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Was wir mit „denken“ meinen

30.04.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen jenseits des Elfenbeinturms

Wir hüten uns, „denken“ großzuschreiben.

Was wir unter „denken“ verstehen, können wir nicht im Denkerstübchen ausfindig machen.

Wir sehen, wie ein Mann einen blauen Brief vom Finanzamt öffnet und während er die Zeilen überfliegt auf die fett gedruckten Summen starrt, sie geradezu mit Blicken verschlingt, dann innehält, mit der Hand ans Kinn fährt und sich den imaginären Bart krault, die Stirne runzelt und seufzt. – Nun, wir könnten ihn darüber befragen, was in ihm vorgegangen ist, als er die Hiobsbotschaft las, und vernehmen, daß er sich entsetzte, als er allmählich die Höhe der Nachforderung begriff, sich gefragt hat, wie sie zustande komme, ob er versehentlich falsche Einkommenswerte angegeben habe und dergleichen mehr.

Was wir sehen, das Lesen des Briefs, das Mienenspiel, die Gesten, all die sichtbaren Reaktionen sind, sagen wir, ein integraler Bestandteil dessen, was wir Bestürzung, Grübeln, Nachdenken nennen.

Wir können es auch so ausdrücken: Der Gesichtsausdruck, das Gebaren, das Benehmen stehen in interner Relation zu dem, was wir Nachdenken nennen.

„Wenn Peter verheiratet wäre, wäre er kein Junggeselle“; hier sprechen wir von der Sinngleichheit der Bedeutungen „Junggeselle“ und „unverheiratet“, was darauf hinausläuft, daß die Aussage nicht falsch, sondern immer nur wahr sein kann; sie verkörpert eine logisch-grammatische Wahrheit und belehrt uns darüber, wie wir die Ausdrücke „Junggeselle“ und „unverheiratet“ korrekt verwenden. – „Peter ist mit Hans befreundet“; hier stehen die Glieder der Relation in einer äußerlichen oder externen Beziehung, denn Peter könnte auch nicht mit Hans befreundet und die Aussage könnte falsch sein. – „Du kannst das Kipp-Bild als Hase oder als Ente sehen“; hier stehen die Aspekte des Hasenbilds und des Entenbilds in einer internen Relation, denn sie sind visuelle Aspekte an derselben Zeichnung; die jeweiligen Aussagen sind weder wahr noch falsch, denn wenn du sagst: „Es ist ein Hase“, sage ich mit gleichem Recht: „Es ist eine Ente.“ Tertium non datur? Nein.

„Denk dir, sie hat mir aus Amerika geschrieben!“ – Hier heißt „denken“ soviel wie „sich vorstellen“, und zwar unter dem Aspekt des Staunens, der auf die Mitteilung ausstrahlen soll, gleichgültig, ob das Staunen auf die Tatsache gehen mag, daß die Briefschreiberin überhaupt (nach so langer Zeit, nach dem großen Zerwürfnis) oder aus einem fernen Land oder aufgrund beider Dinge geschrieben hat.

„Das hätte ich nicht gedacht!“ – Hier drückt einer sein Befremden darüber aus, daß es anders kam, als er es sich vorgestellt hatte. Aber auch: wie er es sich vorgestellt haben würde (denn er muß es sich nicht eigens vorgestellt haben, um das sagen zu können). Wenn er es gedacht hätte, wäre, was er dachte, falsch gewesen.

Meist verwenden wir „denken“ im Sinne von „sich vorstellen“; dieses Quidproquo macht uns fühlbarer, daß die Grammatik ihrer Anwendung nicht festgelegt ist. „Ich stellte mir vor, sie wäre zu mir zurückgekommen“ – hier läuft es darauf hinaus, etwas zu phantasieren oder sich auszumalen. Doch zu sagen, man habe sich das nicht vorstellen können, heißt soviel wie über eine unerwartete Begebenheit staunen oder verblüfft sein, OHNE sich etwas Bestimmtes vorzustellen oder dabei zu denken.

„Ich dachte, es wäre p“ – aber es war q. Der Gedanke p ist wie ein Modell dessen, was sein könnte, etwas Denkbares, aber q paßt nicht hinein (sprengt das Modell).

Einer erzählt eine umständliche Geschichte, wie er unterwegs aufgehalten wurde und deshalb zu spät gekommen ist. „Das hat er sich bloß ausgedacht!“ – Das Ausgedachte ist etwas Erfundenes, Fabuliertes, und kommt einer Lüge gleich.

Wäre er mit der Lüge durchgekommen, dann hätte seine Erzählung glaubwürdig geklungen. Er hätte es sich geschickt ausgedacht. Die geschickte Lüge bedarf der Klugheit, einer Intelligenz, die zu ruchlosen Zwecken erfolgreich eingesetzt werden kann.

