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Dez 5 23

Der verschüttete Born

Es war das Flackern der geweihten Kerze,
was uns die Schatten lieh zu hohem Spiel,
es war das Glühen aus geheimem Schmerze,
was wach uns hielt unendlich fernem Ziel.

Nach jeder Biegung glänzen frische Wasser,
an müder Stirne pocht der Sonnentag,
und scheinen unterm Mond die Blumen blasser,
glüht schon im Morgenrot der Rosenhag.

Sinkt auch das Abschiedswort von eigner Schwere
wie volle Knospe auf die Schwelle hin,
das Schweigen tut sich auf, die blaue Leere,
wo Zeichen wölken, stumm von Anbeginn.

Die einen lassen sich von Wellen treiben
und greifen Schäume noch im Untergang,
die anderen hören hinter trüben Scheiben
der Scheite Zischen und den Zeisigsang.

Wir haben uns geneigt bemoostem Borne,
ob ihm ein blaues Rauschen noch entstieg,
wir dünkten uns dem Preisgesang Erkorne,
das Herz der grauen Gaia aber schwieg
.

 

Dez 4 23

Das Flackern

Ein Efeugerank war mein Wort,
hat sinnig die Mauer begrünt,
hat purpurn das Moos überzackt –
nun weht es, weht zweifelnd es fort.

Ein leuchtendes Wort war dein Blick,
hat treulich das Dunkel erhellt,
das Rätsel im Reim mir gelöst –
nun weicht er, weicht schweigend zurück.

Ein Silbergeflock war mein Wort,
hat Schneelicht in Verse geweht,
ein Glanz, der die Nacht überhöht –
nun schmilzt es, schmilzt blassend es fort.

Voll gütiger Glut war dein Blick,
zu tauen die Angst aus dem Eis,
zu wärmen den frostigen Vers –
wie halt ich sein Flackern, sein Flackern zurück?

 

Dez 3 23

In der Früh

Die Mähre hab ich noch gehört,
Geklapper schwer und müder Hufe,
vom Leben noch nicht ganz verstört,
sang leis ich auf bemooster Stufe.

Das dunkle Muhen in der Früh
hat aus dem Traume mich gerissen,
ich fror und fühlte warm das Vieh,
gefleckten Fells schwoll mir das Kissen.

Und himmelblau war das Geläut,
mich hat der Hymnen Gischt getragen,
gleich einem Boot, das unvertäut
getrieben wird aufs Meer der Sagen.

Dann hob der Rhythmus fremder Zungen
das mütterliche Wort hinan
in eine Apsis, lichtdurchdrungen,
sein Kelch ward schmerzlich aufgetan.

Ein Rosengarten hat den Knaben
ins Dickicht seines Dufts gelockt,
ich sog den Wohllaut mir aus Waben,
schwieg vor der Tafel, dumpf, verstockt.

Bis jener rann auf weißen Lenden
die Milch des Monds aus schwarzem Laub,
ein Klatschen traf aus heißen Händen,
ein zartes Bild zerfiel zu Staub.

 

Dez 2 23

Der Atemlose

Da wir den Uferpfad gegangen,
wie war das Wasser blau.
Nun hab ich weiter kein Verlangen
als nach dem blassen Tau.

Du hattest vor dich hin gesungen,
ein Lied, so kindlich-schlicht.
Ich hab die Dunkelheit gewrungen,
Lichttöne tropften nicht.

Du ließest auf dem Wasser treiben
die Knospe, rot wie Blut.
Daß keins beim andern könne bleiben,
sprach mir die graue Flut.

Und als auf weichem Moos wir lagen,
war feuchter Glanz dein Blick.
Nun wirft ein Dunst auf leeren Tagen
ins Zwielicht mich zurück.

Der Mandelkern schien sich zu süßen,
mein Nein schmolz in dein Ja.
Wie muß den Trug ich bitter büßen,
nur zweie sind sich nah.

Dich hat das Wort, die scheue Rose,
in seinen Hauch gehüllt.
Ich aber blieb, der Atemlose,
vom Wohlduft ungestillt.

 

Dez 1 23

Das Singen der Sirenen

Die Muschel hat sie ausgespien, die Welle
bald kehrt sie, reißt den Kelch von Perlmutt mit,
die Träne aber, die ins Dunkel glitt,
steigt mit dem Mond, der Liebe Tau, ins Helle.

Ermannter Geist hat ausgewischt die Bilder,
die einst sein Ahne sah im Sternenschaum,
verlassne Liebe webt nächtlichem Saum
Traumrosen, ihre Dornen stechen milder.

Dem Meister schien die Münze Wort entwertet,
matt vom Gebrauch, das Sinnbild abgeschabt,
sie umzuschmelzen hat ihn Gott begabt
mit Feuergeist und Tau der Nacht, der härtet.

Dir bleibt, an Charons Kniee dich zu lehnen,
am Rand der Welt, horch, singen die Sirenen.

 

Nov 30 23

Über Traumes Sund

Wir setzten uns auf eine Bank,
als fänden wir im Irrsal Rast,
der Geist blieb kalt, das Fühlen schwank,
hat Hand auch heiß die Hand umfaßt.

Wir beugten uns hinab zum Teich,
das Wasser spiegelte uns mild,
da fiel ein Flaum schneeblütenbleich,
und in dein Bild zerrann mein Bild.

Wir legten uns aufs weiche Moos,
als habe Ich am Du genug,
doch ließ die Urangst keines los,
wie wild uns Herz ans Herz auch schlug.

Im Schilf des Dämmers lag das Boot,
wir trieben über Traumes Sund,
als quille Licht im Liebestod,
stieg Venus aus dem blauen Grund.

 

Nov 29 23

Der zerbrochene Kelch

Gleich einer Muschel, Gastgeschenk der Welle,
als kaum das Meer verebbt, die fromme Flut,
glänzt auf des Waldes Höhe die Kapelle,
ein Mondstein, der im dunklen Moose ruht.

Wir stiegen oft, das holde Bild zu schauen,
das Lächeln, das sich Liliendüften neigt,
den Knaben, sanft gewiegt vom Samt, dem blauen,
den Stern der Nacht, wenn Tag und Abgrund schweigt.

Nun meiden wir den Zufluchtsort, wie Waisen,
die aus dem Vaterhause man vertrieb.
Wer will vom Ödland in die Wüste reisen,
nach Lilien schauen, wo nur Asche blieb?

Der Ungeist hat das Bild des Heils geschändet,
zerbrochen liegt der Kelch, der es gespendet.

 

Nov 28 23

Legende von der armen Magd

O Dichter, schließ ins Herz sie ein,
die auf der sanften Schulter trug,
den sie dir aufgefüllt, den Krug,
mit einem Wasser demutrein.

Sie war nur eine arme Magd,
ihr Schlaf umknistert hell von Stroh,
ihr Blick aus dunklem Indigo
hat keiner Bitte sich versagt.

Sie schürte aus der Asche Glut,
leis summend buk sie keusches Brot,
und ihre Hand vom Wringen rot
war rauhem Fell der Tiere gut.

Sie hat die Jungfrau still verehrt,
in der Kapelle lang gekniet,
daß sie des Knechtes Blick vermied,
verschleiert bang, was er begehrt.

Sie hat aus Kräutern auch gebraut
den Trank, der kranke Seelen heilt,
sie wußte, wie man Knöchlein feilt
und Mark von schwarzen Wurzeln kaut.

Da hat der Dämon wild gelacht,
die Haut befleckt mit braunem Tau
dem Knecht, dem Bauern und der Frau,
die rein blieb, schwor man, hat’s vollbracht.

Als schon die Flammen sie umloht,
hat man den Schrei gehört, den Schrei,
„O Jungfrau, Magd du, steh mir bei,
nur eine Träne meiner Not!“

Wo ihre Asche hingestreut,
ein klares Wasser bald entsprang,
das wundersam der Seele sang,
die ihre Schuld bereut.

