Skip to content

Blick und Gegenblick

14.02.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wer und was wir sind, erschließt sich uns nach und nach bei der sorgfältigen Betrachtung sprachlicher Wendungen. So verrät uns die Redewendung, daß uns in dieser oder jener Situation etwas näher oder ferner zu liegen scheint, von der Relevanz, die von unseren Sichtwinkeln, Blickpunkten und Blindheiten geprägt wird, aber kein Thema der Optik und dreidimensionalen Geometrie darstellt; so machen uns Wendungen wie neugierig äugen, starr, ängstlich, verdutzt blicken, ehrfurchtsvoll die Augen erheben, verlegen die Blicke senken, stumpf, blöde, versessen glotzen mit Aspekten unserer Weltsicht und unseres Verhältnisses zu Mitlebenden bekannt.

Wenn wir glauben, uns vom Optiker, dem Augenarzt und Hirnanatomen über das Auge, den Sehnerv und das Sehzentrum belehren lassen zu müssen, bevor wir den Mut fassen, zu beschreiben, was wir sehen und wie wir auf die Welt und die Mitmenschen blicken, sind wir schon von einer dürftigen Metaphysik fehlgeleitet. Denn was wir sehen, ist das Sichtbare, was sich auf der Netzhaut und in den Nerven des Sehzentrums abspielt, aber ist uns nicht sichtbar. So ist auch jenes Licht, vom dem die Physik spricht, nicht Teil der farbigen Sichtbarkeit, auch wenn es dieselbe Sonne ist, deren Strahlen der Physiker in Frequenzen zerlegt und die in das Fenster unseres Alltages scheint.

Wenn der Sehnerv aufgrund des Grünen Stars beschädigt wird, kann der Betroffene erblinden; aber blind zu sein, ist eine subjektive Erfahrung, keine Eigenschaft, die wir einem Nerv zuschreiben können.

Die visuelle Gegenstandserfahrung des leibhaft inkarnierten Subjekts ist vom Phänomenologen Edmund Husserl detailliert beschrieben worden. Wenden wir uns Blick und Gegenblick oder dem intersubjektiven Sinn der Sichtbarkeit zu.

Was uns an Wahrheit über Perspektiven, Ziele, Hindernisse auf dem Weg, den wir gehen, von Wegmarken und Weggefährten mitgeteilt wird, läßt sich in der Tat mittels keiner wissenschaftlichen Methode eruieren; denn mit dieser können wir nur die abgelaufene Strecke präzise vermessen, nicht den Weg, der noch vor uns liegt – und der sich in eins mit unserem Gang gleichsam enthüllt.

Der Weg, den wir in den Blick fassen, liegt nicht wie der Feldweg oder Wanderweg, von vielen, die ihn vor uns gingen, geebnet und gesichert, vor unseren Augen: Es ist ja das Eigentümliche dieses Wegs, daß er mit unseren Blicken, mit unseren Schritten, mit unseren Atemzügen, mit unserem Reden allererst entsteht.

So enthüllen sich die Bedeutung und der Gehalt des besinnlichen Gesprächs, das sich nicht auf die methodische Suche nach der einen Antwort auf die eine vorgegebene Frage versteift, erst allmählich während des Austauschs der Gesprächsteilnehmer – oder sie entziehen sich, wenn die Sprache an ihre Grenze stößt, ins verlegene oder einverständliche Schweigen.

Wir begegnen unserem langjährigen Freund auf der Straße; wir sehen nicht den Körper eines aufrecht auf zwei Beinen gehenden Lebewesens, das wir aufgrund gewisser Merkmale als ein Exemplar der menschlichen Spezies und wiederum anhand gewisser Merkmale als unseren Freund identifizieren, sondern wir erblicken unseren Freund, wie er leibt und lebt.

Wenn nun unser Freund, da wir schon lächelnd und erwartungsfreudig stehengeblieben sind, vor uns die Augen niederschlägt und ungerührt an uns vorbeigeht, als habe er uns nicht gesehen, sind wir verstört und konsterniert: Natürlich, sagen wir uns, hat er uns wahrgenommen und nicht übersehen können; also hat er uns bewußt ignoriert, nicht sehen wollen.

Das Sehen und Blicken sind nicht am Modell der Kamera zu erörtern, denn sie haben im Gegensatz zu dieser intentionalen Sinn. Er wird vom hellen Licht der Aufnahmetechnik verdunkelt.

Den Blick zu senken, die Augen abzuwenden, ungerührt unter sich zu schauen: prägnante Formen der Kommunikation, genauso wie aufzublicken und das Gegenüber mit Augen anzulächeln.

