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Lückenbüßer

12.01.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

An der Lücke in der Buchreihe oder der Zeile, am Fleck an der Wand, am Loch in der Gardine bleibt der Blick hängen.

Die Zunge, die immer wieder die Lücke des herausgefallenen Zahnes befühlt und betastet.

Mancher Fleck wirkt einnehmend, der Schönheitsfleck; leichtes Schielen charmant, der Silberblick. – Nicht so Pockennarben, nicht hervorquellende Augen.

Die Lücke in der Wahrnehmung füllen wir mittels Hypothesen über die Konstanz von Dingen und die Kontinuität von Ereignissen; den Ball, der in ein Rohr rollt und am anderen Ende wieder austritt, sieht schon das Kind für denselben Gegenstand an.

Den Mann, der abends das Haus betritt und morgens wieder verläßt, glauben wir nicht durch die Ereignisse der Nacht wesentlich verändert; den Träumen, die er hatte, billigen wir nicht zu, ihn in seiner Persönlichkeit einschneidend zu modifizieren.

Täten wir dies, lebten wir in einer anderen Welt; etwa in einer, wie sie uns Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ vor Augen führt.

Die fehlende Silbe, das ausgefallene Wort, die Lacuna einer Textzeile füllt der kundige Philologe mittels Analogieschluß vom Kontext auf das Gemeinte, Sinnvolle, Ähnliche aus. Der Kontext kann der übergeordnete Abschnitt, das ganze Buch, das ganze Werk des Schriftstellers sein.

Analogien sind die Lückenbüßer des menschlichen Denkens.

Das sprachlich fortgeschrittene Kleinkind bildet zu dem öfters gehörten Ausdruck „länger“ oder „dunkler“ den analogen „guter“ oder „nächter“ (vom Substantiv Nacht). Auch wenn es danebengreift, beweist es mit solchen analogen Bildungen eine gleichsam poetisch-grammatische Fähigkeit.

Analogien sind bisweilen schwache Kerzen, die ein fragwürdiges Dämmerlicht auf die nächtliche Umgebung werfen oder die Konturen der Dinge gespenstisch verzerren.

Manchmal bieten Analogien den Trost einer kampflos errungenen Gewißheit. Doch kommt er, der unerbittliche Sturm des Schicksals, der diese anheimelnden Kerzen ausbläst.

Die Wissenschaft geht fehl, wenn ihre Sprache in Analogieschlüssen luxuriert; Freuds Annahme über den Vatermord der urzeitlichen Horde ist eine phantastische und unerweisliche Analogie aus der Theorie des ödipalen Konflikts in der Individualentwicklung.

Eine sinnreiche Analogie aber ergibt sich aus der Annahme, die frühen Entwicklungsphasen des Spracherwerbs beim heute lebenden Kind ließen Rückschlüsse auf die sprachliche Entwicklung der menschlichen Frühzeit erkennen.

Zunächst sind die kindlichen Lautäußerungen ungeformte Einwortsätze, deren Funktionen als Ausdruck, Aufforderung oder Benennung, wenn der Äußerungskontext keine näheren Aufschlüsse zuläßt, noch ungeschieden auftreten. „Wauwau!“ kann heißen: „Oh, was für ein lieber Hund“; „Gib mir das Hündchen zum Spielen!“; „Schau mal, da ist ein Hund!“

„So wie es bei uns ist, muß es überall sein!“ – Sagt der Philister, der sich andere Lebensformen nicht vorstellen kann, aber auch der Kosmologe, der davon ausgeht, daß im Rest des Universums alles so aussieht oder nach denselben Gesetzen abläuft wie in dem von uns beobachteten Ausschnitt.

Die Kriterien der Identität sind andere als die der Ähnlichkeit. – „Heute habe ich Peter auf der Straße gesehen.“ – „Peter weilt zur Zeit in Amerika, wen du gesehen hast, war sein Zwillingsbruder Hans, der kürzlich in unser Viertel gezogen ist.“

Fehlende Teile und Glieder ergänzen wir spontan am projektiven Bild der ganzen Gestalt.