Birg, Dichter, sie in Liedes Schrein,
die auf der sanften Schulter trug,
den sie dir aufgefüllt, den Krug,
mit einem Wasser, demutrein.

 

Nov 27 23

Das Fabeltier

Du Quelle, die ich fühlte nah,
da ich im Wachtraum waldwärts ging,
du dunkler Duft, der mich umfing,
seid ihr noch da?

Gleich Säulen ragten auf die Buchen,
die Tritte dämpften Moos und Gras,
ich ging, das Fabeltier zu suchen,
von dem der Knabe wunders las.

Und zwischen Bangen und Frohlocken
schritt ich auf stiller Pfade Grün,
da wurden mir die Lippen trocken,
zur Quelle beugte ich mich hin.

„Ich will dir nur Erquickung bringen“,
hat mir geraunt der Wasserschwall,
„auf daß du mögest heller singen
als mondbetört die Nachtigall.“

Bald knöpfte Wind mir auf die Bluse,
und dunklen Dufts beschwor mich Mohn,
zu summen vor mich hin, die Muse,
ins Haar griff sie mir neckisch schon.

Da zog’s mich wieder in das Dunkel,
ob noch das Wunder mir gescheh,
es traf mich schwarzen Augs Gefunkel,
in Traumes Dickicht stand das Reh.

„Du holder Knabe“, hört ich’s sagen,
such länger nicht, eratme hier,
du mußt nach fernem Sinn nicht jagen,
du selber bist das Fabeltier.“

Da hab ich eingeatmet Süße,
des Waldes Harz und goldenen Schlaf,
daß meinem Mund das Lied entfließe,
wie ich im Traum mich selber traf.

Du Quelle, die ich fühlte nah,
da ich im Wachtraum waldwärts ging,
du dunkler Duft, der mich umfing,
seid ihr noch da?

 

Nov 26 23

Der Wein der Dichtung

Der Glutorange Sonnenpracht,
die dumpfes Brüten, das verhockte,
ins Gartendämmerdickicht lockte,
fault nun in kalter Erde Nacht.

Die Feldmaus hört mit feinem Ohr
des glänzend-fetten Wurmes Schmatzen,
und grauste ihr nicht vor den Tatzen,
hätt sie die Frucht geschleckt zuvor.

Die Amsel hat den Wonneton
kaum in das Zwielicht ausgesendet,
scheint auch des Lebens Kreis vollendet,
der Wurm zuckt ihr im Schnabel schon.

Wenn Leben sich von Leben nährt,
magst, Dichter, du den Durst uns stillen,
den Wein in blaue Krüge füllen,
der lang im Herzverlies gegärt.

Wir trinken ihn im Abendrot,
das durch der Verse Dämmer leuchtet,
bis uns ihr Bild die Augen feuchtet,
die Liebe, die wir wähnten tot.

Und sehen wir, efeuumkränzt,
den Mond in Liedes Schilfe sinken,
gib uns den herben Most zu trinken,
daß uns der Strom der Heimat glänzt.

 

Nov 25 23

Matthew Arnold, Shakespeare

Others abide our question. Thou art free.
We ask and ask – Thou smilest and art still,
Out-topping knowledge. For the loftiest hill,
Who to the stars uncrowns his majesty,

Planting his steadfast footsteps in the sea,
Making the heaven of heavens his dwelling-place,
Spares but the cloudy border of his base
To the foil’d searching of mortality;

And thou, who didst the stars and sunbeams know,
Self-school’d, self-scann’d, self-honour’d, self-secure,
Didst tread on earth unguess’d at. – Better so!

All pains the immortal spirit must endure,
All weakness which impairs, all griefs which bow,
Find their sole speech in that victorious brow.

 

Shakespeare

Andre erstarren, wenn wir fragen, du schwebst schon in Fernen.
wir fragen, wir fragen – du sendest dein Lächeln, dein Schweigen
vom Gipfel des Wissens. Wie den höchsten ersteigen,
da seinen funkelnden Schnee er entblößt nur den Sternen,

den Fuß unverrückbar ins Meer darf er stemmen,
auf daß die Himmlischen auf seinen Graten hinschreiten,
läßt er Wolkenschleier in die Talgründe gleiten,
der Todverfallenen herzblindes Spähen zu hemmen.

Auch dir war es vergönnt, Stern und Strahlung zu fühlen,
dein eigener Lehrer, eigenen Ruhms Herr und Meister,
bahntest du Pfade zu ungeahntesten Zielen.

Alle Qualen, die sie erdulden, die göttlichen Geister,
alle zehrende Schwäche, alle drückende Trauer
zeigt klar die Schrift der Stirn, der hehren Mauer.

 

Nov 24 23

Matthew Arnold, Growing old

What is it to grow old?
Is it to lose the glory of the form,
The lustre of the eye?
Is it for beauty to forego her wreath?
Yes, but not for this alone.

Is it to feel our strength –
Not our bloom only, but our strength – decay?
Is it to feel each limb
Grow stiffer, every function less exact,
Each nerve more weakly strung?

Yes, this, and more! but not,
Ah, ’tis not what in youth we dreamed ‘twould be!
‘Tis not to have our life
Mellowed and softened as with sunset-glow,
A golden day’s decline!

‘Tis not to see the world
As from a height, with rapt prophetic eyes,
And heart profoundly stirred;
And weep, and feel the fulness of the past,
The years that are no more!

It is to spend long days
And not once feel that we were ever young.
It is to add, immured
In the hot prison of the present, month
To month with weary pain.

It is to suffer this,
And feel but half, and feebly, what we feel:
Deep in our hidden heart
Festers the dull remembrance of a change,
But no emotion – none.

It is – last stage of all –
When we are frozen up within, and quite
The phantom of ourselves,
To hear the world applaud the hollow ghost
Which blamed the living man.

 

Alt werden

Was heißt es, alt zu werden?
Daß Leibes Pracht vergeht,
der Augen Schimmer?
Daß Jugend ihrem Kranz entsagt?
Ja, doch das ist noch nicht alles.

Heißt es zu fühlen, wie unsre Kraft,
nicht unsre Blüte nur, nein, unsre Kraft hinsinkt?
Heißt es zu fühlen, wie wir Glied um Glied
verknöchern, mehr und mehr danebentappen,
an Spannkraft einbüßt jeder Nerv?

Ja, dies und mehr! Doch keinesfalls,
wovon wir in der Jugend, ach, geträumt, wie uns geschäh!
Als würde unser Leben
sanft verklärt von einem Sonnenuntergang,
goldenen Tages Abschiedsglut!

Heißt nicht, die Welt zu sehen
vom Gipfelschnee, prophetenhaft verzückten Augs,
nicht tief gerührten Sinns
gewesener Fülle schluchzend nachzufühlen
den Jahren, die vergangen sind!

Es heißt, an langen Tagen
nicht einen Augenblick mehr fühlen, daß wir jung gewesen.
Heißt, an Kerkermauern
die Zeichen drückender Gegenwart, Monat
für Monat, kratzen in dumpfem Schmerz.

Es heißt, dies zu erdulden
und nur halb, nur schwach zu fühlen, was wir fühlen:
Tief in unsrem Herzverlies
gärt die Erinnerung matt an das, was anders wär,
doch quillt auf kein Gefühl, nicht eins.

Es heißt, der Vorhang fällt,
wenn innerlich wir schon erfroren sind und nichts
als die Phantome unsrer selbst,
zu hören, wie die Welt den hohlen Geist beklatscht,
das Zerrbild des lebendigen Menschen.

 

Siehe auch (leider ohne die letzte Strophe):
https://www.youtube.com/watch?v=LKTn6nPmc18

 

Nov 23 23

Von jenseits des Grabes

Wohnte ich im Stillen
unter Gras und Moos,
wollest mich umhüllen,
Himmel wolkenlos.