Die raffinierte Lüge entwirft ein plausibles Modell über ein mögliches Ereignis pʼ und dennoch paßt p (das wirkliche Ereignis) nicht hinein, denn pʼ ist nicht wahr. Der Lügner muß beides wissen, p und pʼ, das Wahre und das Falsche, denn würde er nur pʼ, das Falsche, wissen, würde er nicht lügen, sondern sich irren.

Wir können demnach den, der sich etwas ausdenkt, um zu lügen, der Lüge nur überführen, wenn wir herausfinden, daß er die Wahrheit wußte.

Dem Gangster fiel die Geheimzahl für den Tresor nicht mehr ein. „Daß ihm sein Gedächtnis einen Streich spielen könnte, hatte der Dieb nicht bedacht.“ – Auch der Dieb hat sich gleich dem Lügner etwas ausgedacht, aber sein Modell bezog sich auf die Zukunft, wie das Modell des Lügners auf die Vergangenheit. Es ist eine Vermutung oder eine Hypothese über die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse. Er will die Wahrscheinlichkeit maximieren, indem er alle Eventualitäten bedenkt; doch eine entwischt ihm, eine ziemlich unwahrscheinliche genügt, seinen Plan zu durchkreuzen.

Der Plan, den der Dieb sich ausdachte und der schiefging, war eine Projektion der Daten, die er der Vergangenheit entnahm (der Lageplan der Bank, die Kontrollgänge des Wachmanns) und auf die Zukunft projizierte. Die Projektionsmethode liefert scheinbar unterschiedliche Grade der Gewißheit und zwar direkt proportional zu den jeweiligen Graden der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse. Als Gradmesser der Wahrscheinlichkeit gilt die Regelmäßigkeit vergangener Ereignisse; doch sie auf die Zukunft zu projizieren erzeugt nur einen Schein von Gewißheit. Selbst der gemessen am Grad der Regelmäßigkeit hohe Grad der Wahrscheinlichkeit, daß die Sonne morgen wieder aufgeht, gewährt keine vollständige Gewißheit.

„Er wollte nicht mehr an sie denken, doch in der Schublade kramend stieß er auf den schönen Anhänger, den sie ihm geschenkt hatte, und mußte wieder an sie denken.“ – Können wir uns vornehmen oder beabsichtigen, nicht mehr an eine Person zu denken oder uns nicht mehr an sie zu erinnern? Das klingt seltsam, geradezu paradox. Freilich, der Verlassene räumt die Gegenstände, Geschenke, Andenken, Bilder, aus seiner Umgebung, die ihn an die Geliebte erinnern könnten. Er will vermeiden, wieder an sie erinnert zu werden. Aber der Duft der Blumen, die er vor sich in die Vase gestellt hat, ruft ihm wieder den Duft ihres Haars in Erinnerung, ähnlich wie die goldenen Ähren, die auf dem Acker wogen, in Gustav Mahlers „Liedern eines fahrenden Gesellen“ das blonde Haar der verlorenen Geliebten.

Es gibt demnach Bahnen und Pfade der Erinnerung, auf die uns Wegweiser locken, die manchmal nur im Verlauf langer Perioden der Entbehrung verblassen, manchmal indes durch einen unvorhersehbaren Sturm neuer Ereignisse umgerissen werden.

Wir können nicht willkürlich an etwas nicht denken wollen, das, woran wir uns von der Aura gewisser Dinge hingerissen unwillkürlich erinnern, nicht mit einem Federstrich aus dem Gedächtnis streichen – das Wort, das wir durchstreichen, bleibt immer noch lesbar.

„Denk an mich!“ – Dies ist der innige Wunsch des Freundes an den Freund, des Liebenden an den Geliebten. Er mag am Schluß eines Briefes stehen, der in weite Ferne geht, in geographische Ferne oder die Ferne einer verzögerten, unterbrochenen, schweigsam oder taub gewordenen Nähe.

An jemanden denken muß nicht heißen, sich anhand gemeinsam erlebter Begebenheiten an das Aussehen, das Gebaren, den Gang, die Stimme, die Worte, die Zärtlichkeiten des anderen zu erinnern. Es kann schlicht heißen, des anderen zu gedenken, sein Andenken zu bewahren. Das Andenken, könnte man sagen, ist eine Art weltliche Frömmigkeit, ein Gebet im Geist der Freundschaft und Liebe. Gebet, das sich nicht überlieferter Formeln und Wendungen bedient, sondern fast ohne Worte auskommt, vielleicht mit Ausnahme des Namens des anderen, den man leise vor sich hinspricht, murmelt, seufzt oder halb versonnen, halb träumerisch vor sich aufs Papier kritzelt.

„Er dachte nicht daran, diesem arroganten Schnösel die Hand zu geben.“ – Hier meint „denken“ soviel wie „im Sinne haben, beabsichtigen, wollen“ und hat keine Verwandtschaft mit dem, was wir „überlegen“, „erwägen“ oder „besonnen prüfen“ nennen.

