Skip to content

Die Macht des Namens

29.10.2017

Sentenzen und Aphorismen zur Semantik des Namens

Wir stellen einander mit Namen vor, einem Lautkomplex, der aus allen anderen Verlautbarungen hervorsticht, weil er das spezifisch Humane kennzeichnet: jemand zu sein und nicht ein Niemands-Ding.

Einen vollständigen Eigennamen aus Vorname und Familienname zu vernehmen und ihn seinem Träger zuzuordnen impliziert das Wissen, daß es sich dabei weder um ein Ding noch um ein Tier, sondern um eine Person mit einem Bewußtsein handelt. Der Eigenname enthüllt uns den ontologischen Status des menschlichen Daseins.

Wir verwenden menschliche Eigennamen auch dazu, ihren Träger zu identifizieren; dabei nehmen wir gewöhnlich Bezug auf seine Herkunft. So fragen wir: „Er heißt Pierre – ist er Franzose?“ Oder wir fragen: „Meinst du den Komponisten aus München oder den aus Wien (wenn jemand den Namen Strauß oder Strauss erwähnt hat)?“ Diesen Satz könnten wir ohne Bedeutungsverlust auch ersetzen durch den Satz: „Meinst du den Komponisten aus Deutschland oder Österreich?“ oder ebenso: „Meinst du den deutschen oder den österreichischen Komponisten?“

Wir identifizieren also den Träger eines Eigennamens gewöhnlich mittels Bezugnahme auf seine Herkunft; dabei ist es charakteristisch für die Form vieler Namen, daß die Herkunft ihres Trägers an der Bildung seines Namens erkennbar ist: „Peter“, „Johanna“, „Michael“, „Josephine“, „Karl“ oder „Barbara“ sind Namen, aufgrund deren wir geneigt sind, ihren Trägern eine deutsche Herkunft zuzusprechen. Zugleich sind die genannten Vornamen Indizes der christlichen Herkunft oder des christlich geprägten Umfelds ihrer Träger oder deren Eltern, ob sie nun getaufte Christen sind oder nicht. Diese Namensbildung verweist uns, anders als Namen wie „Dietmar“, „Hagen“, „Elfriede“ oder „Isolde“, auf einen historischen und epochalen Hintergrund, nämlich die Epoche, die durch die Christianisierung Deutschlands geprägt worden ist.

Es ist bemerkenswert, daß die traditionelle Bildung von Namen deutscher Träger aus Vornamen und Nachnamen besteht, wobei der Nachname der Name des Vaters ist. Wir nennen diese Art der Namensbildung patronym, und sie verweist uns auf den patrilinearen Zweig der Abstammung seines Trägers, ein Indikator für die über Jahrtausende gültige Form europäischer Verwandtschaftsbeziehungen mit dem Kernbestand der Familie. Diese Form der Namensbildung finden wir im alteuropäischen Geschichtsraum erstmals voll ausgeprägt bei den Römern: Gaius Iulius ist jene Person, die der Gens der Iulier (Gentilname oder Bezeichnung der väterlichen Linie) entstammt und den Vornamen Gaius führt; um die Identifizierung zu erleichtern, haben die Römer Namenszusätze wie das Cognomen Caesar verwendet, so daß der volle Name lautet: Gaius Iulius Caesar.

Wir können sagen: Die Tatsache, daß Menschen Namen tragen, ist ein Universale; sie werden damit als Personen gekennzeichnet. Die konkrete Form der Namensbildung ist ein Partikulare; sie nimmt Bezug auf die jeweilige historisch-genealogische Herkunft der Person.