Wir nennen Blicke sprechend und verweisen auf das Spiel der Augen, das eine Weise der Liebesmitteilung, aber auch der wechselseitigen Fixierung von Spielern im Wettkampf darstellen kann, die sich belauern und furchtsam oder drohend ins Auge fassen.

Adverbien wie streng, starr, drohend, lauernd, eindringlich und stechend, aber auch milde, einfühlsam und begütigend dienen uns dazu, den kommunikativen Mitteilungswert und die Ausdrucksbedeutung unserer Blicke zu qualifizieren.

Die Beachtung des sozialen Ranges findet nicht nur durch Annäherung und Distanznahme, im Handschlag, dem Begrüßungskuß, der knappen Verbeugung oder dem Gewähren des Vortrittes Ausdruck, sondern auch darin, wie wir uns auf Augenhöhe begegnen oder einer auf den anderen von der echten oder eingebildeten Warte der Überlegenheit herabschaut, der Schüler zum Zen-Meister aus Verehrung stillschweigend und scheu oder der Bittsteller zum Brotherren devot oder trotzig, der Liebende zu seiner Verehrten bezaubert oder verlegen aufschaut.

Wir sprechen davon, sein Ziel unbeirrt im Blick zu behalten, seine Augen in Situationen der Gefahr offenzuhalten, sich vom Schein der eitlen Weltendinge nicht blenden zu lassen.

Die Hand vor die Augen zu führen, um den unerträglichen Anblick eines imaginären Unheils oder Greuels zu vermeiden, können wir als metaphorische Geste bezeichnen.

Der Augenmensch Goethe läßt dem König von Thule, sooft er beim frohen Festmahle mit seinesgleichen aus dem goldenen Becher trinkt, die Augen übergehen, sie einsam niedersenken, da er ihn im Angesicht des Todes ins Meer geworfen hat.

Der abgefeimte Lebemann zwinkert seiner errötenden Tischdame zu, die Femme fatale bedeckt den feuchten Glanz ihrer Augen mit den nachtsamtenen Lidern, um dem Snob mit dem Siegelring ihr stummes Einverständnis zu bezeigen.

Der Selbstverliebte zählt auf helle Blicke und leuchtende, neugierige Augen, wenn er im auffälligen Kostüm und mit beredten Gesten die öffentliche Bühne betritt, der Schüchterne hält sich im Hintergrund, er fühlt den scharfen Blick der anderen noch wie einen Stich im Rücken. Dem Melancholiker dagegen prallen die fremden Blicke, ob neugierig oder bohrend, vom Panzer seines erstarrten Gefühls ab.

Der böse Blick ist keine Zigeunermär; manch einem verhexten Liebhaber wandert er noch Jahre wie ein vergifteter Dorn unter der Haut.

Ich sehe mich im Blick des anderen, erniedrigt in seinem abschätzigen, getragen von seinem ermunternden, verkannt von seinem verständnislosen Blick.

Der Blick des anderen kann mir den dunklen Pfad erhellen, kann mich vom geraden ablenken, das Ziel meines Weges verdunkeln, die lebendige Wahrheit der am Wegesrand lockenden Früchte erhellen.

Mit meinem Namen angerufen schaue ich in die Richtung des Rufenden, ich schenke mit meinen Blicken dem Rufenden die Aufmerksamkeit, die von der Dringlichkeit seines Anrufs erheischt wird.

Blicke sind mit unterschiedlichen Dosen von Aufmerksamkeit geladen.

Wir erblicken am Gegenstand die uns sichtbaren Aspekte, die uns nicht sichtbaren, die verdeckten und verborgenen kann uns jemand nennen oder erklären, dessen Überblick und Weitblick wir vertrauen.

Der Blick, der von der Zentralperspektive eines Renaissancegemäldes sicher und ruhig geführt wird, der Blick, der sich in barocken Schlinggewächsen von Ornamenten und Arabesken oder im romantischen Gewirr von Schattenlinien verliert.

Einer, der mit offenem Visier mit uns redet, einer dessen Rede, auch wenn er klar spricht, zweideutig und rätselvoll wirkt, weil seine Augen wie verschleiert, seine Blicke undurchdringlich sind.

Ähnlich wie wir uns selbst im Spiegel nicht als fremden Körper erblicken, sehen wir den Leib des anderen nicht als Fremdkörper.

Wir sehen den Leib des anderen nicht als Organismus, den wir mit der Intentionalität unserer Blicke allererst beleben; wir sehen eine Leiche nicht als einen Körper, von dem die belebende Intentionalität unserer Blicke absorbiert wird.

