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Logische Schneisen V

21.01.2014

Sprache und Bewusstsein verbinden sich im Ausdruck des Gedankens. Wenn du an etwas denkst, musst du in der Lage sein, auf die Frage „Woran denkst du gerade?“ mit einem Satz deinen Gedanken auszudrücken.

Gedanken sind nicht irisierende Reflexe auf dem sogenannten Strom des Bewusstseins – ein Bild, das in die Irre führt. Gedanken sind mögliche Sätze, die du mir und jedem beliebigen anderen aus deiner Sprachgemeinschaft mitteilen kannst. Sätze aber sind öffentlich zugängliche Tatsachen, nicht im Innern des Bewusstseins eingeschlossene und verborgene seelische Vorkommnisse.

Wenn du mir sagst, deine gestrige Äußerung sei dir im Affekt herausgerutscht und sie tue dir leid, verstehe ich vollkommen, was du meinst und bin nicht genötigt, Psychoanalyse zu treiben. Insbesondere wäre es verfehlt, mein promptes und geradliniges Verstehen deiner Äußerung in ein hermeneutisches Abenteuer ohne Garantie der Wiederkehr umzumünzen. Ich fühle mich gar nicht versucht, an deine Äußerung wie der Arzt das Hörgerät an die Brust des Kranken anzulegen, um die versteckte, eigentliche Bedeutung deiner simplen Mitteilung zu auskultieren. Verstehen ist kein Entziffern oder eine Art mystischen Gedankenlesens. Verstehen ist kein Deuten von Symptomen, als wären deine Äußerungen den Flecken des Fieberkranken vergleichbar und der Befall mit Viren als wahre Ursache vergleichbar mit der methodisch eruierten eigentlichen Bedeutung eines Satzes.

Bedeutungen, der sprachliche Inhalt von Sätzen, sind keine Symptome einer verborgenen Wahrheit. Symptome haben Ursachen, Bedeutungen haben keine Ursachen. Körperliche Symptome wie die verdächtigen rötlichen Flecken auf der Haut haben gewiss körperliche Ursachen, zum Beispiel in einer Viruserkrankung. Den Symptomen kann man nicht unmittelbar ansehen, auf welche Ursache sie schließen lassen. Der Arzt bildet intuitiv eine Hypothese, er muss sie aber durch Hinzuziehen objektiver Untersuchungsmethoden wie der Analyse des Blutserums verifizieren.

Den Sinn des von mir geäußerten Satzes „Vergiss nicht, beim Bäcker vorbeizugehen und uns Kuchen mitzubringen!“ versteht du keineswegs, wenn du seine Bedeutung mittels Heranziehen von Hypothesen verifizierst. Es ist ja eine Aufforderung, das und das zu tun, und der Inhalt von Aufforderungen liegt in der immer ungewissen Zukunft, während Hypothesen nur durch in der Vergangenheit (und sei es auch die gerade abgeschlossene) liegende Ereignisse verifiziert werden können. Bedeutungen sind demnach keine Objekte, für deren Kenntnis wissenschaftliche Methoden der Hypothesenbildung und der Verifikation und Falsifikation von Hypothesen hinreichend wären.

Weder kann ein einzelner Mensch sich und der Welt bewusst sein noch ein einzelner Mensch die Sprache verwenden. Denn wenn sich Sprache und Bewusstsein im Ausdruck des Gedankens verbinden und Gedanken nicht Symptome eines verborgenen seelischen Zustandes, sondern öffentlich zugängliche Tatsachen darstellen, ist die Welt, in der wir leben, eine Welt der möglichen Mitteilung.

Du könntest als einsamer Robinson auf der Insel Nirgendwo die Schwelle zum Reich der Sprache und der Gedanken nicht überschreiten. Gedanken sind mögliche Satzäußerungen, Sätze behauptenden Charakters sind nur sinnvoll, wenn sie richtig oder unrichtig, wahr oder falsch sein können. Wie aber willst du als einsamer Robinson überprüfen, ob der Gedanke, dass es gestern auf der Insel geregnet hat, richtig oder falsch ist? Du meinst, es reiche aus, wenn du dich an dieses Wetterereignis deutlich erinnerst. Wenn du das Nachschlagen im Buch deiner Erinnerung, in den Annalen deiner subjektiven Erlebnisse, für das einzige Kriterium der Korrektheit deiner Erinnerungen ansiehst, gehst du arg in die Irre, wird dein Denken, dein Fassen von Gedanken, sinnlos. Denn du könntest auf die Frage, was dich sicher sein lässt, dass deine Erinnerung korrekt sei, nur antworten, dass du dich daran eben deutlich erinnerst. Erinnerungen sind eben auch Gedanken, und wie willst du entscheiden, ob sie richtig sind oder trügen, wenn du die Erinnerung als einziges Kriterium der Wahrheit zuließest?

Wenn Robinson an dem bewussten Regentag in sein Tagebuch schriebe „Heute, am 16. Mai 1664 hat es hier von drei bis vier Uhr nachmittags auf der Insel heftig geregnet“, hätte er seinem Gedanken die Form einer öffentlich zugänglichen Mitteilung gegeben. Würde ein gelehrter Freytag, ohne seine Bekanntschaft und ohne sein Wissen, also ohne Einfluss von Robinson Crusoe, seinerseits in sein Tagebuch dieselbe Eintragung machen, wären die beiden, begegneten sie sich endlich und plauderten gemütlich über ihre vergangenen Erlebnisse, um ein Kriterium der Wahrheit jener Äußerung nicht verlegen.