Es ist merkwürdig zu beobachten, daß die mythischen Hochgötter der Griechen, Römer und Germanen Zeus, Jupiter, Tyr Namen tragen und damit als Personen angesprochen werden. Sie enthalten alle das in „divus“ und „deus“ steckende indogermanische Etymon, aus dem wir die Bedeutungen „hell“, „Tag“, „Strahl“, „Licht“, „Himmel“ erschließen können. Der helle Tag, der weite Himmel, aber auch der grelle Blitz scheinen somit die ursprüngliche Erfahrung des frühen Menschen gewesen zu sein, die sein Gottesbild prägten und gleichsam die Hermeneutik seiner mythologischen Namensbildung inspirierten.

Doch scheint es ein Fehlschluß zu meinen, der Name des höchsten Himmelsgottes sei eine Allegorie, in der sich eine uns heute offensichtlich falsch erscheinende Erklärung gewisser Naturerscheinungen nach Analogie menschlichen Wollens und Handelns niedergeschlagen habe. Die Leute haben es ja gewiß auch vor ein paar tausend Jahren richtig so aufgefaßt, daß es hell wird, wenn die Sonne aufgeht. Vielmehr ist es umgekehrt, sie erfuhren die Natur und alles Lebendige, auch ihr eigenes Dasein, als göttlichen Ursprungs und von himmlischen Mächten durchwaltet.

Dagegen fließt in den Namen des christlichen Gottes ein historischer Name ein, Jesus, wenn er auch gleichsam von dem charismatischen Titel, dem man seinem Träger zuerkennt, verschlungen und aufgesogen wird: (Jesus) Christus.

Magie ist die Beschwörung heilsbringender oder vernichtender Mächte durch Anrufung der Namen ihrer Repräsentanten.

Der trinitarische Gott offenbart sich in den Sakramenten von Taufe und Eucharistie mittels der verwandelnden Macht seines Namens.

Der Ursprung des Gebets ist die Anrufung eines heiligen Namens.

Das systematisch oder nach Mustern geordnete Geflecht der verwandtschaftlichen Namen ist das ursprüngliche Deutungsmuster des Menschen, um sich und die Welt und sich in der Welt zu verstehen.

Der Ursprung des mythischen Hymnus und Epos ist das genealogische Geflecht der Götternamen.

Das menschliche Gefühl für Rangunterschiede, Geltung und Prestige knüpft sich an den Namen: Wer wird zuerst genannt – in einer Versammlung, einer Audienz, einem Forum? Wessen Name ist in aller Munde? Wessen Name wird peinlich verschwiegen? Welcher Name verbreitet mehr zauberischen Klang, verführerischen Duft, süßere Erinnerungen?

Die Namen adliger Geschlechter sind sowohl historisch als auch mythisch, denn ein Iulier wie Caesar zu sein, bedeutet historisch, der italischen Gens Iulia anzugehören, und mythologisch, seine Abstammung über den Trojaner Aeneas auf die mythische Göttin Venus zurückzuführen.

Man könnte auch sagen, der Anspruch, sich zum Adel zu rechnen, geht auf den Anspruch zurück, sich göttlicher Herkunft zu rühmen.

Sobald wir auf Namen von Personen treffen, dringen wir in den geschichtlichen Raum ein, denn das Wahr- und Kennzeichen historischer Überlieferung ist die Tatsache, daß ihre Dokumente, Berichte, Annalen, Historien, Urkunden oder Briefe gleichsam eine Ableitung oder Funktion der Namen darstellen, deren Unterschrift und Siegel sie tragen oder von deren Trägern und namentlichen Adressaten sie handeln.

Dank der Namen und der rühmenden Aufzeichnung der Taten ihrer Träger haben sich literarische Gattungen wie die Res gestae, Preislieder wie das pindarische Epinikion, die Lobrede oder die Grabrede gebildet.

Wir ermessen die singuläre Bedeutung des Namens auch an dem Gewicht und der Würde, die den Ritualen anhaften, mit denen Neugeborenen ihr Name zugesprochen wird, wie der Taufe, ebenso wie den Ritualen und Gesten, mit denen den Verstorbenen eine Hoheit als Person verliehen wird, die sie über den irdischen Zerfall hinaus vor dem Vergessen zu bewahren suchen, wie die Inschriften der Grab- und Gedenksteine, die sich um den Namen ranken.

