Das Maß der sozialen Zeit
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wie klingt die Glocke in der Erinnerung?
Leiser, schwächer, gedämpfter als die wirklich gehörte?
Welchen Farbton hat die Orchidee, an die du dich erinnerst, sie kürzlich im Tropenhaus des botanischen Gartens bewundert zu haben? Ist er blasser, verschwommener, diffuser als die Farbe, die du sähest, stündest du direkt vor der Blume?
Du erinnerst dich daran, wie du vor einer Woche durch den Park gegangen bist. Siehst du dich selbst in der Erinnerung? Auch von der Seite, von oben, von hinten? Siehst du dich wie im Spiegel? Farbig oder in Schwarz-weiß, plastisch oder wie einen körperlosen Schatten?
Du könntest dich darin irren, mich vor einer Woche im Park getroffen zu haben. Und wenn du mich als Zeugen angibst, weil ich deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen soll, müsstest du auch mit meiner Gedächtnisschwäche rechnen.
Und dasselbe gilt, wenn wir uns an unseren Freund Peter wenden, der zufällig an diesem Tag auf uns gestoßen ist. Sicher, dass drei Leute sich in Bezug auf ein nahe zurückliegendes Ereignis irren, ist weniger wahrscheinlich, als dies bei einer Person zu sein pflegt, aber nicht unmöglich.
Wenn du den Tag der letzten Woche, an dem wir uns deiner Ansicht nach im Park getroffen haben, in deinem Kalender verzeichnet hast, und wenn dieser Eintrag sogar mit meinem Eintrag in meinem Kalender übereinstimmen würde, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns über das Ereignis nicht irren, aber sie erreicht nicht den Grad vollständiger Gewissheit, denn wir könnten uns beide beim Eintrag in den Kalender vertan haben.
Wir scheinen der Wahrheit auf der Spur zu sein, wenn wir feststellen, dass an dem Tag unseres Treffens abends ein Feuerwerk stattfand oder dass Vollmond war. Ein Blick in die Zeitung oder die Stadtchronik und ein Blick in den astronomischen Kalender versichern uns der Tatsache, dass ein solches Ereignis an dem betreffenden Datum stattfand.
Doch dies ist offenkundig eine zirkuläre Auskunft, denn dass an dem Tag unseres Treffens das Feuerwerk stattfand oder es Vollmond war, setzt voraus, dass wir uns genau daran erinnern, am Tag des Feuerwerks oder des Vollmonds im Park gewesen zu sein.
Wir können nur sagen, dass es nach dem exakten astronomischen Kalender Vollmond gewesen sein muss, wenn unsere Annahme richtig ist, dass wir an diesem Tag im Park gewesen sind.
Wir können sagen, dass Caesar am 10 Januar 49 vor Christi Geburt den Rubikon überschritt, wenn wir den schriftlichen Quellen der Historiker Glauben schenken, die über dieses Ereignis übereinstimmend berichten. Unser Glaube erhält das Maß einer hohen Wahrscheinlichkeit, wenn die das Ereignis bezeugenden Quellen voneinander unabhängig sind, aber er kann nicht das Höchstmaß vollständiger Gewissheit erlangen.
Haben wir ein verlässliches Zeitbewusstsein? Die erinnerte Zeit hat kein Maß wie der Kalender Tage oder der astronomische Kalender Zahlen, beispielsweise die Anzahl der Umläufe des Monds um die Erde oder der Erde um die Sonne. Und das Kommende bleibt im Letzten verborgen und ungewiss. Für die Wahrnehmung der Gegenwart scheint nur ein diffuser Augenblick zwischen zwei Ungewissheiten übrig zu bleiben.
Doch wir haben ein soziales Maß des Zeitbewusstseins, ein Maß, in dem wir mit anderen Personen oder Institutionen durch Verbindlichkeiten oder Verpflichtungen in der Vergangenheit und der Zukunft verbunden sind.
