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Sinneswahrnehmung und Möglichkeitssinn

06.03.2020

Zur Philosophie der Wahrnehmung I

Nehmen wir an, zwei Menschen sehen dasselbe Bild, ein Verkehrsschild, oder dasselbe gestische Zeichen, eine nach rechts weisende Hand, der eine stamme aus einem Kulturkreis, in dem es keine Verkehrsschilder gibt und die Gestik der Handzeichen unbekannt ist, der andere wärst du oder ich. – Wir können davon ausgehen, daß in beiden Beobachtern dieselben neuronalen Vorgänge der visuellen Sinneswahrnehmung ablaufen, doch der eine SIEHT ein Zeichen, während der andere KEIN Zeichen sieht, der eine versteht den SINN des Gezeigten, der andere hat keine Möglichkeit, ihn zu sehen.

Wir bemerken, daß ein Zeichen und der Sinn eines Zeichens nicht identisch mit dem neuronalen Vorgang ihrer Wahrnehmung sind.

Prägnanter noch läßt sich dieselbe Erkenntnis anhand der Wahrnehmung der bekannten Kipp-Figur „Enten-Hase“ ermitteln: Das Sehen des Bilds als Ente beruht auf DERSELBEN neuronalen Basis der visuellen Wahrnehmung wie das Sehen des Bilds als Hase; folglich ist der Sinn der wahrgenommenen Zeichen keine physische Entität und kein physisches Ereignis (wie das „Feuern bestimmter Neuronen“).

Jemand, der noch nie einen Hasen oder eine Ente gesehen hat, wird die Hasen-Enten-Figur nicht als Kipp-Figur wahrnehmen, denn er sieht nur eins von beidem.

Wir können ihn nicht fragen: Als was siehst du das Bild, als Hasen oder Ente?

Bei einem gemeinsamen Spaziergang um den Teich fragen wir den Freund nicht: Hast du dieses Wahrnehmungsobjekt als Ente gesehen? Sondern: Hast du die Ente gesehen? – Wir sehen kein Bild der Ente, sondern strictu sensu die Ente.

Der ontologische und epistemische Status des Zeichens und des anhand des Zeichens identifizierten und erkannten Sinns ist ein anderer als der Status von sichtbaren Objekten, deren Identität wir mittels Klassifikation benennen.

Wenn wir meinen, was wir sehen, sei eine Ente, meinen wir auch oder implizieren, daß sie ein Vogel ist, der Federn und einen Schnabel hat und bei unvorsichtiger Annäherung auffliegt, und wir meinen auch oder schließen aus, daß sie ein Fell hat und große Ohren und bei unvorsichtiger Annäherung in ein unterirdisches Versteck huscht.

Wenn wir glauben, einen Hasen zu sehen, aber plötzlich sehen, wie das Lebewesen wegfliegt, wissen wir, daß wir uns getäuscht haben. – Die in unserer Sinneswahrnehmung eingehüllte Antizipation, wie sich das Gesehene verhalten KÖNNTE, wurde falsifiziert.

Wir sehen etwas und zugleich haben wir die Bereitschaft, die Neigung oder die Disposition, bei Nachfragen oder durch Nachdenken anzugeben, was wir sehen KÖNNTEN oder nicht sehen könnten.

Wir glauben, daß wir eine der hier am Teich heimischen Enten auch gestern hätten sehen können, und halten es für sehr wahrscheinlich, daß wir bei unserem morgigen Spaziergang wieder Enten am Teich beobachten können.

Unsere Wahrnehmungen implizieren einen Möglichkeits- und einen Zeitsinn; aber der Möglichkeits- und Zeitsinn hat nicht den epistemischen Status und die Form der Sinneswahrnehmung.

Unsere Wahrnehmungen füllen den aktuellen Radius der Aufmerksamkeit vollständig aus, unser Sinn für mögliche zukünftige Wahrnehmungen bildet um diesen Kreis einen Hof, der unserer aktuellen Aufmerksamkeit zumeist entgeht.

Wir gehen unbekümmert über die Schwelle unserer Wohnung und wären mehr als erstaunt, nämlich entsetzt, würden wir nicht auf festen Boden treten, sondern die Erde plötzlich nachgeben und ein Abgrund sich auftun.

Das Naheliegende und Selbstverständliche, auf das wir unseren Möglichkeitssinn gewöhnlich limitieren, könnte mit mehr Recht das Unbewußte genannt werden als jene dunklen Gewalten, die unsere Träume nähren.

Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, den Abstand zwischen 0 und 1 zu unterteilen; ebenso zahllos sind die Möglichkeiten, beliebig auf einer Fläche oder im Raum verteilte Punkte durch Linien und Kurven zu verbinden.

Die sinnvollen Kombinationen und Funktionen, die wir an gegebenen Daten finden können, sind durch diese nicht limitiert; oder anders gesagt: Unser Sinnhorizont bleibt durch das, was wir an einzelnen Phänomenen wahrnehmen, stets unterbestimmt.