Die Vorstellung der unsterblichen Seele ist eine Allegorie des Namens.

Gewalt und Pracht wurzeln in der mythischen Substanz der Namen.

Die islamische Expansion dient der Verbreitung und Glorifizierung des Namens Mohammed.

Caesar errichtete auf dem Forum Romanum ein Forum Iulium, das der Verewigung des Namens seiner vergöttlichten Gens dienen sollte.

Horaz baut dem eigenen Namen mit seiner Ode ein aere monumentum, das dem Zahn der Zeit wiederstehen soll.

Der Antrieb und Sinn von politischer Herrschaft wurzelt in der Mehrung und Verkündigung des Namens der eigenen Familie und Sippe, ihm soll Ehre zuteilwerden, ihm Ruhm und langes Gedenken.

Der neue Herrscher, der Emporkömmling, der Tyrann löscht den Namen des Vorgängers aus den öffentlichen Monumenten: damnatio memoriae.

Im Preis und der Verherrlichung des Namens offenbart sich gleichsam das Urlicht des Lebens.

Der Erwählte, der Prophet, der Konvertit nimmt einen neuen Namen an, der ihn anders als der alte, fremde, heidnische allererst göttlichem Segen unterstellt.

Aber auch der Verbrecher, der in die Unterwelt abtaucht, legt sich einen neuen Namen zu, einen schlichten, unverfänglichen Namen, der mitunter seine geheime Anhänglichkeit an die von ihm verworfene bürgerliche Welt des Wohlanstands verrät.

Jakob erzwingt sich nach dem nächtlichen Ringen mit der überirdischen Macht Gottes Segen und erhält den Namen Israel.

Der Mißbrauch des heiligen Namens zieht den Fluch auf sich.

Gewisse Namen von Dämonen oder grausamen Herrschern werden mit einem Schweigetabu behaftet, um das Unheil nicht zu beschreien, das mit ihnen verbunden ist.

Andere werden bis zum Überdruß Tag für Tag in die Ohren unschuldiger Kinder gebrüllt, um sie mit der Schuld, die sich an den Namen knüpft, zu infizieren und sie sich durch moralische Einschüchterung ideologisch gefügig zu machen.

Wirkmächtige Namen wie „Penaten“ oder „Fatum“ verbergen sich gleichsam hinter einer anonymen oder unpersönlichen Maske.

Dichtung ist die Verwandlung der Begriffe in Namen.

Bei Rilke wird „Rose“ zum Namen eines ursprünglichen Daseins, zum Namen einer verborgenen Person.

Rilke duzt gleichsam die Rose.

Die Rose Rilkes ist nicht die Allegorie der Geliebten, sondern die Geliebte die Allegorie der Rose.

Als erscheine die Geliebte in verwandelter Gestalt, wie die Halluzination des Dufts der Rose, wenn man das Wort Rose als tantrischen Namen immer wieder vor sich hinspricht und in sich abspult wie die Perlen des Rosenkranzes.

In Goethes Lyrik werden die Begriffe „Mond“, „Wasser“, „Blume“, „Sonne“ oder „Frühling“ zu Namen einer Seele, die in allen atmet, doch in keinem ganz erscheint, in allen sich regt, doch in keinem ihr Gesicht ganz enthüllt.

Es ist seltsam, sich vorstellen zu können, einer habe den eigenen Namen vergessen, und bliebe doch die Person, die er immer war. Kann man sagen: „Ich habe meinen Namen vergessen“ oder ist es schlichtweg unmöglich, dies zu sagen und dabei zu meinen, was man sagt, weil diese Aussage implizierte, daß man nichts mehr oder nichts Sinnvolles mehr sagen könnte?