Wärest wie die Schale
einer Muschel rund,
daß in ihr mir fahle
Tag und Träume bunt.

Doch tät auf die bleiche
Knospe Mond sich dann,
wär mir, Duft erweiche,
der nicht atmen kann.

Gönnten Regenschauer
dunklem Efeu Glanz,
wogte starre Trauer
auf im Totentanz.

Würf sein weißes Linnen
Winter auf den Hang,
zu Kristall gerinnen
dürfte, was ich sang.

Das nicht wärmte, Feuer,
würd es mir entfacht
von der Hand, getreuer
als des Lebens Nacht?

 

Nov 22 23

Matthew Arnold, Dover Beach

The sea is calm to-night,
The tide is full, the moon lies fair
Upon the straits; on the French coast the light
Gleams and is gone; the cliffs of England stand,
Glimmering and vast, out in the tranquil bay.
Come to the window, sweet is the night air!
Only, from the long line of spray
Where the sea meets the moon-blanch’d land,
Listen! You hear the grating roar
Of pebbles which the waves draw back, and fling,
At their return, up the high strand,
Begin, and cease, and then again begin,
With tremulous cadence slow, and bring
The eternal note of sadness in.

Sophocles long ago
Heard it on the Aegean, and it brought
Into his mind the turbid ebb and flow
Of human misery; we
Find also in the sound a thought,
Hearing it by this distant northern sea.

The Sea of Faith
Was once, too, at the full, and round earth’s shore
Lay like the folds of a bright girdle furl’d.
But now I can only hear
Its melancholy, long, withdrawing roar,
Retreating, to the breath
Of the night-wind, down the vast edges drear
And naked shingles of the world.

Ah, love, let us be true
To one another! For the world, which seems
To lie before us like a land of dreams,
So various, so beautiful, so new,
Hath really neither joy, nor love, nor light,
Nor certitude, nor peace, nor help for pain;
And we are here as on a darkling plain
Swept with confused alarms of struggle and flight,
Where ignorant armies clash by night.

 

Strand bei Dover

Still ist das Meer heut Nacht,
hoch geht die Flut, Mond legt sein Vlies
auf die Wogen, an Frankreichs Küste fahlt
das Licht, geht aus. Englands Felswand ragt,
schimmernd und steil, aus der ruhigen Bucht.
Komm ans Fenster, die Luft der Nacht ist süß!
Doch auf Gischtschaums lange Flucht,
wo das Meer aufs mondgebleichte Land auskragt,
lausch! Hör das zerknirschte Gebrüll,
wenn Wogensog die Kiesel zieht und sie, schwingt
er zurück, auf die Dünen jagt,
wie es beginnt und endet und wieder beginnt,
langsam in zitternder Kadenz, wie darin erklingt
Trauergesang, der niemals verrinnt.

Sophokles hat am ägäischen Meer
es vor langer Zeit gehört, und schwanken
ließ es seinen Geist im trüben Hin und Her
menschlicher Elendsflut. Weh,
der Klang macht auch uns Gedanken,
hören fern wir ihn in der nördlichen See.

Das Glaubensmeer,
es ging einst auch in hoher Flut, hat sich um die Erde gerollt,
wie eines Gürtels Geschmeid sie erhellt,
nun aber höre ich nur,
Schwermut, die lang verebbend hinabgrollt,
ein sterbender Hauch, der
nächtlichem Winde sich mischt, trostlos über der weiten Flur
und dem kahlen Geröll der Welt.

Laß, Liebe, uns nicht scheuen,
was wahr ist, zu sagen. Denn wenn es auch scheint,
die Welt habe uns als Bewohner von Träumen gemeint,
solch farbig-schönen, ewig neuen,
im Kern birgt sie weder Freude, noch Liebe, noch Licht,
nicht Gewißheit, nicht Frieden noch Lösung der Qual,
hier sind wir in einem düsteren Tal,
von Rufen gepeitscht, zu Kampf, zu Flucht, wissen wir nicht,
hier, wo Heer an Heer nachts mit Chimären ficht.

 

Siehe auch:
Samuel Barber, Dover Beach, Gesang: Dietrich Fischer-Dieskau
https://www.youtube.com/watch?v=BmO7qX0-qu4

 

Nov 21 23

Der Unfall

Dem Andenken an meine Eltern

Im dunklen Röhricht mochtest du es hören,
ein trunkenes Flöten, das dem Schluchzen glich,
vom Hauch des Wassers wiegten sich die Schilfe,
ein Tropfen fiel der Mond aufs feuchte Grün.
Dort brach das Schicksal ein, es quietschten Reifen,
und Vaters rechtes Bein hing schlaff, zertrümmert,
das Schädeltrauma schloß dich fort ins Dämmern,
lang lagst du, Mutter, hinterm Schweigegitter.
Das war, als ihr vom Schilf nach Hause ginget,
o Sommernacht, wie war die Luft so lau,
der Liebe Haut noch heißgespannt dem Kusse.
Dann fror die Mosel zu, ein banger Knabe
sah ich erstarrt im Eis der Nymphe Haar.
Wir knieten unterm Flackern frommer Kerzen,
da rings die Kranken ächzten, die Versehrten,
das Kind des Heils hielt hoch die Lichtverzückte,
von blauem Samt umhüllt der stumme Schoß.
Als wieder Wellen weich das Schilfrohr bogen
und Julimond im lauen Wasser schwamm,
vernahm ich fern das Flöten und das Schluchzen
und Humpeln dumpfer Krücken nebenan.

 

Den Unstern überdecken weiße Wolken,
ein Blütenstern der Erde strahlt das Glück,
das Fatum rollt heran, süß summt die Nabe,
das Licht der Blüte schwindet, kaum gepflückt.

 

Nov 20 23

Rose der Frühe, Viole der Nacht

Du Rose der Frühe, Viole der Nacht,
hast mir den Duft, mir die Wehmut gebracht.

Wenn ferner Heimat Bilder verschwimmen
und dich vermissend die Augen sich feuchten,
seh ich dein Haar im Abendrot glimmen
und deine Augen im Dunkel mir leuchten.

Du Jauchzen der Lerchen, Nachtvogels Gesang,
dehnst kühn meine Fibern, machst zittern sie bang.

Will müd ich zwischen die Gräser mich legen,
bin ich ja, ohne dich wiederzufinden,
lange gewandert auf steinigen Wegen,
hör ich dich flüstern im Laubwerk der Linden.

Du silbernes Wasser, du goldener Sand,
Labsal der Lippen, dem Herzen ein Brand.

Liege ich einsam, es klagt an den Scheiben
Regen, auf daß ich vor Sehnsucht erblasse,
will eine Knospe auf Wellen ich treiben,
bis deiner Hände Kelch sie umfasse.

 

Nov 19 23

Bitterer Morast

Woraus die Bilder, die sublimen, zucken,
ist bitterer Morast, Giftkeime-Wälzen
von Kreaturen, die sich Flüche spucken
und Hymnen aus Kristall in Wahnglut schmelzen.

Die weiße Lilie sieh, die keusche, ragen
aus dunklem Schluchzen mondbeleckter Moose,
Aasdünste sind, die sich zu mischen wagen
dem edlen Duft der königlichen Rose.

Auch Walther sah sie strotzend stehn, Frau Welte,
die Lippen Purpur, Schnee die steilen Brüste,
doch auch, was rücklings ihren Leib entstellte,
die Schwären und Gewürm der Todeslüste.

Gedenk des Sehers, der gemalt mit Flammen,
wie brach er unterm Sonnenjoch zusammen.