„Hätte er daran gedacht, rechtzeitig das Abblendlicht einzuschalten, wäre der Unfall wohl nicht passiert.“ – Dies ist eine umständliche Paraphrase für den sinngleichen Satz: „Hätte er das Abblendlicht rechtzeitig eingeschaltet, wäre der Unfall wohl nicht passiert.“ Übrigens zeigt uns der Satz, inwiefern uns die Konstruktion mit dem irrealen Konditionalis auf logische Abwege führen kann; denn auch wenn er rechtzeitig das Abblendlicht eingeschaltet hätte, der Unfall hätte dennoch passieren können.

Es ist bemerkenswert, daß wir Adverbien wie „aufmerksam“, „konzentriert“, „gebannt“ oder „kurz“, „lang“, „flüchtig“ nicht mit dem Verb „denken“, sondern mit Verben der Wahrnehmung wie „sehen“, „beobachten“, „hören“, „vernehmen“ verbinden. Wir sagen: „Er sah (hörte) den Freund kommen“, aber nicht: „Er dachte den Freund kommen.“ – Diese und andere grammatischen Eigenarten der Verben der sinnlichen Wahrnehmung ließen uns die grammatische Eigenart des Verbs „denken“ in einer Weise exponieren und herausheben, daß wir auf den Gedanken verfielen, es bezeichne unkörperliche Vorgänge.

Wir sagen uns: „Keiner schaut mir in den Kopf, was ich denke, ist allen verborgen.“ Doch, könnten wir fragen, schaue ich mir denn in den Kopf und erfahre so, was ich denke?

Wir können freilich ein geheimes Tagebuch führen und es gut verstecken; doch die Sätze, die wir darin verzeichnen, haben nur Sinn unter der Bedingung, daß ein anderer sie lesen und verstehen könnte.

Wäre, wie und was wir denken, unkörperlich wie der Geist in der Flasche, wie könnte es sich dann mit den Körpern der stimmlichen Laute und der Flecken der Schrift auf sinnvolle Weise verbinden? Hier geraten wir in das schlammige Kielwasser der kartesischen Rätsel der Verbindung von res extensa und res cogitans, die unlösbar sind, weil ihre Grundannahmen unsinnig sind.

Wir kommen zum Verständnis dessen, was wir mit dem Wort „denken“ meinen, nur im Gefolge des Ganges auf den verschlungenen Pfaden durch den Wald und das unwegsame Gelände all der Sprachspiele, in denen es korrekt und sinnvoll verwendet wird. Ja, auch alle mit der Verwendung dieses Wortes verflochtenen Sprachspiele müßten wir in Ruhe betrachten und sehen, wie seine Bedeutung in deren Umfeld abgewandelt wird und unter ihren irisierenden Lichtreflexen neue Nuancen annimmt.

„Denk nicht, sondern schau!“ (Ludwig Wittgenstein) – Dies ist eine Philosophie in nuce, und wenn Philosophie doch eine Anweisung, Lehre oder Methode ist, wie zu denken sei, so ist dies Bonmot paradox und gemahnt uns an ein Koan der buddhistischen Meister des Zen.

Die Formel möchte uns von dem Glauben erlösen, daß Denken ein wohlbestimmtes, einfach definierbares Etwas, ein eindeutig faßbarer Allgemeinbegriff, ein ätherisches Erlebnis sei, dessen einheitlichen semantischen Gehalts und dessen kristalliner logischer Gestalt wir durch die Untersuchung all der Arten, auf die wir denken, habhaft werden könnten.

„Schauen“ meint nicht sehen, sondern sich einen Überblick verschaffen, wie man von einem Aussichtspunkt die Wege überblickt, die man gegangen ist, die Pfade und Wiesen, Gärten und Wälder, durch sie verlaufen und sich winden; man sieht, der Bach, an dessen Quelle man stand, fließt hier entlang und mündet dort unten in den Fluß; das Gehöft, wo die Pferde grasten, gehört zu jenem Dorf, dessen Kirchturm jetzt hervorragt; der Waldfriedhof, dessen Stille man genossen hat, gehört zu jener größeren Ortschaft unten am Flußlauf, deren letzte Häuser sich das Tal hinaufziehen, das man soeben erklommen hat.

Freilich, wir sehen nicht den Ursprung des Flusses, nicht das Meer, in das er mündet; aber sie zu ahnen, genügt uns, ja sie im Gang der Wellen zu fühlen, im Rauschen der Wellen zu vernehmen, stillt unser Verlangen.

Wir können von dem und jenem erzählen, was wir gesehen haben, was uns an Erfreulichem und Widrigem widerfahren ist; aber wir wüßten nicht zu sagen, wo unsere Erzählung ihren Anfang genommen hat, nicht, wo sie enden mag; ob wir das eine selbst erlebt haben oder nur vom Hörensagen kennen, das andere mit wachen Augen erblickt oder nur geträumt haben.

 

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