Wir denken öfter an den und jenen, doch fällt uns sein Name nicht ein – das quält uns mehr, als wenn es sich um einen Ortsnamen oder den Namen einer historischen Persönlichkeit handelt, und wir sind erleichterter, wenn jener uns wieder einfällt als einer von diesen.

Würde man die Namen seiner Eltern und aller Anverwandten, die Namen der Freunde und Nachbarn, die Namen seines Geburtsortes und aller Orte, an denen man gelebt hat, den Namen des Orts, an dem man jetzt lebt, mit einem Schlage vergessen, wäre man aus den Fugen der Welt geraten, wäre man nicht mehr man selbst.

Namen sind die Landmarken unserer Lebensform.

Der eigene Name hat die Macht der Beglaubigung, fehlt er als Unterschrift unter dem Vertrag, dem Testament, der Patientenverfügung, bleiben all solche Urkunden und Dokumente unwirksam.

Die Schauspieler, die Klytämnestra, Medea, Ophelia, Ödipus, Richard III., Mephistopheles oder Woyzeck darstellen, müssen sich in gewisser Weise in Klytämnestra, Medea, Ophelia, Ödipus, Richard III., Mephistopheles oder Woyzeck verwandeln, dann aber treten sie vor den herabgesenkten Vorhang und nehmen den Applaus im Namen ihrer ganz normalen, gutbürgerlichen Existenz entgegen. Wie seltsam dies ist!

Der Spion oder der untergetauchte Terrorist nimmt mit dem fremden Namen eine neue Existenzweise an. Bleibt er unter der Maske ganz die Person, die er zuvor war, oder verwandelt er sich allmählich in eine andere?

Würde der Dichter, der seine Gedichte unter einem Pseudonym veröffentlicht, dieselben Gedichte schreiben, schriebe er sie im angestammten Namen?

Schriebe der Dichter, der seine Gedichte unter dem Pseudonym „Serenus“ veröffentlicht, dieselben Gedichte, wenn er sich das Pseudonym „Amarus“ zulegte?

Goethe hat in Italien unter dem Pseudonym „Maler Müller“ gelebt, aber die dort entstandenen oder entworfenen Gedichte wie die „Römischen Elegien“ unter seinem Namen veröffentlicht. Das Pseudonym war in diesem Falle also eine bloße Maske.

Ist es möglich, daß ein und dieselbe Person heute der friedliche, sanftmütige, gebildete Herr Dr. Jekyll sein kann und morgen der rasende, triebhafte, mörderische Mr. Hyde? Wir gehen davon aus, daß dies nur auf der Bühne der Fiktion vorstellbar ist. Denn wenn Dr. Jekyll abtritt und Mr. Hyde auftritt, ist er nicht mehr vorhanden. Oder ist es sinnvoll anzunehmen, der teuflische Verwandlungstrank beginne allmählich zu wirken und Dr. Jekyll beobachte, wie er sich immer mehr in Mr. Hyde verwandelt und am Ende ist gleichsam nur noch ein kleiner Spalt seines alten Bewußtseins geöffnet, durch den er die scheußliche Fratze des Mr. Hyde im Spiegel sieht, dann schließt er sich ganz und sein Bewußtsein geht vollständig in das des Bösewichts auf?

Wir sagen wohl von einem extrem wankelmütigen oder intriganten oder unter manischen Schüben leidenden Menschen, er habe zwei Gesichter, aber nicht: „Jetzt ist der Mann, der heute Morgen Herr Meier war, Herr Schreier.“ Oder: „Heute morgen habe ich Herrn Meier gesehen und eben Herrn Schreier gesprochen. Übrigens sind beide dieselbe Person.“ Aber wir können sagen: „Heute Abend scheint mir Herr Meier, mit dem ich mich heute Morgen angeregt unterhalten habe, wie ausgewechselt.“

Man kann sich nicht selbst anonym werden wie Leute, die sich auf einem Ball nicht ohne erotische Absichten als namenlose Masken begegnen, einander anonym bleiben wollen und bleiben können.

 

Comments are closed.

Top