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Weltenbildnerin Sprache

11.07.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wie könnte der Holunder die Eiche, die Distel die Rose verstehen? Wie das Stroh und das Gras die Gewalt der Flammen, die sie verzehren? Versteht der einsam über Klüfte springende Steinbock die stummen Zeichen der Blitze und das ins Moos gekauerte Rehkitz das Rauschen des Regens, des Winds?

Wir könnten auch fragen: Wie sollte der Eskimo den Kongoneger verstehen, der australische Buschmann den Brahmanen, der Hopi-Indianer Herrn Edward Sapir, der am ganzen Leib tätowierte Yankee-Boxer Ludwig Wittgenstein? Aber auch: wie der Reiche den Bettler, der Voodoo-Priester den Rabbiner, der Lustmörder den Trappistenmönch.

Aber auch: wie das Kind den Greis, der Mann die Frau.

Jedes Sehen bedarf einer Perspektive; so auch eine jede SPRACHE. Daraus folgt, daß es KEINE UNIVERSALSPRACHE und keine universelle Verständigung geben kann.

Was wir Übersetzen und Kommunikation zwischen unterschiedlichen Sprachen nennen, beruht entweder auf Verfahren der Projektion oder auf produktiven Mißverständnissen oder auf mehr oder weniger gefällig verschleierter Machtausübung.

Das Kind, das sich die Hand an der Flamme verbrannt hat, hat verstanden: Hier droht Gefahr für Leib und Leben. Der Schmerz ist der wahre Lehrmeister: So meinte es der alte Tragiker: pathei mathos – durch Leiden lernen.

Wer dir zu nahe tritt, deine Kreise stört, deine leibliche und seelische Integrität schwadronierend, lärmend und stänkernd beeinträchtigt, kurz: deine Grenzen übertritt, solch einem übergriffigen Tölpel wirst du auf zivile und höfliche Weise meist vergebens den Zugang verwehren können – doch hat er sich einmal an der Flamme deines Zorns die Finger verbrannt, wird seinem Verständnis merklich aufgeholfen.

Wenn du eine E-Mail-Gruppe anfragst und um die Rücksendung einer Adresse oder Telefonnummer bittest, wirst du meist keine Antwort erhalten; ein jeder sagt sich, soll doch der andere es tun.

Die Verantwortung steckt ihren Kopf in den Arsch des Kollektivs.

Wenn du neben mir stehst, während ich auf den großen regelmäßiges Quader eines Kunstwerks schaue, wirst du, wenn auch kaum merklich, ein minimal von der rechteckigen Schauseite dieses Gebildes abweichendes Parallelogramm erblicken; wärest du mit der Projektionsmethode ausgestattet, die dir erlaubt, aus dem von dir gesehenen Parallelogramm deinem perspektivischen Blickwinkel gemäß ein Rechteck zu konstruieren, wäre dem visuellen Mißverständnis der Boden entzogen.

Wir haben in der Regel keine Projektionsmethode zur Hand, die es erlaubte, unserem Gesprächspartner den von uns gebrauchten Begriffen eine angemessene perspektivische Deutung mitzugeben.

Natürlich kapierst du, was ich meine, wenn ich dich auf den herben Geschmack des Weines aufmerksam mache; und dennoch nicht ganz, wenn ich „herb“ als eine Nuance von „sauer“, du aber als eine mildere Variante von „bitter“ auffaßt.

Die oberflächlich korrekte Zuordnung und Übersetzung von Begriffen wie des lateinischen „honor“ durch das deutsche „Ehre“ verdeckt wesentliche Unterschiede in der grammatischen Tiefenschicht, in der beide Begriffe unterschiedlich vernetzt sind; honor beispielsweise mit dem Ansehen der römischen Ämterlaufbahn, „Ehre“ mit Krieger- und Sportabzeichen.

Wir regulieren und kanalisieren Verhaltensweisen moralisch mittels Formen von Lob und Tadel, Auszeichnung und Ausschließung, Förderung und Bestrafung. Doch was jeweils gelobt und getadelt wird, ist von Gruppe zu Gruppe, von Volk zu Volk, von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Nur sentimental verbummelte Pädagogen haben sich von ihrer angestammten Strafgewalt dispensiert, um den Wildwuchs zu düngen, und nur vom Wunschdenken betörte Philosophen glauben an ein allen verständliches, von allen erlernbares Esperanto der Moral.

