach.

Verstau die Trauerkarten, Beileidsspenden,
die Zimmer sind schon ausgefegt und kahl.
Nur wo die Bilder hingen an den Wänden,
zeigt die Tapete noch ein blasses Mal.

Wo atemlos die Zeile stockt, beschaue
die bange Lücke, klaffend wie ein Grab,
spring nicht darüber weg ins Leere, Blaue,
die Blume stummer Andacht streu hinab.

Die Narbe mag frivol ein Wort verdecken,
von süßem Reiz sind aber Schönheitsflecken.

 

Mai 19 23

Hoher Mächte Lehen

Die bleiche Frucht der ausgelaugten Erde,
Gesichter, wie in Folien verpackt.
Uns rührt nur an Hauch atmender Gebärde,
die Anmut hat, von eitlem Schwulst entschlackt.

Die aus dem Abgrund wirbeln, trübe Flocken,
sie schmelzen schon an Frühlichts Wimpernschlag.
Ins blaue Läuten abendlicher Glocken
taucht seinen Purpur ein der Sommertag.

Wir wollen sie im Turm der Nacht verriegeln,
Gespenster, blind geschabtes Traumgraphit.
Wenn Strahlen sich im Tau der Silben spiegeln,
hat Wärme das Gedicht und Kolorit.

Pigmente, Flammen, hoher Mächte Lehen,
wir bannen sie ins Bild, auf daß wir sehen.

 

Mai 18 23

Die leise Geste

Dem Andenken an Sibylle Lewitscharoff

Getropft in Musengrotten keuschen Ohren
verzückten Sanges Perlen, silberhell.
Versickert ist, verstummt der Anmut Quell
Halbwesen, uns, in Blech und Lärm geboren.

Kristall der Nacht erglänzte reinen Toren,
Inbild des Engels, Schneelicht in Pastell.
Nun trinken Dumpf-Gewitzte im Bordell
Absinth, aus Aschensud und Angst gegoren.

Mag uns die leise Geste Tauglanz gießen
in Herzen, wie vergessnen Rosen fahl,
wenn Sterbende sanft ihre Lider schließen,

und war ihr Beet aus Phlox und Veilchen schmal,
mit dunklem Singsang noch die Strahlen grüßen,
die abendrötlichen, mild ihrer Qual.

 

Mai 17 23

Schaum der Tritonen

Wenn im verfallnen Park uns Trommler quälen,
der Vetteln Tanz, die Bein und Schopf verknoten,
mag uns Verlaines Versmusik beseelen,
erweichen uns die Anmut weicher Pfoten.

Das Kind wird die gestanzte Form zerhauen,
von selbst zerfällt im Mund Gewöll aus Phrasen.
Homerisch wölkt Gesang auf fernen Auen,
wie Küsse schmeckt, was wir bei Sappho lasen.

Gilt deinem Hauch, daß sich ihr Auge feuchte,
dein leises Schwanken ihrem Duft nach Rosen?
Daß Ranken des Gefühls der Mond beleuchte,
mag blähen Abendwind die wurzellosen.

Tritonen, starr in Träume eingeschlossen,
beleben sich, sprüht Schaum auf ihre Flossen.

 

Mai 16 23

Taumelnd niederschweben

Fährt durch das Flüstern, laschen Laubes Lallen,
ins Blattgeranke herrisch eine Bö,
mag sich zum Klagechor das Wirrsal ballen,
ein Vogelruf schrill schwirren in die Höh.

Und die im Schmelz von zarten Knabenkehlen
sich winden um das lüsterne Idol,
sie rascheln dürr, vertrocknet-krumme Seelen,
burlesk springt auf der Schrein, im Innern hohl.

Du aber, Lied, magst taumelnd niederschweben,
der zarten Knospe gleich, vom Wind gepflückt,
noch eine Zeit mit dunklen Wellen beben,
bis dich der Mond zu blassem Schaum entrückt.

Bist einsam du, ein süßer Schmerz, verglommen,
sanft rauschend heißt die Tiefe dich willkommen.

 

Mai 15 23

Das Pochen süßer Angst

Ins Blaue lösten sich die Vogelrufe
und Wolkenrüschen, keck vom Wind zerpflückt.
Wir saßen auf des Weinbergs grüner Stufe,
in goldner Trauben Abendlicht entrückt.

„Willst du noch zur Kapelle aufwärtsklimmen,
zu schauen hoher Lilie Dämmerschein,
ob vor der Benedeiten Kerzen glimmen,
die Lippe kühlen dir am Marmorstein?“

„Ich will mit dir hinab ans Ufer gehen,
der Schilfe Schatten lichten bis zum Grund,
auf Wogen Schaum des Mondes sprühen sehen
und auftun deinem Hauch die Rose Mund.“

Die Kiesel knirschten unter unsren Schritten,
bis Wassers banger Sang uns hat umspült.
Als hätten Dornen dir ins Herz geschnitten,
hab ich das Pochen süßer Angst gefühlt.

 

Mai 14 23

Weichen Laubes Brausen

Wir fühlen weichen Laubes Brausen,
wenn barfuß übers Moos wir gehen,
es geht die Wipfel zart zu zausen
ein sommerabendlaues Wehen.

Daß späte Knospen auf sich tun,
du milden Dufts gestillt magst ruhn.

Wie trunken bebend Efeuranken
und Wolkenfransen lichtumwunden,
verschränken sich uns die Gedanken,
Mond glüht, was dunkel wir empfunden.

Daß noch die Träne rinne weich
auf deiner Wange lilienbleich.

Wir atmen Hauch entrückten Lebens,
und Wellen, die uns mit sich reißen
wie Gischt, sie rauschen uns vergebens,
wie er zergeht im Morgengleißen.

Daß noch ein Lächeln dich erhellt,
bis seiner Blüte Schaum zerfällt.

 

Mai 13 23

Sed non maturata

Kaum flügge, in die Wildnis schon entsprungen,
ein Freiwild fremder Blicke irrt das Reh,
es wähnt, der Schritt ins Freie sei gelungen,
und birgt in Wolfes Höhle sich vorm Schnee.

Und die Naive, nicht gereift an Meistern,
die Zeugnis geben von der Frucht der Qualen,
kann infantil nur wüste Farben kleistern,
nur das Gekröse dumpfer Unzucht malen.

Das Bild des Vaters Asche ohne Namen,
der Mutter Trost verschmortes Bratenfett,
hat sie vom Liebesakt verbannt den Samen,
den Spiegel kalter Lust gestellt ans Bett.

Wie könnte, abgeschabt von Aber-Pflügen,
in grauer Furche helle Saat sich wiegen?

 

Mai 12 23

Usancen und Nuancen

Der nackte Mann im Busch soll uns nicht scheren,
der auf dem Markt gilt rechtens für meschugge.
Nach Duft im Wortgerank laßt uns begehren,
bespötteln, daß man fade Phrasen schlucke.

Ob Winken, Lächeln, Handschlag: Konventionen
sind Lichtungen im Dämmerwald des Lebens.
Die Münze, abgegriffen von Millionen,
zählt auf die Hand uns Dichterlein vergebens.

Verliert der Geste Herkunft sich im Dunkel,
ist sie der Pfad, wo bunte Kiesel leuchten.
Tau weiter Auen sei das Versgefunkel,
daß sich im Sommermond die Augen feuchten.

Sind alt die Muster, die wir im Halbschlaf weben,
mag Dichtung sie mit frischem Flor beleben.