 

Nov 18 23

Späte Strahlen

Wie ist es still, es sickern späte Strahlen
aufs Schicksalsnetz der grauen Göttin Spinne,
ein zartes Leben zuckt in stummen Qualen,
daß roter Tropfen in das Dunkel rinne.

Und da noch Kerzen sänftigen das Dämmern,
wenn Fromme vor Ikonen niedersinken,
sind Fäuste wild, die an die Pforte hämmern,
und Mäuler, die nach Blasphemien stinken.

Gehst unter Schauern du von Efeuranken,
der Urnacht lichtes Ornament zu finden,
zerfasert dir der Teppich der Gedanken,
und tausend Sonnen lassen dich erblinden.

Mag, Dichter, dir die Haut des Wortes schimmern,
o hör im Mark der kranken Seele Wimmern.

 

Nov 17 23

Schwarzer Mohn

Als hättest du gelebt, wo Wasser sangen,
geatmet Duft und Traum von Chrysanthemen,
nun sind der Jugend Bilder dir verhangen
und gehst am Tag ein Schemen unter Schemen.

Als hättest du gewohnt bei schönen Frauen,
gewunden Veilchen in die grünen Strophen,
nun sieht aus gelben Augen statt der blauen
dich an die alte Katze hinterm Ofen.

Als wären Verse dir im Abenddämmer,
ein süßes Licht, getropft aus dunklen Lauben,
nun schlagen dir im Traum die Endzeithämmer
der Liebe Bild entzwei, den hohen Glauben.

Komm, Orpheus, uns den schwarzen Mohn zu reichen,
daß Eurydikes Blicke von uns weichen.

 

Nov 16 23

Rose des Mittags

Rose des Mittags,
Engel der Nacht,
hast mir geleuchtet,
hobst auf mich sacht.

Warst bang verschlossen,
da ich dich sah,
tauüberflossen,
gingst mir so nah.

Hab dich mit Blicken
scheu nur umarmt,
dich schnöd zu pflücken
hätt mich verarmt.

Hast deine Knospe
still aufgetan
und deinen Flügel
weiß wie ein Schwan.

War ich benommen,
trank deinen Duft,
sind wir geschwommen
in blauer Luft.

Rose des Mittags,
Engel der Nacht,
hast mir geleuchtet,
hobst auf mich sacht.

 

Nov 15 23

Wort unter den Wimpern der Nacht

Fremdstämmig scheint hier deine Sprache,
ein bäurischer Tonkrug, der leckt,
die ächzende Angel im Tore,
blind schlagend im ortlosen Wind.

Selbst bist du worden ein Schatten,
der stumm um das Steinmal sich dreht,
wo dunkeln die Zeichen gleich Augen,
Wort unter den Wimpern der Nacht.

Verkrustete Muschel der Vorzeit
legt sich deinen Vers an das Ohr
ins Dunkel zu lauschen kein Knabe,
auf Fluten des Mondes entrückt.

Fremdstämmig scheint hier deine Sprache,
Melkschemel, dreibeinig, der hinkt,
ein Schwalbennest, zwitschernd im Schuppen,
den eiserner Zahn schon benagt.

O Hand, zu entzünden die Kerze
im Winkel vorm blassenden Bild,
o Herz, zu streuen die Blüten
verlassener Liebe ins Lied.

 

Nov 14 23

Der einsame Turm

Die Tür, die eiserne, ist abgeriegelt,
wie des Erinnerns tönende Spirale
dreht um die Treppe sich die Schmerzensschale,
bis auf dem Grund der leere Glanz sich spiegelt.

Im Turm, der einsam ragt, stehst du auf Zinnen,
das Brausen hörst du auf- und niederwallen,
du siehst die Wolken sich wie Hymnen ballen
und Tropfen Lichts auf graue Male rinnen.

Hold wären Lüfte, dich emporzuschwingen,
doch ward das flügelnde dir ausgerissen,
das Wort, sein reines Mark vom Neid zerbissen,
weil es anhob, dem Abendstern zu singen.

Magst, Dichter, stumm auf dem Altan noch fühlen,
wie Meergesänge dir die Wunde kühlen.

 

Nov 13 23

Das Muschelwort

Das träge Blatt scheint träumerisch zu schwingen,
kaum ist des Meisters Auge aufgeblitzt.
Das weiche Wasser tönt in zarten Ringen,
ward jäh die Haut von Mondes Horn geritzt.

Es leuchten Adern auf an grauen Steinen,
wenn Regen niederströmt und Rauschen schwillt.
Verlassene Liebe darf im Dunkeln weinen
und goldner Wein die Zunge lösen mild.

Das Muschelwort soll Willkür nicht zerstücken,
sein Wehmutecho dehnet das Gemüt,
und klaffen zwischen Gras und Zeichen Lücken,
Geduld, die edle Knospe Sinn erblüht.

Was Tag verzehrte, nährt ein blaues Dämmern,
das Herz entschlackt den Vers mit leisem Hämmern.

 

Nov 12 23

Liebe, laß uns reisen

Herbstliches Laub, noch glüht’s, die Sonne aber
fahlt, und früh weicht sie den Schatten. Wir zögern,
wenn ein loses Blatt uns auf die Schulter fällt,
und atmen scheu den Fäulnisodem ein,
der aus den Gärten dringt, wo Quitten noch
wie gelbe Lampions ins Zwielicht flackern
und Birnen, von Pigmenten schwarz gefleckt,
Gekrächz und Hieben krummer Schnäbel harren.
In morscher Angel ächzt die Kirchhoftür,
und heißer Docht umknistert kalten Schlaf.
Der späten Garben nebelblasse Ballen
sind wie verlorene Fracht vorbeigeschwommen.
Wir gehen durch den Forst, nur Schimmer Taus
sagt uns, daß einmal Tag gewesen ist,
kein Zwitschern weiß vom hohen Blau des Himmels.
Wie Hermes scheinst du mich zum Strom zu leiten,
sein Rauschen ruft schon jenem Chore gleich,
der einst dem Blinden in Kolonos Licht
der Hoffnung auf Entrückung hat gespendet.
Geh, Liebe, du voran, ich habe Angst,
zu straucheln und den Pfad nicht mehr zu finden
in diesem Irrsal wild-verworrenen Lebens.
Seh ich den Abendstrahl im Haar dir glimmen,
die Anmut deines Gangs die Schilfe streifen,
ist mir, ein Band hält mich, wenn rings die Leere
hinabgraut, wo kein wahres Bild mehr blüht.
Und wendest du dich um, sagt mir dein Auge,
sagt mir sein feuchter Glanz, wir sind am Ziel,
hier ist das Ufer, seufzt schäumend auf die Welle,
harrt unsrer letzten Fahrt ein leichtes Boot.
O laß uns reisen, Liebe, laß uns reisen,
uns wiegen vom Geschluchze weicher Wasser.
Wir fragen nicht wohin und nicht wie weit,
nicht, ob der bleiche Mond der Fährmann sei,
nicht, ob sein Strahl ans fremde Eiland reiche,
wo Ahnengeister lächelnd uns erkennen.
Laß, Liebe, uns wie schon vergessene Blumen
die Knospen unterm Mond noch einmal öffnen,
daß milder Duft um unsern Abschied sei.
O laß uns reisen, Liebe, laß uns reisen.

 

Nov 11 23

Daß Schweigen in dir wohne

Des Lichtes fahle Krone
wirfst du ins Blau der Nacht.
Daß Schweigen in dir wohne,
hast allen Sinn zerdacht.

Die Spuren wirrer Gänge
verweht im Sande Wind,
verweht die Sonnensänge,
die kalte Aschen sind.

Wie Grenzen wild verschwimmen,
der Himmel schäumt im Meer,
zur Nacht erwachen Stimmen
und Taglieds Kelch ist leer.

Des Mondes Schneeviole
verglüht an Eos Schild,
die Sonnengladiole
erlischt im Schneegefild.