Gedanken sind virtuelle Miteilungen und als solche Teil des logischen Raumes der Bedeutung, der immer von mehr als einem Teilnehmer bewohnt wird. Woher weißt du aber, ob dein Bekannter deinen Gedanken, den du im Satz, dass es regne, äußerst, versteht? Du erkennst dies leicht daran, dass er, sobald ihr auf der Straße in hellem Sonnenschein angelangt seid, den schon aus der Tasche gekramten Regenschirm wieder einpackt und die ursprünglich von dir gemachte Äußerung, es regne, verneint.

Wenn das Bewusstsein der logische Raum ist, wo du Gedanken bildest, verbindest und durch Verneinungen trennst, kannst du daraus schließen, das Bewusstsein nicht der Name für eine geheimnisvoll im Verborgenen des Inneren hausende individuelle Seele ist.

Wenn du dich unbehaglich und verängstigt fühlst, kannst du auf die Frage deines mitfühlenden Freunds, ob es dir nicht gut gehe, wahrheitsgemäß antworten „Mir gehst es nicht besonders, ich fühle mich ängstlich.“ Dein Freund versteht die mitgeteilten sprachlichen Lautzeichen keineswegs als Symptome einer verborgenen Wahrheit, die er mittels einer speziellen hermeneutischen Methode umständlich zutage fördern müsste. Er versteht dich direkt und unmittelbar. Gedanken sind sprachlich oder gestisch objektivierbare Gebilde oder Strukturen im logischen Raum des Bewusstseins, das gleichsam über die Medien der leiblichen Gesten und Gebärden und der sprachlichen Verlautbarungen offen zutage tritt.

Auch komplexe Miteilungen müssen die Grenzen des Verstehens ja keineswegs überschreiten. So wenn du sagst: „Ich fühle mich seltsam, gleichzeitig ängstlich und doch zuversichtlich.“ Denn wir kennen und dulden Gefühlsmischungen von solcher und noch extravaganterer Art. Wenn du indes sagtest: „Ich fühle mich seltsam, ängstlich und gleichzeitig freudig erregt“, würde dein Freund nicht mitfühlend, sondern um deinen Geisteszustand besorgt schauen. Ähnlich wie der logische Raum oder die logischen Koordinaten unserer Farbbezeichnungen die gleichzeitige Anwendung der Farbbegriffe rot und grün zur Bezeichnung derselben Ortsstelle im Sehfeld nicht zulassen, limitieren die Klassifikationen unserer Gefühlsbegriffe wie Freude, Erstaunen, Angst, Ekel und Hass den Zeitraum ihrer Anwendung mittels eingeschränkter Möglichkeiten von Überschneidungen und klarer Vorschriften von Exklusionen. So lassen wir die Überschneidung von Erstaunen und Freude oder Erstaunen und Angst zu, schließen aber die von Freude und Angst oder Freude und Ekel aus.

„Dies ist kein Satz.“ Hier geraten nur Leute ins Stolpern oder in ein verfehltes metaphysisches Staunen oder Gruseln, die sich von der verzerrten und absurden logischen Struktur dieses Schein-Satzes blenden lassen. Mit dem Ausdruck „Dies ist …“ beginnen wir gewöhnlich eine hinweisende Definition wie „Dies ist eine rote Blume“ oder „Dies ist ein Kreis“. Wir können das Wort „Satz“ nur sinnvoll an die Stelle des generellen Terms einer Satzform rücken, wenn wir an die Subjektstelle nicht einen hinweisenden oder einen singulären Ausdruck, sondern einen ganzen Satz beziehungsweise ein Zeichen für einen Satz wie das Zeichen p setzen. Dann hieße die korrekte Aussage: „Rom ist die Hauptstadt Italiens“ ist ein Satz oder „p“ ist ein Satz.

Setze nun für p den scheinbaren Satz ein: „Die Wurzel aus 7 ist hungrig.“ Aufgrund des Wissens oder der logischen Einschränkung oder der axiomatischen Festsetzung, dass wir als gute und wohlgebildete Behauptungssätze nur sprachliche Gebilde akzeptieren, die sinnvoll sind und damit wahr oder falsch sein und die bejaht und verneint werden können, schließen wir rechtens, dass jener merkwürdig anmutende Satz „Die Wurzel aus 7 ist hungrig“ nur scheinbar ein Satz oder ein Schein-Satz, in Wahrheit gar kein echter oder sinnvoller Satz ist. Ein seiner logischen Form nach sinnloser Satz ist in Wahrheit kein wirklicher Satz oder kurz kein Satz.

Du kannst demgemäß sagen: Der sogenannte Satz „Die Wurzel aus 7 ist hungrig“ ist kein Satz. Setze nun für diesen Schein-Satz den ebenfalls nur scheinbaren Satz oder Schein-Satz „Dies ist kein Satz“ ein und du erhältst den vollkommen korrekten und überaus wahren Satz:

„Die ist kein Satz“ ist kein Satz.

Damit wäre alles gesagt und jede Verwirrung ausgeräumt.

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