Eine Verpflichtung wie die Abtragung von Schulden impliziert eine zeitliche Erstreckung von der Vergangenheit, wie dem Zeitpunkt der Aufnahme des Kredits und der Unterzeichnung des Kreditvertrags, bis zu einem Datum oder Termin in der Zukunft, wie dem Tag, an dem der Kredit samt Zinsen abgetragen worden sein wird. Die Zeitstrecke wird naturgemäß jeweils vom gegenwärtigen Zeitpunkt aus betrachtet, wobei die Gesamtstrecke wie beim Kreditvertrag gleich bleiben kann, sodass nur der Beobachterstandpunkt auf dieser Strecke kontinuierlich vom Anfangs- bis zum Endpunkt wandert. Sollte der Kreditnehmer die Restschulden zu einem früheren Termin als dem vertraglich festgelegten ablösen, verkürzt sich die Zeitstrecke entsprechend.
Jede Verbindlichkeit hat ihren zeitlichen Ursprung in der Gegenwart und die jeweils abgelaufene Zeit ihrer Erfüllung definiert eine Strecke der Vergangenheit und der verbleibenden Restzeit oder der Zukunft.
Das Versprechen bezieht sich auf ein Ereignis der Zukunft, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit sowohl eine Funktion des Willens dessen ist, der es gibt, als auch eine Funktion jener nicht voraussehbaren Ereignisse, die sein Eintreten oder die Erfüllung des Versprechens wider Willen verhindern.
Das Einhalten eines Versprechens, insbesondere unter ungünstigen Umständen, die seine Erfüllung hätten in Frage stellen können, ist ein praktischer Beweis des freien Willens.
Wir leisten ein gültiges Versprechen oder versprechen etwas redlich und aufrichtig, auch wenn wir nicht wissen können, ob wir in der Lage sein werden, das Versprechen zu erfüllen.
Derjenige, dem wir ein Versprechen geben, kann aufgrund der Schwäche der menschlichen Natur und der Unwägbarkeiten des Schicksals weder mit Gewissheit noch Zuversicht auf seine zukünftige Erfüllung blicken, doch angesichts der Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit dessen, der das Versprechen gibt, mit Hoffnung.
Hoffnung ist demnach eine wesentliche menschliche Haltung gegenüber Ereignissen der Zukunft.
Das gleiche gilt für die Dankbarkeit als Haltung gegenüber der Vergangenheit. Wir bedanken uns bei demjenigen, der sein Versprechen eingelöst hat, eingedenk der Aufmerksamkeit und Mühe, die ihm seine Erfüllung abverlangt hat.
Wir können nicht für ein Ereignis dankbar sein, von dem wir annehmen müssten, dass sein Eintreten aufgrund von natürlichen Gesetzen determiniert und nicht durch eine freie Tat herbeigeführt worden ist.
Reue und Schuld sind spezifische Haltungen gegenüber Ereignissen der Vergangenheit und gehören zur Dimension der sozialen Zeit.
Wir können etwas gesagt oder getan zu haben bereuen oder uns wegen des Gesagten oder Getanen schuldig fühlen. Doch können wir dies nur unter der kontrafaktischen Annahme, dass wir es auch nicht gesagt oder getan haben könnten.
Unsere Verwendung der Begriffe Reue und Schuld ist nur sinnvoll unter der Voraussetzung eines freien Willens.
Etwas zu bereuen und sich für ein Wort und eine Tat schuldig zu fühlen, heißt nicht nur, sich vorstellen zu können, das Wort wäre nicht gefallen oder die Tat nicht geschehen. Es erfordert auch die Annahme, es wäre besser gewesen, wenn die betreffende Handlung unterblieben oder eine angemessene Handlung ausgeführt worden wäre.
Reue und Schuld sind ausgezeichnete Haltungen unserer Freiheit und nicht wie es eine ihrer Begriffe nicht bewusste Psychologie will, generell als neurotische Symptome zu entlarven.
Das Leben in der sozialen Zeit, das sich in Haltungen wie der Verpflichtung und dem Versprechen, der Hoffnung und Dankbarkeit, der Reue und Schuld manifestiert, können wir als Kennzeichen der menschlichen Lebensform ansehen.
Das Maß der sozialen Zeit ist nicht vergleichbar oder reduzierbar auf das Maß physikalischer oder biologischer Abläufe.
