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Über den Begriff der Intuition

25.02.2020

Wir hören den Wasserhahn tropfen und bilden spontan einen akustischen Rhythmus, indem wir jeden zweiten oder dritten Tropfenfall als Schlag zählen; wir sagen, der Rhythmus habe sich uns intuitiv aufgedrängt. – Die gleichsinnige kontinuierliche Reihe der in regelmäßigem Abstand erklingenden Geräusche wird einer rhythmischen Regel oder Strukturformel unterworfen, die aus nichts anderem als unserer seelischen Energie entspringt.

Wir hören im Rhythmus das von uns spontan gegliederte akustische Material.

Stimmt die Mutter das Lied an: „Alle meine Entchen“, setzt das Kind spontan fort: „schwimmen auf dem See.“ Das Kind ergänzt und komplettiert die vorgegebene Tonfolge zu einer stimmigen Melodie nach einem wohlbekannten Muster, es kennt das Lied ja auswendig. Die echte musikalische Intuition findet dagegen auf eine beliebig gegebene Tonfolge eine improvisierte melodische Ergänzung und Komplettierung; die herausragende musikalische Intuition vermag die ergänzte Melodie zu variieren und in verschiedenen Tonarten farbenreich zu modulieren und abzuschatten.

Wir breiten vor dem Kind eine ungeordnete Menge von runden schwarzen und viereckigen roten Mosaiksteinchen aus; es soll sie in eine Reihe bringen. – Verfügt das Kind über eine starke ästhetische Intuition, wird es die Teile in sinnvoller Ordnung aneinanderfügen, etwa im steten Wechsel oder gar dreimal schwarze, dreimal rote Steine oder sogar einmal schwarz, zweimal rot, zweimal schwarz, dreimal rot …

Die Säulenordnung des griechischen Tempels und die strenge Aufteilung des dorischen Frieses mittels Triglyphen gilt uns als Muster einer komplexen ästhetischen Intuition. – Von hier aus ließe sich die Betrachtung erweitern um die mäandernden Muster der frühen Vasenmalerei, die sinnvolle Gliederung der griechischen Tragödie in Dialogpartien, Monologe und Chorgesänge, die stufenförmige Struktur des Kosmos von Aristoteles bis Ptolemäus, das Bohrsche Atommodell oder die periodische Gliederung der chemischen Elemente durch Mendelejew.

Wir unterscheiden Instinkt und Intuition; während der Webervogel aus dem vorgegebenen pflanzlichen Material ein uns kunstvoll erscheinendes, im Schilfrohr schwebendes, aber sicher eingefügtes Genist baut, das allerorts seine arttypische Gestalt aufweist, baut das Kind mit den vorgelegten Mosaiksteinen je nach intuitivem Impuls Varianten einer sinnvollen Reihe.

Elementare instinktgeleitete Bewegungen wie der Lidreflex, das panische Zusammenzucken bei Gefahr, das Aufstellen der Stacheln des Seeigels bei Lichtentzug, das schutzsuchende Ducken des Hasen, die schnelle Flucht des Murmeltiers beim Warnruf des wachhabenden Artgenossen und tausend andere Formen von Flucht- und Abwehrbewegungen sind vom genetischen Bauplan der Lebewesen sinnvoll eingesetzte Funktionen des unbedingten und durch Lernerfahrung bedingten Reflexes.

Dagegen erblicken wir im intuitiv gebahnten und geleiteten Verhalten, Wahrnehmen und Gestalten ein spezifisches Humanum, das nicht mit instinktgesteuerter Bewegung verwechselt werden sollte.

Dies erkennen wir unmittelbar, wenn wir uns der Grundlage der logischen Intuition, dem Begriff der Identität, zuwenden. Konstruieren wir eine Menge A von Elementen mit dem distinktiven Merkmal P und identifizieren wir an einem Element z genau die Eigenschaft P, wissen wir, daß z zur selben Menge wie alle Elemente mit derselben Eigenschaft oder zur selben Menge A gehört.