 

Mai 11 23

O träume, Freund

Will auch von Wipfeln Dämmerung schon fließen,
und nicken Schatten dir am Wegesrand,
magst du den stillen Abend still genießen,
das süße Rätsel lösen, das dich bannt.

Dort ragen Rosen auf, die träumend wanken
sanft hin und her im lauen Sommerhauch,
dort, wo das Blau sich schmiegt um Efeuranken,
ins hohe Gras sink hin und träume auch.

Als stiegen aus dem Schutt vergrabner Scherben
die Töne einer Glasharmonika,
als würden purpurn sich die Wolken färben,
der letzte Schimmer Himmel sagen ja.

O träume, Freund, wohl unter schwanken Lauben,
bis wach dich kitzelt Flaum von Turteltauben.

 

Mai 10 23

Die Wildnis wächst

Gemeines Kraut läßt sich es wohl gefallen,
daß Orchideen seinen Dunst erhellen.
Die Spatzen schert es nicht, wenn Nachtigallen
ihr grelles Zirpen in den Schatten stellen.

Dryaden, die in hehren Eichen hausen,
vom Blätterspiele sanften Hauchs umfächelt,
schaut scheel nicht an aus seinen tristen Klausen
der Maulwurf, wenn durchs Laubwerk Azur lächelt.

Doch Rohe sind, die Turteltauben jagen,
gereizt von Wonnegurren, Liebesflattern.
Auf daß die stillen Seelen ganz verzagen,
hört man des Fortschritts blinde Räder rattern.

Die dreist im Rosenhag der Hymnen wildern,
wird leisen Liedes Veilchenduft nicht mildern.

 

Mai 9 23

Südlich unsrer Schwermut

Vers-Knospen, die dem Tau sich aufgeschlossen,
nun Knorren, kahl, verkrüppelt unterm Strahle.
Wo blütenschimmernd weiche Wasser flossen,
quillt grauer Löß wie aus zerbrochner Schale.

Und die in Gläsern glommen, Aprikosen,
und dunkelblaue Beeren wilder Schlehen,
erloschen wie im Krankenzimmer Rosen,
verfaulten wie des Moribunden Zehen.

Du hast versäumt, den Vorhang aufzuschlagen,
die dumpfe Stirn im Morgenlicht zu kühlen.
Im Duft, den ferne Buchten zu uns tragen,
magst, Schwacher du, ein Wahres stärker fühlen:

Es rauschen südlich unsrer Schwermut Wellen,
sie schwappen, schlafen wir, bis an die Schwellen.

 

Mai 8 23

Alter Mann

Du hockst verschnupft in deinem Gartenhäuschen
und fühlst, halb zugeschneit, dich wie im Bann,
hörst Epitaphe wispern schon die Mäuschen,
meschugge bist du, kindisch, alter Mann.

Sie ruhen unterm Schnee, die hohen Namen,
die Purpurknospen bleichte Wintermond.
Wo sind die Sänger, die der Nacht entkamen?
Die Amsel nur, scheint’s, blieb vom Sturm verschont.

Du sagst, vergessen sei’s du, keiner klopfe
und liest mit dir im sechsten Buch Vergils,
nicht wecke Seelen, was ins Dunkel tropfe.

Doch treiben dir noch Ranken des Gefühls –
vielleicht, daß sie in fernen Sommertagen,
die Kinder pflücken, blaue Beeren tragen.

 

Mai 7 23

Wenn sich die Schatten längen

Hat Morta ihm schon einen Nerv durchschnitten?
Durchs Leben hinkt der Lebemann verzagt,
der einst beim Tanz das steile Bein gewagt,
auf wilder Ziege ist, ein Pan, geritten.

Und jener, der Watteau dir hat gedeutet,
mit Augen von Verlaine die eines Gilles,
er stochert, ein Dozent, im Bildungsmüll,
kein Bild hat sich dem Blinden mehr gehäutet.

Du sagst, wie abends sich die Schatten längen,
verschwimmt der Ferne Duft im Wermutgrau,
ein Husten kommt, kein Lied, aus Laubengängen.

Schon wahr, doch trüben Auges trank Monet
schon zitternd aus den Kelchen Mauve und Blau.
Ein Dichter schrieb „Adieu!“ noch in den Schnee.

 

Mai 6 23

Die Lauen und der Blitz

Der Erde Antlitz hat der Blitz gespalten,
mag milde schimmernd weiches Wasser wallen,
begeistend rinnen in des Ödlands Falten,
daß Weiden grünen, Knospen Purpur ballen.

Und Strahlen sind, die goldenen Szeptern gleichen,
wie nächtlich Seufzer, starren Sinn zu tauen.
Berühmen Männer sich der Sonnenzeichen,
sind deutbar sie im blassen Mond der Frauen.

Daß Frucht der Sinn der Blüte: Sie vergaßens’s,
die rohen Vers mit Fäulnisschwulst verkleistert,
die Traube Glut des Wortes, ach, wir lasen’s
bei Dichtern, die Dionysos begeistert.

Die Lauen wollen sich dem Blitz nicht beugen,
Chimären sind, was sie mit Nebeln zeugen.

 

Mai 5 23

Abschiedsstunden

Als wären sie mit goldenem Laub umwunden,
in das der blasse Mond ein Lächeln weht,
erscheinen heiter dir die Abschiedsstunden,
voll Schwermut aber, wenn er untergeht.

Im Tal geht hin der Strom, wohl unter Eichen
sitzt du allein auf einer morschen Bank,
das Herz ist grau, die Bilder auch, sie bleichen.
Weißt dunkler Erde du, noch lichter Höhe Dank?

Du sagst, es waren Pfade, blind geschlungen,
die dir den Atem ruhlos aufgezehrt.
Ach ja, doch hast du vor dich hin gesungen,
den bangen Blick ins Blaue noch gekehrt,

gedachtest du der Augen, demutfeuchten,
die einmal in dein Dunkel mochten leuchten.

 

Mai 4 23

Salz und Wind

Zerwühlt der schwarzen Erde mürbe Fülle.
Rein tönt der Höhe zart geflammtes Glas.
Ins Meergrau strömt das Blau im Übermaß,
daß es die Angst der Tiefe sanft verhülle.

Kristall glänzt auf der Birke Mädchenrippe,
der Wind spie es, der zuviel Salz geschluckt,
der Wind, in dem der Möve Schatten zuckt,
das Salz, das spröde macht die Menschenlippe.

Die Hütte, schwanker Halt im Grenzenlosen,
zur Schwelle kriecht müd hin der alte Pfad,
doch vor den Fenstern zittern junge Rosen.

Er kniet im Watt, das lose Netz zu flicken,
und fühlt ihr nach, des Schicksals dünner Naht.
Sie lächelt, wenn die Kleinen Nelken pflücken.

 

Mai 3 23

Musenzuspruch

„Mag dir der Strahl die fahle Stirn erwärmen,
die spröde Lippe salben Morgenhauch,
und siehst du nach den zwitschernden, den Schwärmen,
erzittern dein erschlaffter Flügel auch.“

„Betäubte dich das Tosen der Maschinen,
flieh in das Laub der Abenddämmerung,
und träum dich ins Gesumm Vergilscher Bienen,
hör Gräser schwirren von der Schrecke Sprung.“

„Mag wunders das Gedicht auf Wassern schweben,
hat still es sein Gefieder aufgetan,
die Leere füllen dir mit sanftem Beben,
im Augenblick des Monds ein trunkner Schwan.