Wenn wir mit ihnen hantieren und die tausendfältigen Bewegungen unserer alltäglichen Verrichtungen ausführen, betrachten wir unsere Hände nicht, sie fallen uns nur wie flüchtige Randexistenzen ins Auge, die vom Schatten gewohnter Routinen bedeckt sind. Wenn wir uns in den Finger geschnitten haben, sehen wir genauer auf unsere Hand, doch wird sie uns auch dann nicht zum neutralen Untersuchungsgegenstand wie unter dem ärztlichen Blick.

Unsere beweglichen Hände, unsere starre Nase, die fragmentierte Vorderansicht unserer Gliedmaßen sehen wir nicht als neutrale Gegenstände wie die Vorderseite eines Möbels, sondern als beständig wechselnde, fluktuierende Aspekte unseres leibhaftigen Daseins.

Unsere Scham entblößen wir nur dem intimen Blick des innig Vertrauten oder dem neutralen des Arztes. Die vom Befehlshaber erzwungene Entblößung wie jene des Kruzifixus ist eine Form der Entwürdigung und öffentlichen Demütigung.

Eigentlich ist der Anblick des nackten, verkrampften, blutüberströmten Christus am Kreuz, wie sie uns der Isenheimer Altar zumutet, nur dem Auge des Frommen erträglich, der an die Auferstehung seines verklärten Leibes glaubt.

Die intersubjektive Wahrheit im Anblick des anderen beruht auf dem Wissen, daß er wie wir selbst vom Weib geboren und dem Tode preisgegeben ist.

Bevor wir noch der Sprache mächtig sind, hat uns der Blick der Mutter in die gemeinsame Welt aufgenommen.

Der Anblick des Göttlichen versehrt, ein Blick ins Paradies würde uns, mit dem Grind der Sünde behaftet, stigmatisieren. „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben.“

Wer uns sähe, wie wir sind, und doch die Augen nicht vor Abscheu oder Scham verschlösse. – Eine Wendung, mit der wir theologisch die Hoffnung auf Gnade und Vergebung ausdrücken.

Strömt etwas Dunkles auf dem Grund unserer Selbstempfindung, das Pascal im Grauen der leeren Räume sah, das wir in manchen Stücken Schuberts vernehmen?

Daß sich der unsichtbare Gott im Sohn inkarnierte, hat die großen Maler des Abendlandes auf die äußerste Probe gestellt, in seinem Antlitz, um seinen Mund, in seinem Blick die überirdische Anmut des Erlösten sichtbar werden zu lassen.

Als trügen wir den Kredit einer außerordentlichen Begegnung, ob wunderbar oder schrecklich, ein Leben lang mit den kleinen schimmernden oder schmutzigen Bildern der Erinnerung ab.

Sich beobachtet fühlen, die Lust des Exhibitionisten, die Marter des Paranoiden.

Das Kind, das die Hände vors Gesicht schlägt und meint, da es selbst nichts sieht, sei es unsichtbar, für die anderen nicht da. Ist dies eine bizarre Exemplifizierung der Annahme des Philosophen Berkeley „esse est percipi“?

Freilich, gesehen werden können ist die elementare soziale Tatsache, die mit den Blicken des Sozius seine Ansprüche, Urteile und Verurteilungen an uns heranträgt. Daher der Wunschtraum von der Tarnkappe des Märchens, die ihren Träger ungestraft allerlei Mutwillen und Schabernack treiben läßt.

Der Voyeurismus des antiken Mythos und die Züchtigung der Schaulust bei den alten Juden.

Der wollüstige, fleischliche Blick des Augustinus, welcher der bösen Tat vorauseilt.

Die Leere und Kargheit des Synagogenraums, die Luther, Calvin und Zwingli inspirierten, und die der Schaulust sich darbietende Fülle barocker Kirchen.

Freilich, was von der Inkarnation wie ein Scherflein und Brosamen der Erinnerung blieb, Brot und Kelch der Eucharistie, schenkt dem Auge keinen Trost.

Die gebrochenen Augen des Verstorbenen, die pietätvolle Scheu verschließt.

Werden wir uns wiedersehen? Die entscheidende Frage der Liebe und der religiösen Hoffnung.

Dichter diskreter, scheuer, umwölkter Blicke wie Vergil, offener, sprechender, glänzender wie Goethe.

Segensblicke der Gestirne bei Hölderlin, blitzende Sargnägel bei Büchner.

Der Blindheit des homerischen Sängers gönnte man die Fülle der Gesichte, der Antiprophet der Moderne wendet den Blick ab, nachdem er sich in ihren Lazaretten und Lagern an Wunden und Gebresten sattgesehen hat.

Das Trauma will das Schreckbild mit seinem geronnenen Blut überkrusten.

 

Comments are closed.

Top