Der ehrlose Duckmäuser verhüllt seine Unterwerfung unter fremde Mächte unter dem Schleier der Bescheidenheit, der kosmopolitische Intellektuelle seine transzendentale Obdachlosigkeit unter der fadenscheinige Decke der allgemeinen Menschenliebe.

Die Niedertracht hüllt sich in den Mantel der Tugend; öfters ist dieser Mantel heute eine glitzernde Abendgarderobe oder ein freizügiges Cocktailkleid auf einem Galadiner zum Wohle der irgendwo in einem verkommenen Slum Darbenden, vor deren Gestank die Gnädige ins Knien gehen würde.

Die Kinder des Meeres sehen, fühlen, reden und denken anders als die der Alpen.

Die Dichtung, die mit den Fischern und Abenteurern auf den Wogen des Meeres schaukelt, hat schnellere Rhythmen, herbere Düfte, schillerndere Bilder als die Dichtung, die mit den Hirten der Berge im üppigen Grase weidet, das Summen der Kräuter belauscht und den Bocksfuß des Pan im Moos und sein Geflöte in der blauen Bergluft seufzen hört.

Die Winzer der Mosel reden dieselbe Mundart wie die Dörfler der Eifel, doch ihr Gemüt ist nicht verwandt und die Redensarten der einen glitzern wie Tau auf den Reben, die Worte der anderen sind staubig wie die Furchen ihrer Äcker.

Denken wir uns eine Sprache, in der es keine Allgemeinbegriffe wie Sehen, Hören, Essen gibt, sondern je nach dem Seheindruck, der Art des Klanges und des Nahrungsmittels ein anderes Vollzugswort. Wie sollen wir den Sprechern klar machen, daß wir durchaus sahen, was sie auf ihre individuelle Weise beäugten?

Mein Großvater hat sein Brot nicht zerkleinert und die Stückchen in der Suppe verstreut, sondern sie darein gebrockt. Hätte man ihn gefragt, warum er die Brotkrumen in die Suppe streut, hätte er verständnislos geblickt, als hätte man ihm unterstellt, etwas Kostbares zu vergeuden.

Unser Weltbild ist ein Sprachbild und unser Sprachbild ein Weltbild. Wir können wenn es hochkommt die Bilder wie Karten nebeneinanderlegen und Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten ausmachen, aber wir finden keinen stimmigen Totaleindruck, den wir systematisch aus den einzelnen Bildern wie ein Mosaik zusammensetzen könnten.

Die Sprache ist nicht Bild in dem Sinne, daß sie die Welt spiegeln würde, sondern Bildnerin in einem schöpferisch-künstlerischen Sinne. So etwa teilen wir die sinnliche Materie unserer Geschmacks-, Tast-, Seh- und Hörfelder grammatisch-kategorial auf in Substanzen wie Wasser und Feuer, Luft und Abendrot, Individuen wie Apfel und Kirsche, Hund und Reh, in Kollektiva wie Schnee und Honig, Garten und Wald, aber auch in Eigenschaften unterschiedlicher Typik und relationaler Struktur wie süß und bitter, weich und rauh, nah und fern, schrill und sanft; sowie in Vollzugsweisen wie stechen und kitzeln, blenden und aufklaren, anschwellen und verebben.

Um uns selbst zu erkennen, müssen wir die Worte und Redensarten betrachten, mit denen wir unser Leben zur Sprache bringen. Dies reicht vom Ausdruck der Empfindungen des Geschmacks und Tastsinnes bis zu den Begriffen, mit denen wir sprachliche, nicht wissenschaftliche Seelenzergliederung betreiben wie Gemüt, Herz, Phantasie, Einbildungskraft, Wachheit, Schlaf, Traum, Rausch, Anwandlung, Anfechtung, Mut, Zorn, Trauer, Angst, Lust …. und tausend andere.

Wir transformieren das kartesische Problem des radikalen Zweifels in die Besinnung auf die Grenze des Versagens der Sprache, der epistemischen und psychologischen Gründe des Verstummens.

Wie absonderlich zu glauben, man könne die Fülle des menschlichen Daseins mit dem schmalen Schatten eines Begriffs wie res cogitans abdecken.

Daß wir die Welterfahrung in sprachlichen Kategorien und grammatischen Strukturen schematisieren, macht sie nicht beliebig, kontingent und subjektiv, denn sie ist uns nur auf diese Weise zugänglich – und also und nur so gültig.

 

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