Vom Ufer schaue schweigend es entschwinden,
im Flor der Nacht das lichte Bild erblinden.“

 

Mai 2 23

Die Tauben des Horaz

Me fabulosae Volture in Apulo
nutricis extra limina Pulliae
ludo fatigatumque somno
fronde nova puerum palumbes

Texere

Ein Märchen war’s, am Berghang Apuliens,
entflohn der Amme, bergender Schwelle fern,
vom Spielen müde, schlummernd schon, da
hüllten den Knaben mit frischen Zweigen

die Tauben

Horaz, Carmina 3, 4, 9–13

 

Wer sandte sie, mit Huld ihn zu umgürten,
den Knaben unter dämmergrünen Lauben,
dem schlummernden die hellen Turteltauben,
mit Lorbeer ihn zu hüllen und mit Myrten?

Ein Schaudern überkommt die treuen Hirten,
wenn Wölfe ihnen zarte Lämmer rauben,
ihm wölbten märchenhaft sich Himmelsgauben,
daß Stürme seine Träumerei nicht wirrten.

Du sagst, es waren gnädig die Kamenen,
die schon am Kind das Wunder offenbaren
und bangen Sinn an Wolkensäulen lehnen.

Wer aber scharrt den Herzen, müden, grauen,
hinweg die Schwermut, welkes Laub von Jahren,
worunter sich die stummen Schreie stauen?

 

Siehe auch:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jakob_Philipp_Hackert_-_Waldlandschaft_mit_dem_schlafenden,_von_
Tauben_behüteten_Knaben_Horaz_-_2237_-
_Staatliche_Kunsthalle_Karlsruhe.jpg

 

Mai 1 23

Der umwickelte Nerv

Wie sich den Nerv das Leben eingewunden,
die Sinne aufgepfropft wie edle Reiser,
dem dunklen Stamme wimpernscheue Weiser,
zu zählen volle ihm und leere Stunden.

Vom Aug läuft die Erregung durch die Schnüre
zu wachen Fasern, die befeuert zucken,
und Hände greifen, Zungen schnellen, schlucken,
daß sich das Bild im Labyrinth verliere.

Uns aber hemmt ein Holdes am Gebilde,
es stumm in Eingeweidenacht zu schlingen,
wir wickeln um den Nerv der Anmut Milde

und lassen leise ihn im Leeren schwingen,
als Saite hellen Fühlens zu ertönen.
O süßes Lächeln um den Mund der Schönen.

 

Apr 30 23

Das Brausen ferner Ozeane

Zum Quell des Lichtes sage, laß uns fließen.
Und bist du auch ein Rinnsal nur, ein schmales,
gelangst du noch zum Dämmergrund des Tales,
den letzten Schaum den Veilchen hinzugießen.

Zum Blatt der Eiche sage, laß uns rauschen.
Und mischst du Flüstern bloß in Jubelchöre,
erzittre tief, als ob die Dryas höre,
wie sich von deinem Hauch die Schatten bauschen.

Und ward die Quelle stumm, vergilbt die Blätter,
du weißt auf kahlem Karst dir keinen Retter,
das Brausen fühl von fernen Ozeanen,

die deinem Zagen lichte Wolken senden,
dir Tropfen, süß zerspringende, zu spenden,
und Funken streuen auf erloschne Bahnen.

 

Apr 29 23

Umstrickt

Wir sind umstrickt von Schlingen, unsichtbaren,
ein Wulst, aus Worten, Gesten wirr gewunden,
und streben wir, im Freien zu gesunden,
zieht ein Gespenst zurück uns bei den Haaren.

Im Zwielicht will sich uns nicht offenbaren,
was hoher Mut an blauer Bucht empfunden,
uns fliehen leergeträumt die toten Stunden,
verblüfft zuletzt, daß wir am Leben waren.

O Traum, daß wir sie wieder uns gewännen,
wo Dämmerung aus Gräsern Stille flicht,
die Quellen, Ursprungs Sinn uns zu benennen.

Als ließe weicher Wasser Abendlicht
einander Aug in Auge uns erkennen,
ein Hauch sich Worte winden ins Gedicht.

 

Apr 28 23

Aufgelassene Volieren

Was sie ergrübelt, ausgedacht, geplant,
wie sie die Fülle zwischen Ufer pressen,
der Schaum, die Welle haben es vergessen,
kommt Überfluß von Wettern ungeahnt.

Daß sich durch Urweltdickicht Zukunft bahnt,
titanisch hat der Feuergeist gefressen.
Gift der Dryade, die im Laub gesessen,
zersetzt den Teer, wie Pan es angemahnt.

Sperrst, Dichter, du das Zwitschern in Volieren,
gestanzter Meinung eng geflochtne Gitter,
verstummt es über Nacht, zerpflückt die Schwingen.

Daß fette Öle nicht den Flaum versehren!
Den Fittich heb in Blitze, ins Gewitter,
und laß die Winde, laß den Regen singen.

 

Apr 27 23

In erwachten Auen

Die Landschaft hüllt sich noch in keuschem Flaum,
auf den mondbange Halme Tropfen säen,
schon schüttelt Schluchzen sie und Flammen nähen
geblümte Muster auf den grauen Saum.

Ein Rauschen ruft den Wassern: „Seufzet Schaum,
den Wolken gleich, die sich ins Blaue blähen.“
Der Herr des Lichts den Schatten: „Ich will mähen,
die Kinder Floras brauchen Atemraum.“

Wir wollen durch erwachte Auen gehen,
was wir uns sagen, würze Wohlgeruch,
die stille Rosenknospe schwanke süß.

Wir wollen eins im Aug des andern sehen,
ich breite dir des Liedes Strahlentuch,
du mir verschwiegner Monde Dämmervlies.

 

Apr 26 23

Die Buchen sind nicht mehr

Du fühltest wacher noch die Stirn vom Tau,
da wir im Moos an hohen Buchen lehnten.
Und als die Stunden sich wie Dünen dehnten,
ward Dunst das Bild in somnambulem Blau.

Gezwitscher wölkte uns ins Abendrot,
und aus den Lauben tropften weiche Laute.
Die Einsamkeit, umrankt vom Bitterkraute,
begnügt sich mit des Zuspruchs trocknem Brot.

Du hast den Garten noch geschaut im Blust,
wenn fern schon winkten Tulpen und Violen.
Uns ward das Grün, das heimische, gestohlen,
fremd schimmert eins noch aus papiernem Wust.

Die Buchen, die uns rauschten, sind nicht mehr,
die frühen Gärten Wildnis, öde Brachen.
Uns blieb der Verse Schaum auf trüben Lachen,
voll Lärm der Tag, der Schrein der Nächte leer.

 

Apr 25 23

Am Krankenlager

Das Lächeln, das mir leuchtete, erlischt,
die Augen aber, die ins Leere stieren,
durch mich hindurch, sind die von müden Tieren,
Wehglanz ist ihrem Dunkel beigemischt.

Die Hände, die ich oft geküßt, behaucht,
mir auf das Herz gelockt wie sanfte Katzen,
sie zittern wie vor unsichtbaren Fratzen
und sind in ihre Höhle weggekraucht.

Die zarten Halme, die geteilt sich leicht,
daß Tropfen Taus an ihnen niederflossen,
die Locken, die sich um mein Antlitz schlossen,
hat über Nacht ein bittrer Reif gebleicht.