Der Nächte Dornenkrone
legst nieder du aufs Moos,
daß Schweigen in dir wohne,
klafft stumm der Erde Schoß.

 

Nov 10 23

Der umgestürzte Kelch

Der Eiche Flamme zuckt in fahlem Dunst,
schwarz und erstarrt, nichts kann das Herz noch wärmen,
übt fahrend Volk sich spät auch in der Kunst,
den Schrei zu sprühen, wenn sie südwärts schwärmen.

Schon haften weiße Tupfer auf dem Samt
der Moose und verpichen Rindenschründe,
und Blätter, die kein Frührot mehr entflammt,
knien flüsternd hin vorm Beichtiger, dem Winde.

Der Purpurkelch, den Liebe angefüllt
und Sommer ihren Sängern hat gespendet,
liegt umgestürzt, zerbrochnen Mondes Bild.
Im Schweigen ward der Seele Jahr vollendet.

Mußt, Dichter, du in weißen Wüsten harren,
schür Aschen, daß die Verse nicht erstarren.

 

Nov 9 23

Ich hört im Dunkel singen

Ich hört im Dunkel singen,
o Stimme hell und süß,
als wollt sie Kunde bringen
von nahem Paradies.

Ich lief, den Hort zu schauen,
aus dem das Lied erklang,
wie ward im Weltengrauen
dem Irrenden so bang.

Da stieg ich auf zum Gipfel,
dem schroff das Kreuz entragt,
wie trostlos rauschten Wipfel,
da ich mein Leid geklagt.

Holz, Eden einst entsprungen,
es trug die Nachtigall,
sie hat das Lied gesungen,
o schmelzender Kristall.

 

Nov 8 23

Einem jungen Dichter

Es sang von Galatea, wie benommen,
am Strand expressionistisch ein Poem,
wie sie, o blaue Flosse, weggeschwommen,
am Aug, dem einen, triefend, Polyphem.

Der floh, ein Knabe noch, in Dämmerlauben
und schlummerte abseits gebahnten Pfads,
er sah im Traum des Himmels weiße Tauben,
wie sie den Lorbeer brachten, ihm, Horaz.

Schlaf ist das Glück der schwermutdunklen Seele,
die scharfe Strahlen scheut, im Mondglanz weint.
Kontemplation der Schönheit sonder Fehle
das Glück der goldenen, das Platon meint.

Voll bitterns Honigs mag das Lied dir lallen,
das Licht bricht süßer sich an Verskristallen.

 

Nov 7 23

Vergilbte Fotos

Die bleiche Wange gibt es dir zu fühlen,
kalt rinnt die Träne, und quoll einst so heiß.
Der Rosenkuß in Sommernächten, schwülen,
wühlt in der Brust dir nun, ein Dorn aus Eis.

Liest in den Briefen du aus Jugendtagen,
die Liebeswahn diktiert und Gott sei Dank
du nicht verschickt, kannst du nicht einmal sagen,
ob einst dein Blick in ihrem Blick versank.

Du hörst es flüstern wie in lauen Nächten
und hoffst, des Winters stumme Scholle taut,
es fließen Schatten bloß in Schwermutschächten,
wo kalt der Azur des Erinnerns blaut.

Wie fremd wir aus vergilbten Fotos schauen,
wie gilben, ach, die Bilder schöner Frauen.

 

Nov 6 23

Wie fern, wie fremd

Steig einmal noch mit mir auf jene Höhen,
wo Azur uns geblaut und Enzian,
und hauchen unsern Singsang wir ins Wehen,
als wär das Werk der Liebe schon getan.

Ich geh voran und will die Schilfe lichten,
wo dunkel Wasser, hell ein Vogel singt,
wenn geisterhaft die Schatten sich verdichten,
aufs Boot dich heben, das ins Frührot dringt.

Laß wieder uns am offnen Fenster lehnen
und atmen süßen Duft der Sommernacht,
uns Hauch um Hauch die Brust der Sehnsucht dehnen,
als wär das Werk der Liebe schon vollbracht.

Wie Blätter treiben wir, gepflückt vom Winde,
wie fern, wie fremd, daß keins das andre finde.

 

Nov 5 23

Glanz auf dunklen Moosen

Dem Andenken an Walther von der Vogelweide

Tautropfen zittern hell auf dunklen Moosen,
es liest der Mond den Spruch am Grabesstein.
Ein weher Duft wölkt über späten Rosen –
lehn dich ans Fenster, Liebe, atme ein.

Dem edlen Sinn hat Knospen aufgeschlossen,
der aus dem Abgrund quillet, Gnadenstrahl,
und schließt sie Nacht, sind Tränen weich geflossen
und lindern ihm des Abschieds stumme Qual.

Hat Liebesleiden nichts als trunknes Lallen,
als wäre es des Liedes schon entwöhnt,
bricht aus dem Dämmer Sang von Nachtigallen,
worin der süße Name widertönt.

An Walther, Dichter, tränk den Geist der Minne,
daß wieder Tau auf deinen Rosen rinne.

 

Nov 4 23

Das warme Grab

In lilienlichtem Schnee bin ich gegangen,
war’s Heimaterde noch, war‘s fremde schon,
mir war es gleich, dem unbehausten Sohn
der Nacht, erfroren schien all mein Verlangen.

Das Dunkel kam, kein Stern war mir zu Häupten,
da sah ich flackern geisterhaften Schein
und fand beim Volk der Fahrenden mich ein,
die sich bei Trank und Tanz das Herz betäubten.

Ich nahm den Becher aus der Hand der Schönen,
und ihrer Augen feuchtes Dämmergrün
riß mich zu lyrischem Gesange hin.
Ins Dunkel stieß zurück mich heißes Höhnen.

Fremd bist du, Dichter, leg im Schnee dich nieder,
dem warmen Grab für deine kalten Glieder.

 

Nov 3 23

Dämonische Kehre

Der scharfe Wind, der nun verächtlich zischt,
war einst ein Lüftchen lau, das sanft umfächelt
des Denkers Stirn, dem Atem sich gemischt
ins Abendlied und Liebe hat gelächelt.

Der wilde Schrei, die Fäulnis Blasphemie,
die nun die Unschuld peitschen, Bilder flecken,
sie sangen einst und beugten scheu das Knie,
doch ließ der Dämon sie am Blutschweiß lecken.

Der Geist der Andacht, der mit Knospen sann,
hat zierlich aufgewölbt die Waldkapelle,
sie ist verödet, liegt stumm unterm Bann,
Gras überwucherte die reine Schwelle.

Mußt, Dichter, du der Väter Sangart tauschen
mit namenloser Meere grauem Rauschen?

 

Nov 2 23

Als ob Narzissen leuchten

Da wir den schmalen Pfad, den windungsreichen,
durchs Rebenlaub zur Waldkapelle gingen,
rann aus der Höhe manchmal süßes Singen
und wildes Brausen konnte Moos erweichen.

Mag uns der Kerze Schein die Augen feuchten,
und lischt sie aus, die Nacht das Herz zernagen,
Tau glimmt am Efeublatt, es will schon tagen,
ein Vogel singt, als ob Narzissen leuchten.

Die dunklen Mächte, die in Leid verstricken,
sie schmeicheln gleisnerisch mit losen Zungen.
Nur Worte, tiefem Schweigen abgerungen,
vermöchten sanften Hauches zu beglücken.

Ach, könntest, armer Dichter, du es leisten,
die Trübsal lähmt mit lichtem Sinn begeisten.

 

Nov 1 23

Das leere Kreisen

Andreas Gryphius zum Gedächtnis

Ein Rauschen geht durch Blätter, rot und gelbe,
sie wirbeln auf und liegen endlich stumm.
Den heiß geküßten Brief dreht Trübsal um.
Gesagt ward viel, geredet doch dasselbe.