Tiere können keine Verpflichtungen eingehen, nichts versprechen und für die Einlösung einer Zusage nicht dankbar sein, sie können ebensowenig Reue oder Schuld für etwas empfinden, was sie hätten unterlassen oder anders tun können.
Wir können die Begriffe, die wir benötigen, um Handlungen zu bewerten, aus dem Konzept der sozialen Zeit und der sie erfüllenden Haltungen ableiten.
Die elementaren Begriffe der Bewertung von Handlungen sind Lob und Tadel. Sie gehören als Aspekte der Verbindlichkeit von Handlungen zum Maß der sozialen Zeit.
Wir loben denjenigen, der ein Versprechen trotz widriger Umstände eingelöst, und tadeln denjenigen, der es trotz günstiger Umstände nicht eingelöst hat.
Wir können demjenigen, der eine tadelnswerte Handlung verübt hat, aufgrund seines reumütigen Eingeständnisses vergeben und verzeihen.
Wenn wir den Hund tadeln, weil er das ihm zugeworfene Stöckchen nicht apportiert hat, indem wir ihm beispielsweise das erwartete Leckerli vorenthalten, gebrauchen wir den Begriff des Lobes oder des Tadels metaphorisch. Denn es handelt sich bei dem Vorgang um eine Form der Verhaltenskonditionierung.
Eine institutionell reglementierte und rechtlich formalisierte Variante des Tadels ist die Strafe, mit der ein Vergehen oder Verbrechen geahndet wird. Im Unterschied zum Tadel wohnt der Strafe stets jener Sinn von Gerechtigkeit inne, der sich in der Sühne oder Genugtuung des Geschädigten zeigt.
Der Begriff der Strafe verlöre jeden Sinn, würde dem Verbrecher das zu ahnende Vergehen nicht als spontane Tat oder willkürliche Handlung sua sponte zugerechnet.
Der Gedanke der Sühne impliziert die Vorstellung, die Straftat durch die Entschädigung des Betroffenen gleichsam rückgängig zu machen.
Der Gedanke der Vergebung impliziert die Vorstellung, die auf dem Täter lastende Schuld gleichsam von seinen Schultern zu nehmen.
Das Maß der sozialen Zeit drückt sich bei der Strafe beispielsweise in der Anzahl von Jahren aus, die der verurteilte Verbrecher zur Verbüßung seiner Tat im Gefängnis verbringen muss.
Wir könnten sagen, dass wir Lebewesen, deren Verhalten prinzipiell nicht gelobt und getadelt oder deren Handlungen prinzipiell nicht bestraft oder denen ihr Vergehen nicht verziehen werden kann, nicht zu den Teilhabern unserer Lebensform rechnen.
Wir könnten sagen, dass wir Lebewesen, denen das Maß der sozialen Zeit, wie es sich in typischen Haltungen der Verpflichtung und Verbindlichkeit und demgemäß in typischen Einstellungen zu vergangenen und zukünftigen Ereignissen wie Reue und Schuld, Hoffnung und Dankbarkeit, Sühne und Vergebung manifestiert, nicht zugänglich ist, nicht zu den Teilhabern unserer Lebensform rechnen.
Gewiss erinnern wir uns daran, ein Versprechen gegeben oder entgegengenommen zu haben, doch benötigen wir dazu keine mentalen Bilder.
Um das Maß der sozialen Zeit zu erfassen, reicht die Analyse des phänomenalen Zeitbewusstseins nicht aus.
Die phänomenologische Analyse des Zeitbewusstseins geht ins Leere oder bleibt in den Fallstricken der Ungewissheit hängen.
Sich daran zu erinnern, ein Versprechen gegeben, aber nicht eingehalten zu haben, heißt sich schuldig zu fühlen, und sich an die Erfüllung eines Versprechens zu erinnern, heißt demjenigen, der seine Zusage eingehalten hat, dankbar zu sein.
Jemanden an eine Verbindlichkeit oder ein Versprechen zu erinnern, heißt ihn gleichsam auf eine Wegstrecke der sozialen Zeit zurückzurufen.
Comments are closed.