Die rote Knospe ist, sie ist zerpflückt
wie von des Sturmes Küssen, schluchzend-rauhen,
der Duft verflog, der feuchte Schmelz der Frauen –
o Hauch, der graue Herzen noch entzückt!

 

Apr 24 23

Unglückliche Mänade

Der Himmel fahlt, Vergessenheitstürkis,
die Häuser, weißer Würfel Durcheinander,
Eroten, Knospen, blassender Mäander
auf einem eingesunkenen Tempelfries.

Die Stirne blank, die Schultern kalkgebleicht,
als schwebte sie auf Wellen, unsichtbaren,
ein Geisterhauch in losen Mädchenhaaren,
das Auge feucht, vom Blau des Meers erweicht.

Das Kleid gerafft, die Ärmel hell gebauscht,
mag sie, ein abgefallenes Blatt, hochheben
die Sommerabendluft, sich preiszugeben
entzücktem Wasser, das schon näher rauscht.

Sie weiß nicht mehr, ob sie dem Dorf entstammt,
wo alte Frauen jetzt zur Andacht gehen,
sie könnte, was sie beten, nicht verstehen,
ihr eignes Herz nicht, das der Gott entflammt.

Sie weiß nicht, wer sie in die Fremde zieht,
daß sie vertrauter Hände Spiel vergesse,
des mondgeküßten Lakens Traumesblässe,
sie fühlt nur, wie ein Äußerstes geschieht.

Schon wogen Wipfel, weich mit Dunst bespannt,
die Äste winden sich, gefleckte Schlangen,
hier war es, wo einst Nachtigallen sangen,
nun sind sie fort, vom Feuergeist verbannt.

Umsonst sucht sie die schwesterliche Schar,
zu schweifen auf den dämmergrünen Auen,
in dunklen Augen schön das Bild zu schauen,
wie ihr es wiederkehrt, der Seele Jahr.

Wohin sie auch die Rätselflamme trägt,
sie frißt sich tief und tiefer durch die Venen,
nur eines löscht das geisterhafte Sehnen –
o Meer, das über sie das Grabtuch schlägt.

 

Apr 23 23

Die Botschaft der Bäume

Mit Wolken reden sie und atmen Dunst,
sie saugen aus der Erde Glanz und Stille –
uns ist, als ob aus grünem Dunkel quille
ein Morgenlied, o himmlisch-hohe Gunst.

Sie weisen uns den Sinn der Lebenszeit –
daß wir sie duftlos-dörrend nicht vertrauern,
begeistet uns ihr wild und mildes Schauern,
die Frucht, die süßer glüht im Dämmerkleid.

Schmeckt bitter auch, was Mondes Kelch entfließt,
die mütterlichen Tränen, die sie trinken –
wir knien hin, wenn Flammenschwärme sinken,
sich ihre Nachtvoliere um sie schließt.

Doch schöner kosten wir den weichen Laut –
wenn von den Blättern laue Tropfen fallen,
ist uns, als hörten wir Euterpe lallen,
des Waldes Freundin und des Dichters Braut.

Und starren öde sie, des Laubs entblößt,
mag über Nacht ein Festgewand sie schmücken,
wenn Rauhreif näht und Flockenrüschen glücken,
von Harz betupft, das sich aus Falten löst.

Haut aber um sie eine blinde Hand,
ruht noch ihr Schatten auf der lichten Leere –
uns ist, als ob heillos den Schlaf versehre
das Lied, das mit dem Laub der Bäume schwand.

 

Apr 22 23

Die schwarzen Tränen der Mänaden

Der Wolf hat, Hirte, dir im Morgengraun
das Mutterschaf, das Lamm gerissen.
Du aber, Dichter, mußt die zwei vermissen,
die Flöte und der Sanftmut Hüter, Faun.

Wer hat den Herrn der Herden dir geraubt?
Es war kein Anschlag von Dämonen,
es quoll ein Rauch aus Todeszonen,
der Hain des süßen Wehlauts stand entlaubt.

Die Laus hat, Winzer, dir im Sonnendunst
die Reben Blatt für Blatt zerfressen.
Du aber, Dichter, mußt die zwei vergessen,
den hellen Rausch, den dunklen Gott der Kunst.

Wer hat das Bild des Bacchus dir geschwärzt?
Es nahm an Blitzen nicht, nicht Regen Schaden,
es waren schwarze Tränen der Mänaden,
dein Kaltsinn hat sich ihre Gunst verscherzt.

 

Apr 21 23

Das neu ergrünte Blatt

Ein Zweig von der Kiefer des No-Spiels

Birg mich beim hohen Ahnenschrein,
nah bei der Kiefer grünem Schimmer,
daß ich es höre jetzt und immer,
das Rauschen hell im dunklen Hain.

Und wird verwischt mir die Gestalt,
vom Zeichner Wind, vom Maler Regen,
reck ich die dumpfe Stirn entgegen,
daß sie zersprenge Sturmgewalt.

Doch schrumpfe ich zu einem Blatt,
das eines Dämons blinde Schritte
verscheuchen aus der leeren Mitte,
schlaf ich im Schatten, zart und matt.

O Schlaf, wie einer Hölle Schacht,
worin Verzweifeln und Verzagen
an Wurzeln und an Herzen nagen,
o Schlaf in sternenloser Nacht.

Wird einmal wohl das Dunkel licht,
wenn weiße Blüten niederschneien,
als wäre noch ein Benedeien,
wo alles stand schon im Gericht?

So grünt ich neu, es höb empor
ein Stengel mich zu Blattgeschwistern,
mit ihnen den Refrain zu flüstern,
bis wieder Duft entstieg dem Flor.

 

Apr 20 23

Die Metamorphose der Blüten

Den Geistern des No-Spiels zugeeignet

Weiße Blüten, die ins Leere fallen.
Weiße Blüten, Schnee auf Schnee.
Zwitscher, die im Frühlingsdunst verhallen.
Weiße Blüten, Schnee auf Schnee.

Rote Blüten, die sich flammend ründen.
Rote Blüten, Glut um Glut.
Schreie, die im Schilf des Sommers münden.
Rote Blüten, Glut um Glut.

Blaue Blüten, die Entrückte pflücken.
Blaue Blüten, Halm für Halm.
Seufzer, die im Rauch des Herbsts ersticken.
Blaue Blüten, Halm für Halm.

Weiße Blüten, die im Abgrund strahlen.
Weiße Blüten, Schnee auf Schnee.
Verse, die in Wintermonden fahlen.
Weiße Blüten, Schnee auf Schnee.

 

Apr 19 23

Der gerettete Dichter

Wie Rehe, die im Zwielicht grasen,
zieht fort von grellem Tand dich Scheu.
Welkt es auch in den irdnen Vasen,
du bleibst dem Ephemeren treu.

 

Wer war’s, der dich dem Sog entwand,
in dem wir uns im Kreise drehen,
die Worte uns vom Munde wehen
wie Wüstenwindes feiner Sand?

Hat dich der Gott mit Flügelschuhn
in blauer Nächte Lied gehoben,
Euterpes Lächeln dich umwoben,
im Moosgeschluchz mit ihr zu ruhn?

Magst schauen du, von Kuß zu Kuß,
wie ungeküßt wir blöde hampeln,
des Sturmes Puppen geistlos strampeln,
am Totentanz würz den Genuß.

Wenn uns der Malstrom gurgelnd schluckt,
ist, Dichter, dir im Azur schweifen,
dein Lorbeer darf am Tauglanz reifen,
der rinnt, wenn Samtnacht-Wimper zuckt.

