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Kleiner Kommentar zu dem Gedicht „La Fileuse“ von Paul Valéry

11.03.2016

Paul Valéry, La Fileuse

Lilia …, neque nent.

Assise, la fileuse au bleu de la croisée
Où le jardin mélodieux se dodeline ;
Le rouet ancien qui ronfle l’a grisée.

Lasse, ayant bu l’azur, de filer la câline
Chevelure, à ses doigts si faibles évasive,
Elle songe, et sa tête petite s’incline.

Un arbuste et l’air pur font une source vive
Qui, suspendue au jour, délicieuse arrose
De ses pertes de fleurs le jardin de l’oisive.

Une tige, où le vent vagabond se repose,
Courbe le salut vain de sa grâce étoilée,
Dédiant magnifique, au vieux rouet sa rose.

Mais la dormeuse file une laine isolée ;
Mystérieusement l’ombre frêle se tresse
Au fil de ses doigts longs et qui dorment, filée.

Le songe se dévide avec une paresse
Angélique, et sans cesse, aux doux fuseaux crédule,
La chevelure ondule au gré de la caresse…

Derrière tant de fleurs, l’azur se dissimule,
Fileuse de feuillage et de lumière ceinte :
Tout le ciel vert se meurt. Le dernier arbre brûle.

Ta sœur, la grande rose où sourit une sainte,
Parfume ton front vague au vent de son haleine
Innocente, et tu crois languir… Tu es éteinte

Au bleu de la croisée où tu filais la laine.

 

Die Spinnerin

Lilia …, neque nent.
Die Lilien …, sie spinnen nicht. (Mt 6, 28)

Die Spinnerin, im Fensterblau verschwommen,
vom Garten wiegt sich schattenhaft Gefieder,
des alten Spinnrads Surren machte sie benommen.

Von Azur trunken, müde, weiche Wolle wieder
zu zupfen, sie entglitt den schwachen Händen,
sie träumt, es sinkt ihr zartes Haupt hernieder.

Aus Busch und klaren Lüften frische Quellen senden
das Leben in den Tag, der Anmut Blüten sprühen
sie lose in den Garten, wo sie Muße spenden.

Ein Halm, da ruht der Wind von Wandrers Mühen,
er neigt sich graziös im Sternenscheine,
weiht das alte Rad mit seiner Rose Glühen.

Doch die Schläferin spinnt Wolle höchster Reine.
Geheimnisvoll flicht sich der zarte Schatten
im Garn der schlanken Hand im Schlafe von alleine.

Der Traum spult ab sich wie Ermatten
von Engeln von der treuen Spindel ohne Enden.
Das Haar wölkt Locken, die sich gatten.

Das hohe Blau, verborgen hinter Blumenwänden.
Des Laubes Spinnerin, geschürzter Himmelspole:
Der grüne Himmel stirbt. Ein letzter Baum in Bränden.

Deine Schwester, die große Rose, Lächelns Aureole,
hat deine fahle Stirn mit Unschuld überronnen,
dir ist es wie Verblassen … es sinkt die Gloriole

im Blau des Fensters, wo die Wolle du gesponnen.

 

Dies ist das Meisterwerk eines Zwanzigjährigen (erschienen erstmals 1891, Ausgabe letzter Hand: „Album des Vers anciens“ im Jahre 1920).

Der Dichter gibt uns (und das ist ungewöhnlich für die lyrische Form) mit dem Zitat aus der Bergpredigt Jesu „Lilia …, neque nent“ einen ersten Hinweis. Bei Matthäus heißt es:

Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn Speise? und der Leib mehr denn die Kleidung? Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen möge, ob er gleich darum sorget? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eins. (Mt 6, 25–29)

Diese Worte sind nicht getrübt vom trüben Blick auf die gequälte Kreatur, auch wenn gerade und nur von dieser geredet wird, sondern sie leuchten vom luziden Blick auf die erlöste oder der Erlösung harrende Kreatur. Diese steht noch am Abgrund der Weltenangst, doch schaut sie nicht in den Abgrund, sondern nach oben zum Stern der Erlösung, der sie mit dem milden Glanz einer neuen Freiheit und Gelassenheit umgibt. Die Sorge um das tägliche Brot ist nichtig vor der Erwartung der göttlichen Speise. Die Sorge um Stellung und Ansehen, die sich in der Kleidung manifestieren, ist eitel gegenüber der göttlichen Schönheit, die den Erlösten vom Tisch des Herrn her bescheint und verschönt. – Der biblische Autor überliefert in der Passage, die im Vergleich mit den Lilien gipfelt, eine Eigenart der hebräischen poetischen Prosa, den hyperbolischen Ausdruck: Wenn schon die Lilien auf dem Felde schöner anzuschauen sind als aller Prunk des Königs Salomo, wie unvergleichlich schön werden die Erlösten sein, wenn der himmlische Vater sie mit neuen Kleidern begabt.