Der Erdball eiert um die schiefe Achse,
die Sonne zieht ihn an und stößt ihn ab.
Was wunders blüht, sind Boten aus dem Grab,
zu künden, wie ins Leere Fülle wachse.

Der edle Sproß sinkt müde ins Gemeine,
Geruch der Fäulnis löscht den süßen Hauch.
Die Liebe geht verhüllt im Abendrauch,
daß keiner sieht, wie leere Sehnsucht weine.

Wie Galaxien um ein Unding kreisen,
wie Sonnensänge in der Nacht vereisen.

 

Okt 31 23

Das Bild zerrinnt

„Die Blüten sieh, wie sanft gewiegt von Wellen
gleich Monden sie auf grünem Grunde treiben
und uns die Nacht, die Schwermut uns erhellen.

Laß, Liebe, noch ein Weilchen uns hier bleiben.
Dich weich zu betten, will ich Gräser rupfen,
daß wir sie wirbeln sehen, mondne Scheiben,

und Schimmer Stirn und Wange dir betupfen.
Hörst du es auch, das wunderliche Girren,
Teichvögel sind’s in ihren Unterschlupfen.

Seh deine Blicke ich zu Schatten irren,
als ob dir Geister toter Kinder winken,
will ich mit Küssen deinen Mund umschwirren,

wie Bienen tun, die in die Knospe sinken,
ihr Hauch ist süß. In Süße zu zerfließen,
will ich von deiner Seele Nektar trinken.“

Erwacht will er die Tür für immer schließen.

 

Okt 30 23

Die Fron

Als hörtest du wie unter Chloroform
die eigne Stimme fremd ins Fremdland rufen,
und eigner Schatten käm auf Schattenstufen,
und reichte dir das Pflichtenheft, die Norm.

Du schneidest Halme, doch sie sind nur Rauch,
du hackst die Krume, ist sie auch gefroren.
Dem Ruf der Nachtigall bist du verloren,
kein Veilchen blaut, kein Gras seufzt auf, kein Hauch.

Als dientest du in finstrer Gottheit Fron,
heißt Leben nur das eigne Grab ausheben
und Dichten Moos den Kuß des Abschieds geben:
„Ich lebte Qual und Traum, der Erde Sohn,

ich dürstete nach Himmels lichtem Tranke
und bin verdorrt, o Herz, o Dorngeranke.“

 

Okt 29 23

Jenseitsauen

Ist grellen Bilderwahns das Auge müde,
sehnt es in Waldesdämmer sich zurück,
aus heimatlichen Maares grünem Blick
erglänzt dem Irrgegangenen der Friede.

Der schrillen Töne leergedrehte Leier
erweckt der kranken Seele Überdruß,
sie schmachtet nach des Mondes blassem Kuß,
der Veilchen Seufzen unter Mondes Schleier.

Das Mark der Verse ward dem Dichter mürbe,
wie Lymphe aus der Wunde quillt der Sinn,
er hält der Strophe bleiche Muschel hin,
ihm ist, als ob Ophelias Sang erstürbe.

Magst du eratmen einmal noch vom Grauen,
pflück, Dichter, Blumen uns auf Jenseitsauen.

 

Okt 28 23

Das Abschiedswort

O Tränen weich,
auf Wangen hingeronnen,
o Wangen bleich,
ihr Matten fahler Sonnen.

Wie wogte mir dein Haar,
da wir durch Schilfe schritten,
wie war dein Antlitz klar,
dein Auge dunkles Bitten.

Ich hatte nur das Wort,
was ich dir konnte geben,
erblüht geheimem Hort,
rot unter grünem Leben.

Siehst du am Tiberstrom
den Mond im Azur stehen,
mag dir noch sein Arom
aus blauen Schatten wehen.

O Wangen bleich,
von Tränen überronnen,
o Tränen weich,
ihr Schimmer dunkler Bronnen.

 

Okt 27 23

Der Türmer

Zum Kampf berufen wider Todesviren,
hat Mitleid übermannt das Protein,
entzückt von seinem Selbstvernichtungsspleen,
läßt es der Gast den Preis der Dummheit spüren.

Der Heimat Grenzen unbewacht zu lassen,
bis sich der helle Geist barbarisch trübt,
ist eines Volks, das hin sein Erbe gibt,
sublimes Wort dem Gurgeln dunkler Rassen.

Ein Giftwurm ist die heuchlerische Phrase,
der sich ins Herz des faulen Verses frißt,
daß es der reinen Quelle Glanz vergißt
und Wüste bricht in Sanges Sinn-Oase.

Steigt er dem Türmer gleich auf Wolkenstufen,
wer hört die Glocke noch, den Dichter rufen?

 

Okt 26 23

Sonett des einsamen Dichters

Wenn sich im Sommerregen Blätter feuchten,
scheint wieder aufzuglänzen mir dein Lächeln,
küßt sie der Mond, wenn Abendlüfte fächeln,
seh ich im Dunkel deine Augen leuchten.

Und raschelt Laub auf herbstlichen Alleen,
hör Betteln ich wie eines Waisenkindes.
Ein Seufzen aus dem Gras, ein wehmutlindes,
läßt mich am jähen Grat nicht weitergehen.

Klafft aber zwischen Wort und Wort die Lücke,
die wie ein Grab, ein schneebedecktes, blendet,
ist mir, als ob dein Atem Wärme spendet
und meinem Vers die Ranke grünt zur Brücke.

Wähnst, Dichter, du verschattet auch das Leben,
die Schatten unter Liedes Flügeln beben.

 

Okt 25 23

Lied des Heimgekehrten

Willkommen, heimatliche Hügel,
behaucht von sagengrauem Fluß,
wo sanft erzittert, Lied, dein Flügel
einst unter Mondes keuschem Kuß.

Mich zog hinweg ein innres Bluten,
wie den Vaganten bittre Nacht,
zu Dämmergärten sanfter Gluten,
von Oleandern angefacht.

Es glänzte Grazie wohl von Steinen,
und Hoheit trug den Architrav,
doch ging geheimer Quelle Weinen
durch meinen malvenhellen Schlaf.

Orangen glommen mir, Zitronen,
den Schmerz hat Zedernhain gekühlt,
im Traume wogten Eichenkronen,
hab Veilchen ich vorausgefühlt.

Willkommen, heimatliche Bronnen,
umkost von Moos und Farngerank,
das dunkle Sehnen ist zerronnen,
da ich in euer Rauschen sank.

 

Okt 24 23

Vanitas

Die bange Waldmaus sieht die Sterne nicht
unheimlich aus dem schwarzen Abgrund flimmern,
sie bannt ein maskenhaftes Angesicht
und Augen, die im Finstern tödlich schimmern.

Daß alles eitel, hört, wer einsam liegt
und Regen klopft mit dünnen Silberhämmern,
nicht wie sich klingend eine Kette schmiegt
um sanfter Züge Leuchten und Verdämmern.

Ein Hauch, verwehend in der wehen Welt,
geht dem Verzagten jeder Ruf ins Leere,
er fühlt nicht, wie des Liedes Brücke hält,
macht seufzen sie auch manchen Abschieds Schwere.

Daß blaue Stille wir an Blüten kosten,
die auf den Graten jähen Abgrunds sproßten.

 

Okt 23 23

Das Tränenkrüglein

Vom Abendrot behauchte Efeuranken,
sie haben müde Augen noch beglückt.
Daß er an dumpfer Wehmut nicht erstickt,
hauch Duft, o Sommer, um das Haupt des Kranken.

Im Dämmer rieseln aus den Rebenlauben
mondblasse Tropfen auf den Schieferstein.
Ach, daß nicht Liebe seufze so allein,
umflatter Gurren sie von Turteltauben.

Von Taues Kühle aus dem Traum gerissen,
hat weiche Knospe aufgetan den Schoß,
o Lerchen laßt den Faden Schlummer los,
mit hellem Sang das Himmelsblau zu küssen.