 

Apr 18 23

Das weggeätzte Inkarnat

Ätzt man vom Wort das Inkarnat,
starrt noch im Nebel ein Gerippe,
ein Antlitz ohne Aug und Lippe,
des Sinnes aufgerissne Naht.

Es ist, was stumm umwogt den Traum,
Gezweig, der Furche Schmerz entsprossen,
sie kühlen, die herabgeflossen,
die Tropfen dir die Wunde kaum.

Die Hörner brach man von der Stirn,
hieb ab den Huf dem Ungeheuer,
es seufzt die Flöte aus im Feuer,
die Hirten zog an blauem Zwirn.

Die Sense hat im Schilf geblitzt,
der Spiegel brach, das Lied fiel trocken,
es bleiben, Dichter, dir nur Brocken,
woran bisweilen Bluttau schwitzt.

 

Apr 17 23

Verblassende Vignetten

Die Alte zerrt der Hund noch ins Revier,
und wo er tollt, weilt sie wohl unter Ranken
in wolkig knospend traurigen Gedanken,
bis ihr aufs Knie die Pfote legt das Tier.

Die Junge sitzt auf dem bemoosten Stein,
trinkt Veilchenduft aus unversandten Briefen,
ihr ist, als ob sie ferne Glocken riefen,
sie geht, bis sie verstummen, geht allein.

Der Knabe schleudert Kiesel auf den Fluß,
und wie sie weiterspringend Schaum aufsprühen,
will er zu Inseln, schilfumgrünten, fliehen,
doch sinken sie, wie er, der heimgehn muß.

Der Dichter aber öffnet, grau und müd,
das Fenster, und er streckt die tauben Hände,
ob er an Tropfen weiche Rhythmen fände,
ihm Regen sänge noch das trunkne Lied.

 

Apr 16 23

Der entflohene Gott

Du haust in Städten nicht, o Faun,
und die betäubt vom Markttumulte,
zieht leis kein Strom zu deinem Kulte,
daß sie am Wehhauch sich erbaun.

Der Öde des Asphalts entflohn,
wo Ziegenhufe widrig dröhnen,
folgst du den braunen Sonnensöhnen,
den Hirten in der Erde Fron.

Gen Ost zog ins Nomadenland
der Gott, aus Birken, weichen Weiden
der Flöte Zauberrohr zu schneiden,
wo Glanz er noch in Augen fand.

Den Geist der Andacht will er gleich
dem Blütenschaum auf dunklen Wellen,
die Myrte legt er auf die Schwellen,
vom Liebestau des Abends bleich.

In leerer Hinterhöfe Nacht
scheint geisterhaft herabzuquillen
ein Ton, das wunde Herz zu stillen –
fern hat ein Waldkauz nur gelacht.

 

Apr 15 23

Jahreszeiten der Seele

Verwobene Schatten, Büschel, blaß bestäubt
vom Schneegestöber fernwehkranker Pollen,
geblasen aus geplatzten Liebesknollen,
du irrst umher, schneeblind, du duftbetäubt.

Und zittert, blasse Sichel Schmerz, der Mond,
durch Rosenranken, wo du ihr’s gestanden,
hörst fern die dunklen Wogen du noch branden,
die weher Seufzer Abdruck nicht verschont.

Bang tasten Wimpern, Fühler, nachtbehaart,
durchs Knistern roten Blatts, Schlaf, Harz der Kiefer,
und Wärme strömt der Maus am Weinbergschiefer,
Herbst hat noch sanfte Glut dir aufgespart.

Schließ ab, an die vereiste Scheibe pocht
verzagend nur die bleiche Hand der Trauer,
aus blauem Krug trink milden Abschieds Schauer,
es flackert schon der abgebrannte Docht.

 

Apr 14 23

Die jähe Wendung

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Kann man das noch sagen: „Schwarze Romantik“, „Schwarze Madonna“, „Schwarze Anthropologie“, oder muß sich auch hier der alte weiße Mann die fahle Asche des Sünders aufs Haupt schütten?

Soweit er Tier ist, ist der Mensch mehr als Tier: Über-Tier, ein Monstrum.

Die Gewalttat, die Übeltat, der Mord – Kehrseiten der Fähigkeit zur Güte.

Und umgekehrt, nicht die gelähmte, die zurückgehaltene Hand rechnen wir dem Jähzornigen als Verdienst zu.

Tiere morden nicht, kennen kein Gesetz, bedürfen keiner mosaischen Tafeln.

Vom Guten, Wahren, Rechten wissen wir nur im Licht unserer Disposition und Fähigkeit zur Übeltat, zur Lüge und Gesetzesübertretung.

Vom Sinn reden wir wie Bewohner einer Insel, die rings von der Meeresbrandung des Unsinns umtost wird.

Das Tier gehorcht dem Instinkt, der Mensch dem Befehl; aber Instinkte sind anders als Befehle kein Teil eines Sprachspiels. – Die Redeweise vom Instinkt, dem das Tier gehorcht, zählt zu den unausrottbaren Anthropomorphismen in der Beschreibung tierischen Verhaltens.

Wer nicht hätte lügen können, hat nicht die Wahrheit gesagt.

Wer nichts hätte zerstören können, hat nichts erschaffen.

Insekten wie Bienen und Termiten errichten ihre erstaunlichen Bauwerke nach raffinierten genetischen Programmen; nicht anders Vögel ihre Nester. Der griechische Tempel und die römische Villa aber sind nicht nur Behausungen für Götter und Menschen, sondern anders als die Bauten der Insekten und die Nester der Vögel Teil einer symbolischen Ordnung.

Die Illusion des Traumwandlers, auf sicherem Boden zu gehen, läßt ihn nicht abstürzen.

Der Vers lichtet den Wald der Sprache, ein fremder Odem fällt aus den dunklen Wipfeln, die Halme der Zeichen erzittern.

Der Klebstoff der unwillkürlichen Assoziationen, mehr noch der konditionierten Bildverknüpfungen, läßt das Denken, wie die träge auf den Schiffsplanken schleifenden Riesenfittiche des Baudelaireschen Albatros, am Boden der Trivialität haften.

„Sie war schön und unglücklich.“ – Die Konjunktion „und“ kann eine Brücke sein, aber auch eine gefährliche Abzweigung.

„Sie war unglücklich, aber lächelte.“ – Die Konjunktion „aber“ kann wie eine unübersteigliche Hürde auftauchen, aber auch wie ein Wegweiser in unbetretenes Gelände.

„Aber. Ein Wegzeichen Hölderlins“ – diese sprachphilosophische Abhandlung ist noch ungeschrieben.

Pseudo-Dichter, die durch ungewöhnliche Wendungen, bizarre Metaphern-Tattoos, semantisch unauflösbare Knoten oder syntaktische Holzwege auffallen, Aufmerksamkeit erregen, provozieren wollen.

Die jähe Wendung hat ihren Ernst nur, wenn sie keine Willkür, kein eitler Exhibitionismus zur Schau stellt.

Die jähe Wendung, der schneegetränkte Föhnwind, der das semantische Rankenwerk erschauern läßt oder zerreißt, ein dumpfes Gurren, das den Frühnebel noch trüber scheinen läßt, der Schlag an die Pforte, wenn kein Gast, kein Bote mehr erwartet wird.

Erst wenn das Ticken der Uhr in der Dämmerung, das leise Tröpfeln des Wasserhahns jäh verstummt, nehmen wir es allererst wahr.