Bleiben wir im Umfeld biblischer und christlicher Bilder, gewahren wir alsbald, daß der Dichter mit der Lilie des Jesusworts auch auf die Lilie aller Lilien, die Gottesmutter Maria, anspielt. Und sie ist es, die in die lyrische Gestalt der Spinnerin des Gedichts eingeht, so wie das bläulich gebrochene Licht aus dem Garten des Paradieses durch das Fenster zu fallen scheint, so wie in diesem Blau der blaue Mantel Mariens nachzuwirken scheint, so wie jene schwankende Bewegung von Schatten, die vom Garten her über die Wände des stillen Zimmers zittern, uns den Gedanken an die rauschenden Flügel des Engels der Verkündigung nahelegen.

Wo aber die Lilie ist, da ist die Rose nicht weit. Und wirklich zaubert sie der Dichter in den Traum der Spinnerin, wenn der Halm, der nun Ruhe findet vom unruhigen Wind, in einer graziösen Geste des Grußes und der Dedikation seine Rosenblüte an das alte Spinnrad neigt (Verse 10–12).

Und wieder ist es die Rose, die im Schlußstein des Gedichtes aufleuchtet (Verse 22–24). Hier wird sie die Schwester der Lilie genannt, die mit dem Lächeln einer Heiligen das bleiche Antlitz der Schläferin mit Unschuld behaucht. Wir gewahren auch staunend, daß die Rose lebt und weiterlebt, während ihre Schwester zu vergehen, die Spinnerin zu sterben scheint.

Sollen wir zu sagen wagen, daß Valéry damit auf den Sieg des Eros und der Aphrodite, denn ihnen ist ja der Rosengarten zueigen, über die zarte Flamme der Keuschheit, die sich in der Lilie verkörpert, anspielt? Nein, so weit wollen wir nicht gehen, ist doch der Faden des Traums, den die Spinnerin träumt, nicht ein für allemal abgerissen, denn er spult sich wie von selbst immer weiter, unaufhörlich aus ihren schlafenden Händen ab (Verse 13–15).

Und diese schlafenden Hände, sind sie nicht auch die Hände des Dichters, und der Faden, der sich von der treuen Spindel geheimnisvoll abspult, ist er nicht der Faden des Gedichts?

Damit kommen wir an die Aussagekraft der Form des Gedichtes heran: Es sind klassische Terzinen, wie sie Dante geprägt und die französische Dichtung der Romantik und des Symbolismus gepflegt haben. Die elfsilbigen Zeilen der Terzine mit weichem Ausgang verschlingen und verbinden sich mittels der kreuzförmigen Reimordnung: aba bcb cdc … yzy z.

Diese Reimordnung öffnet einen epischen Raum des gleichsam murmelnden und vor sich hin sprechenden Erzählens, das aus einem verborgenen inneren Quellpunkt gespeist wird, der auch wenn er leiser und manchmal unhörbar wird doch nicht versiegt, sondern sich weiter ins Grenzenlose zu ergießen scheint. Daher hat sich Dante dieser Form als Netzwerk und zartes Geflecht seiner epischen Divina Commedia bedient.

Um den verborgenen und unterirdischen Quell des dichterischen Sprechens zu erkunden und hörbar zu machen, evoziert Valéry mit den poetischen Mitteln der symbolistischen Metapher und einer gleichsam ins Vage und Irrlichternde verschobenen grammatischen Anordnung beim Leser (oder besser noch: Hörer) eine Art von Traumzustand oder ein somnambulisches Sinnen und „Spinnen“.

Schon im Eingang des Gedichts verschwimmt die im Titel benannte Gestalt ins Unwirkliche blauer Schatten. Wir, die wir mit eintauchen in die Stille dieses leise-bebend gesprochenen Raums und die schwebende Melodie der Laubschatten und das monotone Surren des alten Spinnrades vernehmen, werden ein wenig benommen und betäubt, wie die Spinnerin selbst (Verse 1–3).

Und schon haben wir vom Azur getrunken und der Wollfaden, das tierische Haar, der ungreifbare Stoff des Bewußtseins, an dem wir immerfort spinnen und weben, entgleitet unseren schwachen Händen – und wir träumen. Das tiefe, ins Grenzenlose lockende Blau des Himmels ist eine der wesentlichen Metaphern der symbolistischen Lyrik, die wir auch bei Baudelaire, Mallarmé, Verlaine und Rimbaud finden. Es steht für das Unendliche, Ungreifbare und Unwiderstehliche der menschlichen Sehnsucht in all ihrer Intensität und Absolutheit. Von der Spinnerin des Gedichts aber wird gesagt, nicht daß ihr Blick vom Azur erfüllt sei, sondern daß sie ihn getrunken habe – und also ist sie davon trunken (Verse 4–6).