Daß wir nur bestimmte Möglichkeiten aus der unbegrenzten Fülle aller Kombinationen und Funktionen aussondern, mit denen wir unsere Erlebnisdaten anordnen und verarbeiten, ist eine Sache der Konvention oder Gewöhnung.

Wir könnten in den am Abend singenden Vögeln verwandelte Geister der Ahnen sehen, und Dichter oder Mythen tun es.

Der Gebrauch kann eine Funktion sein, mittels deren wir etwas sehen; so sah, wie Jakob von Uexküll berichtet, sein afrikanischer Mitarbeiter in dem Etwas vor sich eine Reihe von Latten und Löchern, und erst als sein Kollege die Leiter benutzte, sah er die Leiter.

Der Nullpunkt unserer Aufmerksamkeit ist der Nullpunkt des durch unseren aktuellen Standpunkt geeichten Koordinatensystems, in das wir den Ort und den Richtungssinn des Gesehenen eintragen.

Auch wenn wir sehen, daß unser Gegenüber uns sieht, fällt es uns schwer, uns selbst relativistisch in sein Koordinatensystem einzuschreiben.

Wir können nicht mit letzter Gewißheit die von unserem Gegenüber gewählten Formen der Kombinationen und Funktionen, mit denen es seine Wahrnehmungen verarbeitet, aus seinem Verhalten und seinen Äußerungen ableiten; es bleibt ein Moment der Unterbestimmtheit.

Innerhalb unseres konventionellen Sinnrahmens ist das, was einer tut, wenn er ein Tier tötet, entweder eine Schlachtung oder ein Akt der Grausamkeit; doch könnte es in einem anderen Sinnhorizont eine rituelle Form des religiösen Opfers sein. – Der Sinn der Handlungen ist trotz ihrer Ähnlichkeit ein anderer.

Zwei sehen dasselbe im physischen Sinn, aber nicht dasselbe im nichtphysischen Sinn – was immer dessen epistemischer und ontologischer Status sein mag, er ist nicht derjenige seines Trägers oder Ausdrucksmediums, wie beispielsweise derjenige der Lautgestalt eines Worts.

Daß wir davon ausgehen, in einer gemeinsamen Welt zu leben, ist eine Form von Konvention und Gewöhnung.

Wir interpretieren nicht die muskulären Modifikationen eines Gesichts als Lächeln, sondern sehen, daß unser Gegenüber lächelt; wir schließen nicht aus der Beobachtung, wie einer lächelt, wenn wir ihm ein Kompliment gemacht oder etwas geschenkt haben, auf seinen mentalen Zustand und nennen ihn Freude, sondern sehen, daß er angenehm berührt oder freudig lächelt.

Wir sehen anhand derselben Daten Verschiedenes, wenn wir jemanden sehen, der aufgrund eines Kompliments und einer erfreulichen Nachricht lächelt, und einen, der am Grab seines Vaters lächelt.

Wir sehen in der Ferne einen Vogel auffliegen, es könnte eine Amsel, eine Lerche, eine Drossel sein; hier erfassen wir ein kontinuierliches Band möglicher Bestimmungen.

Wir sehen eine Zahlenreihe, 2 4 8 16; wir können verschiedene algebraische Muster der Erzeugung dieser Reihe bilden: x2 oder x, 2x, 4x, 8x oder x, x + x, x + 3x, x + 7x. Das numerisch Gegebene ist mittels einer unbegrenzten Anzahl von Funktionen darstellbar.

Ähnliches gilt für die Ordnung oder Struktur unserer Wahrnehmungen: Wir können die Ente als individuelle Verkörperung ihres Typus sehen oder als Vogelart im Gegensatz zu anderen Vogelarten wie Taube, Gans, Huhn; doch werden wir sie nicht in die Reihe mit Auerhahn, Adler oder Bussard stellen.

Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Sinneswahrnehmungen und der Anschauung von abstrakten Entitäten wie geometrischen Figuren und topologischen Mustern; denn auch in der Sinneswahrnehmung ordnen wir unsere Daten nach Kombinationen und Funktionen, die wir in abstrakte Ordnungen und Strukturen einbauen können.

Wir hören eine Reihe von Tönen und zugleich einen Zusammenhang oder eine Kontinuum zwischen ihnen, das physisch nicht dargestellt und demnach neuronal nicht repräsentiert ist, und zwar eine Melodie.

Wir können das Muster der Melodie anhand der Niederschläge all der musikalischen Muster bilden, die wir schon gehört haben; doch können wir auch die melodische Tonreihe als Ausschnitt oder Transformation von beliebig vielen anderen mehr oder weniger ähnlichen Reihen hören.

Die Möglichkeiten der Ordnung und Strukturierung unserer Wahrnehmung sind nicht algorithmisch limitiert und geschlossen, was impliziert, daß wir keine neuronalen Maschinen sind, sondern dank einer Sinn-Intuition, die auf der Basis weniger Daten eine unendliche Variation kontinuierlicher Übergänge vollzieht, selbstvermehrend unabgeschlossen.

 

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