Erreichte er auch endlich die Schwelle, klopfte er an und beträte der Bote das dämmerige Zimmer mit der stickigen Luft, er beugte sich wohl nieder, wüßte aber dem Sterbenden nur eine Banalität ins Ohr zu flüstern, zu der sich die erhabene Botschaft im öden Brausen des Winds auf seinen langen Wanderungen entleert hat.

Der Dichter, der sich zum heilig-nüchternen Wasser der Bandusischen Quelle gebeugt, sich in einen Schwan verwandelt hat, um über die Grenzen der Länder und Völker zu fliegen, der glaubte, sich ein Denkmal, dauernder als Erz, errichtet zu haben, wird nicht einmal mehr, wie er befürchtete, von knöchernen Pädagogen müde feixenden Pennälern zur Schullektüre aufgenötigt.

Er sagte irgendetwas Beiläufiges, Marginales, aber mit einem vipernhaften Züngeln, das sie bewog, mit ihm das Bett nicht mehr zu teilen.

Das graue Haar, du magst es tönen, aber das ergraute Herz …

Das wieder und wieder aufgeblüht, das Bild der Rose ist alt, aber ihre Flamme scheint heute wie für einmal und immer entzündet.

Wenn die Kette der Verse reißt, rollen die Perlen hierhin und dorthin. – Ein Fremder findet noch eine, die im dämmernden Grase schimmert, im nächtlichen Moos, im Dung.

Unglücklich im Paradies.

Kurz nach der Geburt werden dem Säugling Aufzeichnungschips und Impulsgeber ins Gehirn implantiert, die jede Regung festhalten, erwünschte Motive und Handlungen durch Serotoninzufuhr belohnen und alle unerwünschten mittels Stressverstärkern und Depressiva bestrafen.

Ins Sprachzentrum werden semantische und syntaktische Katalysatoren eingepflanzt, die ungewöhnliche oder vom Normgebrauch abweichende Wendungen blockieren, erlaubte metaphorische und metonymische Verbindungen verstärken und zur Bildung von Klischees anregen.

Die digitale Weltherrschaft der Phrase.

Glücklich, wer redet, wie alle reden, denkt, wie alle denken.

Wer in entscheidenden Momenten und an gefahrvollen Wegscheiden, statt in den Singsang der Medien einzustimmen, schweigt, gilt als verdächtig und wird einer verschärfter Beobachtung unterzogen.

Das Gesetz gilt für überflüssig, der Abweichler bestraft sich selbst.

Die Polizeiwache ist ins Rückenmark gesunken.

Wie soll man, um mit Max Weber zu sprechen, die Verwaltung der allzu Vielen rationalisieren, ohne ihre Nervensysteme zu vernetzen?

Wer das Netz verläßt, begeht Suizid.

Schachfiguren, die spontan und willentlich zu handeln glauben, wenn die Spieler ihre Züge machen.

Zunächst werden noch Nachkommen aufgrund eugenischer Selektion der Gameten im Labor gezüchtet; dann ersetzt man auch die darwinistisch zufällige Mutation bei der Befruchtung der Eizelle durch eine algorithmisch zweckgerichtete.

Zunächst fördert man noch mittels weltanschaulicher Propaganda und pädagogischer Indoktrination die physiognomische und psychologische Verflachung und Einebnung der Geschlechterdifferenz; schließlich kann auf die Weitergabe der DNS in geschlechtlich definierten Körpern ganz verzichtet werden: Das nachgeschichtliche Zeitalter der miteinander vernetzten Neuromaschinen hat begonnen, in dem die biologische Zeugung durch eine Art algorithmisch gesteuerter Nervensprossung ersetzt wird.

Genetische Auslese und Säuberung durch konkurrierende Auswahlsysteme, Kriege und Genozide erweisen sich als Anachronismus, wenn sie durch die gezielte, aber automatisierte Abschaltung von Nervenzentren abgelöst werden.

Gott nennt man, was in den Nervenbahnen über alle Grenzen hinweg von Netz zu Netz als nervöser Strom fließt. – Wer mit sich selber spricht, gilt als blasphemischer Netzverräter.

Es ist sinnlos, von Entfremdung zu reden, wenn mit der Eigenheit des je eigenen Denkens, Fühlens und Sprechens der Begriff des Eigenen aus der Sprache verschwunden ist.

Das Eigene, was wir einmal Seele nannten, ist die Beimischung der spezifischen Empfindung des Atmenden in den Atemstrom, den er, unwissend, wohin er entweicht, redend, schweigend, träumend der Welt wie einen urtümlichen Tribut entrichtet.

Der Widerstand gegen die Enteignung kann sich in jähen Wendungen kundtun, etwa sich der peinlichen Frage zu entziehen und zu schweigen oder wie der Dichter Preislieder anzustimmen, wo rings die Flüche und Verwünschungen, die Klagen und Selbstanklagen wie Nesseln und Melde ins Kraut schießen und das Rankenwerk der Phrase den edlen Knospen das Licht nimmt.

Die jähe Wendung ist kein dialektisches Umschlagen, vom Begriff zum Gegen-Begriff, vom Wort zum Widerwort. Die Welle zieht sich zurück, das Watt dehnt sich vor uns aus und gibt den Blick auf die zurückgelassenen Bewohner der Tiefe frei, ferner und ferner verebbt das Rauschen. Doch hier ist kein Mond, dessen Wanderung uns die Rückkehr der Welle in Aussicht stellte.

 

Apr 13 23

Zerschnitten von der Sonnenklinge

Und seufzt das Gras, vom Hauch gerührt,
will auch das Wasser heller brausen,
die Blüte streift vom Saum das Grausen
und schauert, wenn den Strahl sie spürt.

Wie tief war unterm Schnee der Schlaf,
Kristall, Dianas stummer Spiegel,
es schmilzt, ein überflammtes Siegel,
das Lied, das Sonnenodem traf.

Tropft dumpf der Tau vom Blatt der Nacht,
will auch das Wasser dunkler schäumen,
der Knospe graust vor kahlen Räumen
und birgt im Schrein der Düfte Fracht.

Wie Lerchenflug zum blauen Grund,
Gesang, er ward, der Anmut Schwinge,
zerschnitten von der Sonnenklinge,
ein Flaum klebt noch am Schattenmund.

 

Apr 12 23

Sich leise öffnende Stanzen

Wär noch ein Pfad, auf weichem Gras zu gleiten,
der uns durch Rebenlauben höher führt,
daß wir ins Dämmerspiel von Ranken schreiten,
schon hat der Trauben Tau dich angerührt,
ich aber will den blauen Samt hinbreiten,
der dem azurnen deines Augs gebührt.
Wär noch ein Pfad, der uns, vom Graun umfangen,
zur Heiterkeit des Lichtes ließ gelangen.

Wär noch ein Licht, von stiller Hand getragen,
zu leiten uns aus einem Labyrinth,
wo Schatten nicht, nicht Worte Wurzeln schlagen,
sie wehen, Traumgespinste wirr im Wind,
wie könnte Blüten treiben, was wir sagen,
wie könnte sehen, wer von Tränen blind.
Wär noch ein Licht, das uns, die irrgegangen,
zum süßen Lied der Quelle ließ gelangen.

Wär noch ein Quell wie im Sabinertale,
wo tief die Eiche spaltet auf den Stein,
daß ihm der Nymphe Flimmercharme nicht fahle,
geopfert hat Horaz das Blut, den Wein,
und sprudelnder die moosumgrünte Schale
den Glanz ihm gönnte, Vates uns zu sein.
Wär noch ein Quell, wo sanfte Musen sangen,
wir knieten hin, den Heiltrunk zu empfangen.