Die Aussage: Alle A sind P, z ist ein A, also folgt: z ist P erscheint uns unmittelbar evident; wir können die Aussage nicht weiter begründen oder logisch ableiten, es sei denn, wir wiederholen sie oder vergegenwärtigen uns ihren Sinn erneut mittels logischer Intuition.

Wenn alle Junggesellen unverheiratete Männer sind und Hans ein Junggeselle ist, wissen wir ohne es empirisch genauer untersuchen zu müssen, daß Hans unverheiratet ist; denn wir haben die Synonymie der Bedeutungen von „Junggeselle“ und „unverheirateter Mann“ als formale Identität festgelegt.

Die logische Identität müssen wir intuitiv eingesehen haben, wenn wir aus der Voraussetzung korrekt schließen, daß Hans unverheiratet ist. Wir können sie nicht ihrerseits logisch ableiten, denn sie ist gleichsam der Aufhänger, an dem das Netz der logischen Beziehungen und Verknüpfungen befestigt ist; rissen wir ihn heraus, fiele das Netzwerk ins Bodenlose.

Dividieren wir eine beliebige Zahl (außer der Null) durch 1, erhalten wir dieselbe Zahl. Zahlen, die nur durch sich selbst oder die 1 dividiert werden können, nennen wir Primzahlen, und wir können alle anderen natürlichen Zahlen als ihre Summen darstellen. In solchen Fällen liefert uns die logische oder formale Intuition eine Strukturformel, deren korrekte Anwendung uns die Identität des Gemeinten garantiert.

Es muß einen immanenten, konstitutiven Zusammenhang zwischen unserer Fähigkeit der logischen Intuition und der Einheit und Identität unseres subjektiven Bewußtseins geben. Die synthetische Brücke, so ist zu vermuten, bildet unser Gedächtnis, also eine die Dauer herstellende Synthese; so müssen wir in der Lage sein, beim gültigen Schluß von „Alle A sind P, z ist A, demnach ist z ein P“ die formale Bedeutung von P und z aus den Prämissen in die Folgerung identitätsbewahrend hinüberzuziehen und zu übersetzen.

Den Sinn der Zahlenreihe 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 mit den durch Fettdruck hervorgehobenen Primzahlen erkennen wir nicht aufgrund ästhetischer Intuition.

Die ästhetische Intuition bei der visuellen und akustischen Wahrnehmung rhythmisch gegliederter Gebilde unterscheidet sich von der logischen Intuition, insofern diese auf der systematischen Anwendung einer Regel beruht, wie bei der gültigen Schlußfolgerung oder der Bestimmung einer Primzahl.

Zwei Punkte in einem Kreis, darunter je ein senkrechter und ein waagerechter Strich („Punkt, Punkt, Komma, Strich …“) – dieses abstrakte Gebilde genügt unserer ästhetischen Intuition, um den allgemeinen Typus des menschlichen Gesichts zu erkennen; und wenn sich der untere Strich leicht nach oben biegt, sogar den Ausdruck des Lächelns, und wenn nach unten, den Ausdruck der Traurigkeit.

Gesichts- und Ausdruckswahrnehmungen vollziehen sich intuitiv, sie sind weder regelgeleitet noch aus rationalen Gründen ableitbar.

Das Gesicht unseres Schulkameraden Hans erkennen wir auf dem Klassenfoto aufgrund seiner individuellen Gesichtszüge. Auch dieses Wiedererkennen ist intuitiv, insofern es sich unmittelbar vollzieht und nicht auf der Folie eines rationalen Vergleichs – etwa mit dem Gesicht von Hans, der gerade bei uns zu Besuch ist und dem wir das alte Foto zeigen; denn auch den anwesenden Hans erkennen wir nicht aufgrund eines Vergleichs (ein Vergleichsobjekt liegt nicht vor), sondern unmittelbar intuitiv.