Der Paläoontologe schließt vom Fußabdruck im Sand auf den aufrechten Gang, vom einzelnen Zahn auf die Struktur des Gebisses und die Ernährungsweise, vom Unterkiefer auf die Form des Gesichts. Aber die Datierung seiner Funde anhand des radioaktiven Zerfalls von Isotopen ist kein Analogieschluß, sondern ein deduktiver Schluß von den physikalischen Daten auf das Alter.

„Das sieht ihm ähnlich!“ – Wir schließen von einer Reihe von Verhaltensbeobachtungen auf den Charakter eines Menschen, das heißt auf seine Disposition, sich in ähnlichen Situationen ähnlich zu verhalten. Doch bisweilen müssen wir uns eingestehen, daß wir ein bestimmtes Verhalten nicht erwartet hätten.

Wittgenstein glaubte, in bestimmten, wenn nicht den meisten Fällen die Identität der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken durch die Ähnlichkeit der Sprachspiele ersetzen zu können, in denen sie verwendet werden. Spiele sehen sich mehr oder weniger ähnlich, doch lassen sich nicht alle als Instanzen eines Allgemeinbegriffs darstellen oder aus einer allgemeingültigen Definition ableiten.

Doch von der Ähnlichkeit von Familienangehörigen zu sprechen, ist nur sinnvoll, wenn wir wissen, daß sie miteinander verwandt sind: Verwandtschaft aber beruht ihrerseits nicht auf Ähnlichkeit, sondern auf Abstammungslinien, die wir objektiv mittels DNA-Analyse verifizieren können.

Familienmitglieder können sich trotz Verwandtschaft manchmal nicht ähnlich sehen.

Identität ist der logisch ursprüngliche, Ähnlichkeit der abgeleitete Begriff.

Die Analogieschlüsse des Philologen, der die Lücke im Text durch sinnadäquate Ausdrücke komplementiert, beruht auf der Annahme der Identität des Autors, bei einem anderen Autor wäre der gewählte, die Lücke füllende Ausdruck nicht sinnadäquat.

Sprechhandlungen wie die Aufforderung, die Frage, das Versprechen sind Instanzen oder Exemplifizierungen jenes Typus von Sprechhandlung, den wir Aufforderung, Frage oder Versprechen nennen. Der Typus bildet die semantische Identität, die Instanzen Variationen auf dasselbe Thema, die einander ähnlich sind.

Wir können neue Typen, Begriffe, Strukturen von Sprechhandlungen erfinden; so erfanden wir in Analogie zur echten Frage die rhetorische Frage, in Analogie zur behauptenden Aussage die ironische Aussage.

Wir können von der Ähnlichkeit nicht auf Verwandtschaft oder die Identität des Begriffes schließen; der Sprachcomputer spuckt Zeichen aus, die denen der menschlichen Sprache ähnlich sind, aber wenn wir ihn einem Turing-Test unterziehen, der seine Verlautbarungen nach Kriterien des spontanen Vorgangs von Dialogen zwischen Menschen bemißt, besteht er ihn nicht.

Der kindlich Fromme nennt Gott Vater; diese helle Kerze familiärer Analogie ward Nietzsche von jenem Sturmwind ausgeblasen, den er Fatum nannte. Doch sein eigener Analogiezauber hieß: Amor fati.

Das Versagen der Analogie zwischen unseren Begriffen und dem unbegreiflichen Dunkel des Daseins erleben wir als Schwermut.

Mit der Entdeckung des Unähnlichen, der irrationalen Zahl bei Pythagoras, beginnt das philosophische Grübeln; mit der Erfahrung der Unverhältnismäßigkeit von Leid und Gerechtigkeit, wie bei Hiob, das theologische.

Wir können nur die Früchte von den Bäumen im Garten der Sprache pflücken, den wir sorgsam hegen und pflegen. Er kann durch die Invasion freßwütig schmatzender Raupen Schaden nehmen, durch den Sturm der Geschichte verwüstet werden.