 

Apr 11 23

Verwitterte Farben

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Weniger Drüse, mehr Analyse.

Wie tief der mystische Sinn der offiziellen Kirche gesunken ist, gewahrt man an der ubiquitären verächtlichen Entfernung des Lettners, der die heilige Handlung der Transsubstantiation vor den neugierigen Blicken der Gaffer geschützt hat.

Je mehr Östrogen, desto weniger Esprit. – Freilich das Umgekehrte gilt für Testosteron nicht.

„Deutsche Physik“ – ein Schlagwort der nationalen Sozialisten, das die Dummheit dieser Leute schamlos ausplaudert. – „Feministische Studien“ – ein Schlagwort der internationalen Sozialisten und Weltverbesserungschickeria, das sowohl von der Dummheit als auch der Realitätsverkennung kleingeistig-aufgeputschter Ideologen zeugt; beides dient dazu, den wissenschaftlichen Unwert solcher Pseudo-Forschungen zu bemänteln.

Das Gesicht, das sie nicht haben, können sie auch nicht verlieren. – Daher ihr Draufgängertum, ihr Zynismus, die Clownerie noch bei allen scheinbar ernsten Weltuntergangsrettungsunternehmen.

Idioten der Sprache, die man zu ihren Hütern auserkor, bezeugen ihre sprachgeschichtliche Unbildung, wenn sie „Greuel“ und „Quentchen“ mit -ä zu schreiben dekretieren.

Der Dichter sieht in der Narzisse den schönen Jüngling Narzissus, der sich selbstgefällig im Wasser spiegelt; er feiert die Eitelkeit einer Zerstreuung, die sich zum Höchstmaß der Selbstvergessenheit steigert, um im tragisch-schönen Untergang zu gipfeln.

Was Zahlen sind, wissen wir nicht, aber wir rechnen mit ihnen; und wenn wir uns verrechnen, stürzt die Brücke ein.

Die Religion der Natur, die Anbetung der Mutter Erde, ist der letzte sentimentale Firnis auf dem Bild, doch es zeigt schon fragwürdige Risse, Zeichen apokalyptischer Verwitterung.

Ein verwittertes Bild von Leonardo, wie sein letztes Abendmahl, läßt sich intuitiv und technisch leichter rekonstruieren als ein Tintoretto oder Raffael.

Wenn wir die Zeit nach dem Muster des Raums zergliedern, sie nach unten brechen oder nach oben erweitern, erreichen wir nie die Abszisse der Gegenwart oder die Ordinate der Ewigkeit.

Wenn wir die Zeit nach dem Muster der euklidischen Geometrie beschreiben, verschwindet der Augenblick in einem ausdehnungslosen Punkt.

Die Wildrose der natürlichen Sprache haben Generation um Generation geschickte und geniale Gärtner zur wundersamen Rosenpracht der hohen Dichtung in der sublimen Mannigfaltigkeit von Formen, Farben und Düften emporgezüchtet.

Manchmal, wenn wir die Geste einer bescheidenen Huldigung wagen, ziehen wir das schüchterne Veilchen der stolzen Rose vor.

Der Garten ist verwildert, die Rosenblätter von Raupen zerfressen; der Gärtner liegt, von Rotgardisten als Verkörperung der alten hierarchischen Ordnung erschlagen, im Gras, eine Maus nistet in seiner Jackentasche.

Daß sich die schwarze Seele in den französisch-afrikanischen Dichtungen der Négritude, der Stimme einer Ella Fitzgerald und der Trompete eines Luis Armstrong offenbart – das verstehen sie vielleicht noch. Aber daß sich in den Dichtungen eines Pindar, Dante oder George, in der Musik eines Josquin Desprez, Wagner oder Bruckner die weiße offenbart, das ist ihnen geradezu unaussprechlich, ein Anathema und ein Greuel des Denkens.

Das Gute ist das Edle; die hohe Dichtung entspringt dem Geist des Adels, so die Hymnen Pindars, die Oden Sapphos und die Lieder der Troubadours.

Goethe hatte immerhin noch die Gebildeten des Hofs zu Weimar als mehr oder weniger andächtige Zelebranten und Ministranten oder Statisten; George mußte sich in der schwülen Atmosphäre des Fin de Siècle eine künstliche Hofgesellschaft erschaffen und erdichten.

Der Ackergaul und das Zirkuspferd, das Arbeitslied und das Ritornell; der Löwenzahn und die Lilie, der Gassenhauer und die Ode. – Die Genealogie der dichterischen Formen aus dem Geist der ästhetischen Zuchtwahl und der kulturellen Pfropfung ist noch ungeschrieben.

Freilich, ohne die Wildform keine hochgezüchtete. Und die Gefahr der Degeneration steigt mit dem Grad der Verachtung der Züchter und Gärtner.

Was ist römisch an den griechischen Odenstrophen des Horaz? – Das Baumeisterliche in der Fügung und Stufung, der Mörtel der Ironie, die Ringkomposition.

Die Schreckbilder der Chimäre und der Medusa, das unterirdische Beben und Grollen der Titanen und Giganten, das Schattenreich des Acheron sind die spiegelbildliche Kehrseite der schönen plastischen Gestalten von Heroen und Göttern, des Gesangs der Quellen, Nymphen und Musen, des rosigen Schimmers im Gipfelschnee des Olymps. – Das eine bricht regelmäßig ins andere ein, im trunkenen Tanz und Johlen der Mänaden, ja, es strömt wie Blut und Milch ineinander, vermischt und überlappt sich wie das Röcheln der Sterbenden und der Gesang der Nachtigall in den Chorliedern der Tragödie.

Dreht man den Teppich der Dichtung um, gewahrt man anstelle der filigranen Muster und von ihnen umrankten Traumgestalten ein Gewirr scheinbar blind laufender Fäden und ein Chaos löchriger Netze.

Nur ein dummer Zeitgeistgelehrter tut irritiert ob des Anfangs der Ars poetica des Horaz, als könnte die hingetuschte Zeichnung einer paradoxen Mißgestalt als Einspruch gegen die klassischen Maße und Gewichte der Lehre des Meisters gelten; sie ist kein Einspruch, sondern ihr artistisch mit leichter Hand entworfenes symmetrisches Kehr- und Kippbild.

Die Chimäre gehört zur klassischen Ordnung wie der hinkende, rußige Hephaistos zur glänzenden Anmut seiner Gattin, wie der Pestpfeil des Apollon und der Liebespfeil des Eros, wie Achill, der einsam in seinem Zelt zarte Lieder singt und löwenhaft im Feld die Gegner zerreißt, wie der Adler zu Prometheus und die Sphinx zu Ödipus.

Es war die gipsern-frigide Tünche eines anämischen Schulmeister-Humanismus über der Wahrheit des Mythos, die Nietzsches Hammer abgeschlagen hat; den zarten Rissen und verräterisch pulsierenden Härchen auf der Haut der Dichtung einer Sappho, eines Vergil oder Horaz nachzutasten und dem rätselhaften Delta der Venen, das ihr weiches Inkarnat durchschimmern läßt, nachzuspähen, fehlte dem atemlosen Empörer die Geduld.

Das Haus der Sprache schwebt kopfüber in der Luft.