Mit Tränen Liedes Krüglein hold zu füllen,
o weine, Muse, wein um uns im Stillen.

 

Okt 22 23

Die Bekehrung

Er sah im glänzenden Bau die Ruinen,
die Schlange schleichen im strotzenden Gras,
und tönte die liebliche Bläue von Bienen,
vernahm er das Knirschen und Brechen von Glas.

Und gingen wir spät in des Hochwaldes Dämmer,
Glanz tropfte durchs Laubdach Stern uns um Stern,
vernahm er im stillen Dome die Hämmer,
die an das Kreuz genagelt den Herrn.

Fort war er lange und galt für verschollen,
da sah ich ihn wieder, ein Kind an der Hand,
den Knaben ließ durch die Gräser er tollen,
sein Auge war mild, weil es Heimat empfand.

O daß wir im Dunkel die Lichtung noch finden,
die Quelle der Freude, das Heiltum der Blinden.

 

Okt 21 23

Die verlorene Unschuld

Die Rose, Erdnacht, die sich auftut, sei Bildnis der Gnade,
des herrlich und schweigend gespendeten Lichts,
o daß nur ihr Duft uns in Wehdunst nicht bade,
ihr Tau uns nicht spiegle, wie Blicke verzittern ins Nichts.

Gefieder, Geflatter sei sanft wie ein bläulicher Schatten,
der scheu mit dem dunkleren deiner Wimpern sich mischt,
o daß die Stimmen des Himmels doch mit uns ermatten,
sobald das Feuer der Küsse an Tränen erlischt.

Die Blitze aber aus rollenden Augen der Eulen
todsinnendes Gleiten, stumm unter dem eisgrauen Mond,
das Knirschen von Hauern, hilfloser Hasen Aufheulen,
kein Mohn noch so rot, der uns vor dem Schreckbild verschont.

Magst, Muse, den Saum des Lieds du mit Rosen besticken,
nur Unschuld hätte daran noch ein reines Entzücken.

 

Okt 20 23

Die Wüste wächst

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Antisemitismus – keine glückliche Begriffsbildung, ist sie doch dem Dunstkreis der Sprachwissenschaften entlehnt. Besser man spricht klar und unzweideutig von feindlichen Einstellungen gegenüber den Juden als Vertretern einer Religionsgemeinschaft, als ethnisch geprägtem Volk und als Nation, nämlich der israelischen. Vorteil: Differenzierungen im Begriffsschema, die sich von der Antipathie über die Aversion bis zum Haß und dem fanatischen Wunsch nach Auslöschung erstrecken.

Der Haß Luthers, der doch den hebräischen Urtext zur Grundlage seiner genialen Übersetzung machte und die hebräischen Studien seines Mitstreiters Melanchthon förderte, die in einem für Deutschland einzigartigen theologischen Curriculum für die höheren Bildungsanstalten und theologischen Fakultäten der Universitäten mündeten – der Haß Luthers war jedenfalls, wie vielfach konstatiert, wohl finster, aber nicht exterminatorisch ausgerichtet, denn er ließ dem Juden den Ausweg der Taufe.

Das Kapitel „Linker Judenhaß“ ist noch nicht ausgeschrieben; zumindest nicht jener Teil, der von Marx und Engels ausstrahlte und einen Niederschlag auch bei jenen Faschisten und Nationalsozialisten gefunden hat, die unmittelbar aus der roten Strömung auftauchten wie Mussolini und Goebbels.

Der christliche Judenhaß hat eine Wurzel im Neid auf den religiösen Exzellenzanspruch des jüdischen Volkes, einzig von Gott auserwählt zu sein; der moderne säkulare Judenhaß im Sozialneid auf die jüdische Exzellenz hinsichtlich Begabung, Intelligenz, Weltklugheit, Reichtum und politisch-diplomatischen Einflusses.

Wie tief der Judenhaß in der radikalen Linken verwurzelt ist, belegen neben zahlreichen anderen Dokumenten die Anschlagspläne von Mitgliedern der RAF auf Synagogen oder das ruchlose Jubelpamphlet, das Ulrike Meinhof anläßlich der Ermordung der jüdischen Sportler durch ein palästinensisches Terrorkommando während der olympischen Spiele 1972 in München im Gefängnis von Stammheim verfaßt hat.

In demselben Maße, wie leidenschaftliches Begehren sein Objekt verklärt, verzerrt und dämonisiert leidenschaftlicher Haß das seine. – Töricht, mit idealistisch-weltfremden Philosophen der Vernunft eine diskursiv angesonnene mäßigende oder gar aufklärende Rolle zuweisen zu wollen, vor allem, wenn Leidenschaft und Fanatismus ganze Massen und Nationen heimsuchen.

Moral und gutes Gewissen sind oft Parasiten des leidenschaftlichen Wahns. – Das Judenmassaker als hygienische Maßnahme zur Reinerhaltung der eigenen Rasse oder als gerechte Vergeltung für das angeblich von Juden verursachte Elend von Massen, denen von ihren Brudervölkern eine Aufnahme in ihr Staatsgebiet verwehrt wird, um sie als Joker im diplomatischen Spiel zu mißbrauchen..

Der Judenhasser jüdischer Herkunft Marx war ein gelehriger Schüler Hegels; und in Hegels Lehren finden wir folgerichtig auch giftige Keime des spezifisch idealistisch geschönten Antisemitismus; ist nach Hegel die jüdische Religion doch eine Art lebender Leichnam und ein getünchtes Grab des Weltgeistes, der sie als starre, leblose Puppe seiner unaufhaltsamen Metamorphosen in Ritualgesetzen hinterlassen hat, die alles freie geistige Leben und den Fortschritt des Bewußtseins ersticken.

Die Verachtung des Ordo und der festen, gewachsenen Form, die Schmähung von tragenden Institutionen und den Umgang vereinfachenden und schlichtenden Sitten – Höflichkeit, Manieren, Galanterie und Ritterlichkeit – sind Zeichen jener fanatischen Gesinnung und perversen Hypermoral, die sich einzig für aufgeklärt hält.

Der Irrtum des Existentialismus, man müsse und könne die eigene Existenz frei entwerfen, ist der verlängerte Schatten der Absolutierung des sich setzenden Ichs bei Fichte. – Heute basteln sie aus den leeren Hülsen einer universalistisch aufgeblähten Ideologie Sprachmasken, Ideenlarven, Geschlechterkostümierungen.

Der totalitäre Geist zersetzt die Form und saugt alles sinnvoll Geformte, sittlich Bewährte, sprachlich gültig Geprägte in ein luftleeres Vakuum, in dem die Lebensgeister ersticken.

Schönheit, Anmut, Exzellenz – sie reizen die Vernichtungswut der egalitären und totalitären Moral.

Der germanische Genetiv wird verabscheut und scheint auszusterben; er gilt dem groben Sprachgefühl des demokratischen Vulgus wohl als Zeichen von geistiger Vornehmheit und aristokratischer Überfeinerung.

Ähnlich wie man keine private Sprache erfinden kann, muß auch jeder Versuch scheitern, eine tragfähige und ausdrucksstarke Lebensform in einem luftleeren Vakuum zu gründen, das von allen ethnisch, religiös und sprachlich geprägten kulturellen Traditionen abgeschnitten ist.

Reimtechnisch und formal komplexe lyrische Formen der östlichen Überlieferung wie das Ghasel, die auf Goethes Spuren Dichter wie Rückert verwendet haben, sucht man vergeblich im „West-östlichen Diva“ – denn er ist eben keine Anverwandlung deutscher Poesie an die alt-persische, sondern ihre Wiedergeburt im Wechselgespräch mit Hafis.

