Augenblicke II
Der Junge sitzt auf einem niedrigen Holzschemel
vor dem hohen Hoftor, das weit offensteht und die Sicht
auf den Hühnerhof, den Schweine- und Hühnerstall,
die Sickergrube für die menschliche und tierische Gülle freigibt
und über dem Schuppen eine weitläufige Terrasse zeigt,
auf der sich die Waschküche mit dem großen Zuber befindet.
Zur Haustür führen einige mit dunkelblauen Kacheln
belegte Stufen hinan, denn der Keller ist hochgewölbt,
er birgt Vorräte, Holzscheite und Kohle, Sand für das Eis,
breite Regale, vollgestellt mit Einmachgläsern für Erdbeeren,
Kirschen, Pflaumen, Bohnen, Pfirsiche und Aprikosen,
aber auch all die gekochten Marmeladen in den Gläsern
mit dem Gummiverschluß, gepökelte und abgehangene Schinken,
doch exotische Früchte findest du hier nicht.
Auf den hinteren Stellagen keimen die Kartoffeln im Dämmer
vor sich hin, auf den vorderen Regalen kullern die Äpfel,
wenn das Kind mutwillig nach einem reifen hineingreift.
Der Junge sitzt zwischen Tür und Angel, denn es regnet,
und er betrachtet versonnen, wie der Wasserstrom anschwillt
in der Rinne und brauner und schmutziger wird, bald da und dort
übertritt und den Fußweg immer wieder mit einem Glanzhauch
übermalt. Er hält in der Hand eine Stulle mit süßer Butter
und derber Blutwurst, aber beißt nur selten einen Happen ab –
so versunken ist er zu sehen, so versunken, zu erlauschen,
was da alles im stärker brausenden Regenguß vorbeigetragen
und weggeschwemmt wird, Federn und Strohhalme,
dürre Samen von Pappeln und Linden, ein Heiligenbildchen,
ganz zerknittert, eine Streichholzschachtel, ganz aufgeweicht,
nichts mehr zu retten, ein blutiger Wattebausch, Holzspäne,
Weintrauben, und dann ein schlankes Papierbötchen,
das haben am Ende der Gasse die Nachbarskinder gebastelt,
und mit schnellem Griff zieht er es mit den Fingerspitzen
an Land und legt es gleich verstohlen hinter das Tor,
hüllt einen Kartoffelsack darüber – das finden die nicht mehr!
Dann wird es schon dunkler, von oben hört er noch immer
das Stampfen der Wäscherinnen, die die weißen Linnen
in den heißen Trog stopfen, herumrühren, aufgreifen
und endlich mit ihren roten Händen wringen, schütteln
und gegen die Balken schlagen. Und wie es dunkler wird,
hört er den Regen, hört, wie die Tropfen an die Hauswand klatschen,
wie sie auf dem Pflaster der Straße aufschlagen und zerspringen,
und er hat den Rest der Stulle in die Tasche gesteckt,
den Kopf auf den Arm gelegt, der ruht auf den nackten Knien,
denn er trägt eine kurze Lederhose mit Schildpatt im Riegel,
und weil die Abendglocken zur Vigil tönen, bewegt er die Lippen
wie im Schlaf und formt eine mutwillige und kontrapunktische
Gegenstimme, mehr ein Brummen und Summen, er spürt
ihr dumpfes Beben an den Schläfen, wie macht es ihn schläfrig.
O, er denkt an nichts, der Tag ist schon mit der Sonne
hinter die Hügel gezogen und hat die Schule verdunkelt,
und die Schulbank sieht von weitem im Schulzimmer
so winzig aus, wie die zierlichen Möbel in der Puppenstube
der Mädchen, aber sein Ranzen, wo ist sein Ranzen,
darin verwahrt er ja einige Geheimnisse, Knochen vom Hasen,
einen Vogelschädel und das kurze Mundstück, an dem er schnitzt –
und einer war so ungeschickt, daß alle Sachen herausgekollert sind,
und jetzt sieht er, wie sie Stück für Stück von der schlammigen Welle
weggetragen werden, und sie sausen hurtig von dannen,
am schnellsten der winzig-hohle Gespensterkopf der Lerche,
den er gestern auf dem Acker fand – er ist gar nicht verzagt,
nein, er freut sich, wie nun alles seiner Wege geht und wer weiß,
in der Nacht weiter und weiter schwimmt bis in die Mosel
und auf der Mosel bis in den Rhein und auf dem Rhein
weiter und weiter bis ins Meer …
Endlich scheint er zu erwachen, hebt den Kopf und ruft
nach der Großmutter, ob sie seinen Ranzen gesehen,
und er ist nicht einmal wirklich beruhigt, sondern gleichmütig
dumpf nimmt er es hin, als die Alte sagt: „Hier ist er doch,
in der Küche, wo du deine Hausaufgaben gemacht hast. –
Komm endlich rein, gleich gibt es Abendbrot.“