Einer nennt einen Grund, ein anderer einen Gegengrund, beide stehen hart, entschlossen, mit offenem Visier gegenüber; erst ist es ein Spiel, dann geht es in Streit und Gewalttaten über, die man nur zu befrieden vermöchte, nicht indem man einen Grund als alleinseligmachende Wahrheit deklariert, sondern indem man beide Gründe ausblendet.

Daß wir unsere Sache auf nichts gestellt haben ist eine schwindelerregende Einsicht.

Der Grund, auf dem wir stehen, ist nicht sicherer und fester als im indischen Mythos die Schildkröte, auf der die Erde ruht, und der Elefant, auf der die Schildkröte ruht. – Die Hoffnung, einen sicheren Grund zu finden, ein fundamentum inconcussum, kann keine Mythologie, keine Theologie und kein rationales Denken einlösen. – In dieser seltsamen Lage eines Ganges auf dem Hochseil, das selbst aus nichts als Träumen gesponnen ist, nicht zu verzagen und in den Abgrund zu stürzen, sondern uns in Heiterkeit und Gelassenheit zu üben, kann man als Quintessenz so unterschiedlicher Denkwege wie derjenigen Heideggers und Wittgensteins betrachten.

Je höher wir steigen, umso weiter geht der Blick ins Land, doch umso undeutlicher wird, was wir aus der Nähe betrachtet haben. – Im gleichen Maß, wie sich unser Wissen in einem Bereich erweitert, gewahren wir unbetretene, ja unbetretbare Bereiche des Nichtwissens.

Wir haben die Erde umsegelt; aber der Horizont unseres Wissens wandert stetig mit uns weiter.

Wir haben keinen Begriff von der Zahl, dennoch rechnen wir; wir haben keinen Begriff vom Augenblick und sprechen gleichwohl sinnigerweise vom Kairos oder vom Wunsch, zum Augenblick zu sagen: „Verweile doch, du bist so schön!“

Mozart konnte nicht darüber befinden, Mozart zu sein.

Als müßte der Gedanke in einem Sprung das Unendliche durchmessen, um wie Achill die Schildkröte das Endliche einzuholen.

Als wäre im System der Sprache jeder Satz die Auswahl aus einer unendlichen Reihe ähnlicher Sätze.

Wir bedenken nicht, daß die Antwort, die wir von der Natur oder der Geschichte oder dem Leben erhalten, nicht wie das Echo eines Rufes ist, das unsere Frage nur nachäfft und reflektiert, sondern wie die Spur des Wanderers im Schnee, die uns verrät, aus welcher Richtung er kam und in welche Richtung er ging.

Wir bedenken nicht, daß unser Gesprächspartner von unserer Frage oder Darlegung geleitet, manchmal einen von uns nicht einmal geahnten Aussichtspunkt erreicht, von dem er weiter sehen kann als wir selbst.

Freilich, wenn wir unser Gegenüber nur lange genug pressen, gibt es uns die Antwort, nach der unsere Angst und unsere Eitelkeit verlangen.

Scheinfragen sind entweder redundant wie die Frage des Prüfers an den Prüfling, deren Antwort er kennt, oder blind, wie die hartnäckigen Warum-Fragen des Kindes; die echte Frage muß hier eine Mitte finden, darf weder überflüssig noch orientierungslos sein.

Pascal ohne Gott.

Was stünde im Mémorial eines Pascal, dem sich die Transzendenz in einer Welt ohne die Kenntnis der jüdischen Bibel oder einer Welt ohne Paulus und Jansenius geoffenbart hätte? – Was ließe sie in diesem Falle abgrenzen gegen den Gott der Philosophen und Gelehrten?

Das Unendliche offenbarte sich Blaise Pascal in einer endlichen Zeit (von 22.30 Uhr bis 0.30 Uhr am 23./24. November 1654) unter dem Zeichen des Feuers. Wer wüßte die Natur dieses Feuers zu benennen?

Das Feuer-Zeichen Pascals ist von der ontologisch außerordentlichen und epistemisch eigentümlichen Art, daß ohne das Zeichen das, was es zum Ausdruck bringt, nicht zum Ausdruck gebracht werden könnte.

Wir können den Ausruf „Aua!“ durch die Aussage „Das tut mir weh“ nicht ersetzen, sondern nur übersetzen.

Wir können das Mémorial Pascals in alle möglichen Sprachen übersetzen, nicht aber das mit „Feuer“ Gemeinte mittels beliebiger anderer Symbole wiedergeben.

Das Feuer Pascals ist wie die Rose Dantes, die Blume des dichterischen Worts, die keinen Duft verströmt, ein Feuer, das weder verzehrt noch erlischt; wie der Schatten des Denkers, der all seine Gedanken begleitet.

Das Empfundene enthält, wie die Falte des Blatts den Tautropfen, den Empfindenden, den Tropfen des Ich.

Den Tropfen weht der Wind im Nu vom Blatt, den Tropfen des Ich der Sturm des Schicksals; doch im Unterschied zum natürlichen Tropfen, könnte man mit Pascal sagen, spiegelt sich, wenn auch nur für einen Augenblick, im endlichen Tropfen des Ich die Unendlichkeit des Alls.

Die Grundfiguren des Daseins in Raum und Zeit erschließt uns die Intuition, nicht die Vernunft: die Vernunft zergliedert sie, indem sie ihre analytischen und synthetischen Methoden gleichsam wie ein Netz in den Fluß eintaucht; doch die lebendigen Gestalten, die es an Land zieht, hat sie weder konstruieren noch auch nur vorausahnen können.

Lektüre als drogenartige Form der Zerstreuung; moralische Dauerempörung, krakeelend-fuchtelndes soziales Engagement und rhetorisch-heiser belehrender politischer Aktionismus als medial verstärkte und kommunikativ gratifizierte Formen der Zerstreuung; Geschlechter-Blinde-Kuh-Spiele, erotische Akrobatik und sexuelles Athletentum als besonders degoutante, aber voyeuristisch vor dem Spiegel der faszinierten Öffentlichkeit vollzogene und sich als umstürzend-wagemutig aufspielende circensische Formen von Zerstreuung; ja noch devote und servile Unterwerfung unter anerkannte kirchliche oder häretisch-geheime Kulte als im Gewand der Frömmigkeit verkleidete eitle Formen der Zerstreuung.

Was finden wir in der unersättlichen Gier nach Zerstreuung? Die Unfähigkeit zur Einsamkeit und der allzu verständliche Widerwille des aufgeblähten, aber hohlen Ego, sich selbst zu genügen; die Angst vor dem Tod und der wahren Gewißheit der Bedeutungslosigkeit des ephemeren Daseins; den Schrecken vor den Abgründen der Banalität und des Irrsinns, die als plaudernde Nachbarn in unserer warmen Küche sitzen. – Keine Gnade gewährt uns das Feuer, das die Trugbilder verzehrt; und jene Musik, die das helltönende Narrenglöckchen in unseren Köpfen zu übertäuben vermag, die Musik Bachs, Mozarts, Schuberts oder Bruckners, kann nur für Augenblicke der Selbstvergessenheit die Unruhe aufgrund der Gewißheit der endgültigen Auslöschung mildern.

Der trübe Firnis über den Bildern der Erinnerung läßt nur verwitterte Farben durchscheinen; wir wagen es nicht, ihn mit dem scharfen Griffel der Analyse abzukratzen, aus der begründeten Furcht, mit dem kümmerlichen Rest der Farbschicht das ganze Bild auszutilgen.

 



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