Wir begegnen unserem alten Schulkameraden Hans, und sein Bild, wie er damals in der Schule neben uns saß, steht wieder vor uns auf; indes, die Erinnerung beruht nicht auf einem verstandesmäßigen Verfahren, beispielsweise einem Vergleich des Erinnerungsbildes mit dem vor uns stehenden Hans; ebensowenig erkennen wir Hans, wenn er uns auf der Straße begegnet, aufgrund des Vergleichs mit unserem Erinnerungsbild; denn wir erkennen ihn sogar, sollten wir kein Erinnerungsbild von ihm mehr parat haben. Wir erkennen intuitiv: Der vor uns stehende Hans ist derselbe, den wir auf dem alten Foto erblicken, und wir erinnern uns an sein Lächeln, auch und sogar, wenn wir uns dazu auf keinen visuellen Anhalt in unserem Gedächtnis (mehr) stützen können.

Etwas Ähnliches geschieht, wenn Veilchenduft uns anweht oder uns als halluzinierte Duftnote aufsteigt und wir uns an gewisse Idyllen unserer Kindheit oder an das Gesicht oder das Lächeln unserer Großmutter erinnern, die ihr Taschentuch mit Veilchenwasser zu besprühen pflegte.

Ein lächelndes Gesicht heiter, ein weinendes traurig zu nennen verweist uns auf den Ursprung der intuitiven Anwendung psychologischer Prädikate; einen schwerfälligen Gang plump, einen tänzelnden anmutig zu nennen auf den Ursprung der intuitiven Anwendung ästhetischer Prädikate.

Wir unterscheiden die Gewohnheit von der Intuition; der Heimweg, den wir tausende Male gegangen sind, ist uns vertraut, wir achten nicht auf Straßenschilder, Wegmarken und Hausnummern, um nach Hause zu finden, sondern finden die Haustür wie im Schlaf. – So fahren wir Fahrrad, ohne auf die einzelnen Bewegungen unserer Gliedmaßen zu achten, und können dabei an wer weiß was denken, weil wir es als Kinder gelernt haben.

Fertigkeiten, die wir aus Gewohnheit ausüben und beherrschen, unterscheiden sich von intuitiven Wahrnehmungen. Diese sind uns nicht aufgrund von motorischen oder sensorischen Automatismen zugänglich, sondern wie das spontane „Sehen als“, wenn wir das berühmte Hasen-Ente-Bild einmal als einen Hasen, einmal als eine Ente sehen.

Wir unterscheiden sprachliche Fertigkeiten von sprachlicher Intuition. Es ist etwas anderes, die Rose schön, etwas anderes die Schönheit Rose zu nennen. Das erste ist ein sprachliches Klischee, das uns aufgrund der gewohnten Assoziation der Begriffe leicht über die Lippen kommt, das zweite eine außergewöhnliche Metapher, die wir der genialen sprachlichen Intuition Shakespeares verdanken (beauty’s rose might never die, Sonnet 1).

Die dichterische Intuition findet in der scheinbar vertrauten Landschaft der natürlichen Sprache Pfade, die zu vergessenen Gärten führen, Wege zu überwachsenen Denksteinen, deren anfängliche Inschriften sie freilegt und übersetzt, Passagen, auf die von einem ungeahnten Himmel ein nie gesehenes gespenstisches oder heiteres Licht fällt.

Die Bilder, Vergleiche, Metaphern, die uns die außerordentliche sprachliche Intuition des Dichters vor Augen führt und als Sichtschneisen ansinnt, haben ihr Maß der Geltung und Sinnfälligkeit an dem Grad, in dem sie unserer ästhetischen Intuition zugänglich und einsichtig werden – dies kann sich augenblicks vollziehen, doch bisweilen eine lange Zeit beanspruchen, in der ihre Anmutungen und Zumutungen die Wegmarken unserer Sprach- und Seelenlandschaft versetzen und umgruppieren.

 

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