Große Dichtung zeigt das Antlitz ihrer Herkunft, lenkt die Wasser und Ströme ihrer Rhythmen in die Klüfte und Furchen der heimischen Erde, pflanzt ihre Bilder auf ihren Auen und Matten. – Doch hat sie sich unter den Baggern und Maschinen, dem Asphalt und Beton der Weltzivilisation in eine Karstlandschaft verödet, mischt sich in die dichterische Stimme die monotone Klage des Nomaden, der sein Zelt unter dem blitzenden Dolch des Wüstenmonds aufgeschlagen hat.

Die Hütte, das Haus, der Tempel, sie gehorchen in ihrem statischen Aufbau und Gefüge dem universellen Gesetz der Schwerkraft, doch in ihrer Anlage, ihren Proportionen, ihrem ornamentalen Schmuck sind sie einem historisch-kulturellen Ausdruckswillen verpflichtet, wenn wir sein Wirken auch nur in individuellen Abschattungen wahrnehmen können.

Keine ästhetische Form, kein künstlerischer Ausdruck und keine Sangesweise, wie es Hölderlin nennt, sind reine Erfindungen eines monadischen Genies, sondern wurzeln in der Atmosphäre der je spezifischen kulturellen Lebensart. – Die Psalmen sind die Oasen der orientalischen Wüste, das deutsche Lied bildet die Lichtung im Hochwald magischer Dunkelheiten.

In der Blechbaracke und im kollektivistischen Silo kann man hausen, aber nicht wohnen.

Die Pluderhose des persischen Imams steht dem Hohepriester des jüdischen Tempels nicht wohl an.

Kein epischer Hexameter ohne den gleichwiegenden Rhythmus des weinfarbenen Meers.

Ökologie der künstlerischen Stilformen.

Die schlichte Erhabenheit der alten lateinischen Liturgie und das uferlose Wogen der orthodoxen Gesänge.

Der Hirte Arkadiens singt anders, naiver, kraftvoller, beschwörender als der Virtuose des schillernden Ausdrucks und gemischten Gefühls im Fin de Siècle – und doch sind beide Triebe eines tief in die Erde reichenden Wurzelstocks.

Die dünne Luft unter dem kühlen Azur der Verse Mallarmés läßt keine üppigen Päonien schwelgen, aber ist bisweilen durchweht vom betörenden Hauch des Enzians, des Eremiten unterm Gipfelschnee.

Die herbe Melancholie Lorcas durchklirrt das schlüpfrige Rasseln der Armreife, durchschluchzt das Girren und Schnalzen der andalusischen Zigeunerinnen.

Das schillernde Stigma des ambrosianischen Reims auf der Stirn der abendländischen Dichtung.

Die Wehmut in den frühen Versen Hugos von Hofmannsthal ist wie das verklingende Rauschen der Kaskaden und Fontänen in den verwilderten Gärten des Ancien Régime.

In die Stille der Rokokogärten der Fêtes galantes, in die das Kreischen der Säge des Fortschritts einbrach.

Die verhaltene Ekstase des Pas de deux, die vom ausdruckslosen spastischen Zappeln und Zucken des expressionistischen Tanzes abgelöst wurde.

Die Wüste der globalen Indifferenz, die als bunte Vielfalt verkauft wird.

Eine radikale neue Art der Differenzierung des Fühlens, Denkens, Redens und des sozialen und religiös-rituellen Lebens beginnt historisch mit der Bewässerung unfruchtbarer Wüstenregionen oder dem Entstehen der Agrikultur, spirituell mit der Offenbarung auf dem Sinai.

Die Gliederung der Sphären, fruchtbar und steril, hoch und niedrig, heilig und profan, ist das kulturelle Apriori des Homo sapiens.

Die sich abzeichnende Entdifferenzierung im luftleeren Vakuum der globalen Zivilisation erfolgt scheinbar paradox auf dem avanciertesten Niveau von Industrie und Technik. – Doch wird die Wissenschaft als führende Macht resignieren, wenn wie absehbar der zersetzende Geist der Ideologie mehr und mehr in sie einsickert. – Die wissenschaftliche Biologie der Sexualität weicht dem Aberglauben der Gender-Ideologie.

Einige Windmühlen drehen noch ihre Flügel, doch in einem gespenstischen Leerlauf langsamer und langsamer.

„Die Wüste wächst“ – mögen auch Saaten noch schwellen.

Die Polyphonie der Sprachen und Sprechweisen verkümmert zur Monotonie der durch KI generierten Einheitsphraseologie.

„Die Wüste wächst“ – das Gesetz verliert den Glanz seiner göttlichen Herkunft und wird theologisch zerredet. Aber nur der Glaube an seine offenbarte Macht kann gegen die immer gegenwärtigen Gefahren der Wüste, der Verwüstung der Sinne und des Sinns, feien.

Wie die Sprache ist auch das Gesetz keine willkürliche Erfindung menschlicher Schläue und Gewitztheit, sondern ein Gegebenes, in religiöser Sprache ein Geschenk, eine Gabe, eine Offenbarung.

„Die Wüste wächst“ – auch wenn die Quellen noch sprudeln, die Wasser rauschen; aber ihr Rauschen ist wie ein sinnloses Lallen, ihr Sprudeln ein Tau auf glühenden Steinen.

 

Okt 19 23

Das Verfehlen

Am Fenster, da sitzt sie, die Alte, und schaut,
sie fühlt die Strahlen wohl, die spät noch wärmen,
doch kaum, wenn südwärts die Kraniche schwärmen,
wie Glanz ihr die runzlige Wange betaut.

Der Knabe, vom Irrlauf durchs Dickicht erhitzt,
schläft zuckend am Waldrand im Moose,
ihm träumt vom Duft nicht der prangenden Rose,
vom Dorn nur, der ihm den Diebsfinger ritzt.

Dem Dichter hat Liebe die Leber zerkocht,
er löscht den Stumpf sich mit bitteren Tränken,
hört nicht die Engel mehr Glocken hold schwenken,
nicht, wie an die Scheibe zart Frauenhand pocht.

O daß wir die Gnade des Lichtes verfehlen,
dem Liede den Stern hoher Heilsnacht verhehlen.

 

Okt 18 23

Die überstandene Nacht

Es waren rotgolden die Lauben
im Dämmer noch einmal erstrahlt,
da hat manche Blume ihr Glühen
mit Tau auf den Wangen bezahlt.

Ein Zwitschern stieg zag aus den Gärten,
das bald in den Nachthauch verklang,
da rann dumpfes Schluchzen ins Dunkel,
als ob eine Quelle entsprang.

Wir sind an das Ufer gegangen,
die Schilfe, wie wogten sie weich,
es blaßte der Mond wie in Träumen
die schlafende Rose im Teich.

Und schaute ich dir in die Augen,
sprach dunkel zu mir feuchte Glut:
„Es stürzen die Ufer, die Dämme,
uns reißt auseinander die Flut.“

Ich hab deine Angst hold umfangen
und bettete dich auf das Gras,
verebbt ist das nächtliche Brausen,
hell tönte azurblaues Glas.

 

Okt 17 23

Die vergebliche Flucht

Entfliehen wir dem Weltengrauen
in frommen Dichters Dämmerhain,
dort wäscht vom Mal des Fluchs uns rein
der Tränen süßes Niedertauen.

Dort wollen hin das Haupt wir senken,
die dunklen Qualen auf das Moos,
und unterm Azur wolkenlos
mag uns Gesanges Quelle tränken.

Doch können wir das Reich nicht finden,
wo Anmut ihre Blüten pflückt,
wo Duft weht, der in Traum entrückt,
muß sich die Angst durchs Dickicht winden.

Es leuchtet uns, entblößt der Weihe,
kein Licht mehr, das aus Eden quillt,
als ob der Jenseitsfluß anschwillt,
sprüht auf die Gischt der Todesschreie.

 



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