Die Einschußlöcher im Nervengeflecht des Bewußtseins und Selbstgefühls, die feindselige Worte und schartige Gesten uns rissen, wachsen nicht wieder zu und bleiben wundenwach, wenn wir sie immerfort mit der Zunge der Erinnerung belecken.

Dem Archäologen stehen reichlich Scherben und Steine zur Verfügung, mit denen er die zerstörten Stellen und blinden Flecken des ramponierten Mosaiks nach Analogie des projektiven ganzen ergänzt; die zerstörten Stellen der Erinnerung, die uns traumatisches Erleben weggekratzt hat, suchen wir vergeblich mit dem lebendigen Material zu flicken, das wir dem Zellverband unseres Bewußtseins entreißen. So erklärt sich manches Stolpern und Stottern, so Verlegenheit und Verstummen.

Wir können einen Satz verstehen, wenn wir wissen, daß er nach Analogie eines anderen Satzes gebildet ist, den wir verstanden haben. Doch zu unserem individuellen Leben steht uns keine Analogie zur Verfügung.

Unser Leben ist in vielerlei Hinsicht eine Exemplifizierung typischer Lebensläufe; doch in den Biographien anderer Leute herumzuwühlen und zu buddeln, bringt uns nicht auf den Grund der eigenen.

Sieht ein Zwilling dem anderen auch noch so ähnlich, sind es doch zwei getrennte Wesen. 4/4 und 1 sehen sich überhaupt nicht ähnlich, und sind doch derselbe Zahlenwert.

Das Höchste, wozu wir es auf gedanklichem Wege bringen, ist zu sagen, daß etwas so oder so ist; zu sagen, daß die Frucht in dieser Schale ein Apfel ist, ist etwas anderes als der Ausdruck der Wahrnehmung des Apfels in der Schale. Die Wahrnehmung des Apfels ist nicht die Feststellung des Sachverhalts, daß die Frucht in der Schale ein Apfel ist.

Wir können die Annahme oder die Aussage, daß die Frucht ein Apfel ist, verneinen, nicht aber die Wahrnehmung der Frucht.

Die Möglichkeit der Verneinung impliziert das Vorkommen eines Gedankens der Form, daß etwas so oder so ist.

Der Gedanke enthält eine unbegrenzte Kette möglicher Gedanken; denn aus dem Gedanken, daß dies so ist, folgt, daß es nicht der Fall ist, daß dies nicht so ist. Der Vorgang der Negation läßt sich beliebig iterieren.

Die Analogie führt uns zur Vermutung, daß etwas so oder so ist, nicht aber zur Feststellung des Sachverhalts, daß es so oder so ist, denn diese beruht auf dem Kriterium der Identität der Bedeutung.

Sachhaltig überprüfbare Gedanken und Aussagen bedürfen einer präzisen baumartig hierarchisierten oder netzartig verwobenen Ontologie, die sich in der Anwendung wissenschaftlicher Klassifikationen und Terminologien, wie der botanischen oder zoologischen, bewähren muß.

Wir haben indes keine Schwierigkeiten, das Kleinkind zu verstehen, das zu allem, was auf vier Beinen läuft „Wauwau“ sagt, wie wir selbst ohne Federlesens klare Urteile bilden, in denen wir von Sonnenuntergängen und Walfischen reden.

In der Sprache der lyrischen Dichtung finden wir eindrucksvolle Relikte einer prälogischen, animistischen und mythischen Stufe des Bewußtseins, die sich vorzüglich unter Anwendung von Analogien wie Blut und Leben, Springquell und Jubel, Wolke und Traum, Wasser und Tod zum Ausdruck bringt.

Die Äpfel, die uns in der Schale lyrischer Verse dargeboten werden, haben bisweilen den goldenen Glanz und purpurnen Schimmer eines unwirklichen Lichts, das eher dem Strahl des Monds eines fremden Planeten ähnelt als dem des Erdtrabanten.

 

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