In den beiden folgenden Strophen (Verse 7–12) taucht uns der Zauber der Sprache in den Paradiesestraum der Spinnerin, in dem wir alsbald zu der genannten geheimen Quelle gelangen, die sowohl als Quelle des Lebens als auch als Ursprung der Dichtung angesprochen wird, wenn sie ihre losen Blüten in den Garten der Muße streut, Muße und Garten, die vom Eden der Bibel über den Garten Vergils und aller bukolischen Poesie bis zu den schönen Fluchten Watteaus die dichterisch Geneigten und dichterisch Gesinnten von jeher angelockt haben.

Wir weisen hier nur auf eine, indes raffiniert gemeisterte Stelle hin, die uns die Rede von der entrückenden Wirkung der grammatischen Verschiebung erläutern mag. Es ist dies die durch das initiale „Mais“ herausgehobene Strophe, in der die Schlafende eine nicht ganz irdisch scheinende Wolle spinnt („une laine isolée“, Vers 13), die sich aus einem zarten Schatten in den Händen, die wiederum gesondert als schlafend angesprochen werden, wie von selbst flicht. Hier hat Valéry die genannte Wirkung durch die extreme Sperrung zwischen dem Bezugswort „lʼombre frêle” und dem zugehörigen Adjektiv „filée“ am Ende der Strophe zu erzielen gewußt: Wie sich der Faden traumhaft von alleine erzeugt, flicht, webt oder knüpft sich das Adjektiv, das eben diesen Tatbestand ausdrückt, wie von selbst an den Satz an.

Die beiden Strophen 5 und 6 (Verse 13–18) sind die poetologischen Strophen des Gedichts par excellence und in gesteigerter Form: Denn sie erweisen das Gedicht, wie man von aller großen Dichtung sagen möchte, als Dichtung der Dichtung, als ein Gedicht, das immer auch sich seiner eigenen Quellen und Ursprünge versieht, das singt, indem es dem Gesang seiner Quelle lauscht. Denn gewiß besteht die sonderbare Wolle, die die Spinnerin spinnt oder die sich um die symbolische Lilie des Gedichts herumspinnt, aus nichts als Worten, eben den Worten des Gedichts.

In den Versen 17–18 dringt die symbolistische Poetologie noch ein wenig weiter in das gleichsam vom Schnee der Unschuld oder der Stille verhüllte, gedämpfte oder traumversunkene Gebiet des Sagens vor: Die Art, wie sich das dichterische Sagen abspult, nähert sich dem Wesen der Engel in ihrem seligen Nichtstun und einer Zartheit und geheimnisvollen Erotik, die schon Baudelaire am Wellen und Wogen des weiblichen Haars faszinierten.

Auch in den beiden schließenden Strophen (Verse 19–24) verbleiben wir im Traum der Spinnerin, in dem es Abend wird, der Himmel verblaßt und ein letzter Baum aufflammt. Noch einmal sagt uns der Dichter, was die Spinnerin-Dichterin spinnt und dichtet: Es ist Laubwerk und Licht, das Laubwerk der dichterischen Sprache und das unwirkliche Licht ihrer Bilder, mit dem sie sich oder der Dichter das Gedicht umgürtet. So wird auch die göttliche Lilie als Himmelskönigin abgebildet, die sich mit Sternenlicht schürzt, ein orientalisches Bild, das bereits den alten Muttergottheiten und der griechischen Aphrodite zugeeignet worden ist, wie wir aus den Gedichten der Sappho erfahren.

Wir merken noch an, daß mit dem Grad der inneren Spannung und der Bangigkeit, die mit den letzten Strophen im Erlöschen der symbolische Lilie gipfelt, die Intimität der poetischen Zuwendung und Ansprache wächst: Ab Vers 22 wendet sich der Dichter mit dem intimen Du an seine Gestalt und nimmt gleichsam mit einer intimen Geste Abschied von ihr. Dies verweist auf eine gewisse Ergriffenheit und gesteigerte Anteilnahme.

„… et tu crois languir … Tu es éteinte“ (Vers 24, … du glaubst einzuschlafen … und bist entschlafen“): Das gänzliche Verblassen und Hinsterben der Lilie vollziehen sich im imaginären Raum des Gedichts und sind von seiner Irrealität aufgezehrt. Die Spinnerin stirbt nicht wirklich, sondern wir finden sie in der Schlußstrophe wiederum dort, wo sie uns eingangs begegnete, im blauen Licht, das durch das Fenster fällt. Damit ist das Gedicht nicht ein für allemal zu Ende, nicht einmal unterbrochen – denn es könnte von neuem beginnen und uns in einen anderen Traum entführen, einen gedichteten Traum, der kein gänzlich anderer Traum ist, sondern in gewisser Weise derselbe Traum, das Gedicht.

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