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Logische Schneisen XII

03.02.2014

Zahlen sind Indikatoren der Identität, und also der Verschiedenheit, von Dingen, Ereignissen, Tatsachen. Wenn du das eine Ding A aus einer gleichartigen Serie von Objekten wie Äpfeln, Handtüchern oder Tassen mit 1.0 etikettierst und das andere Ding B aus derselben Serie mit 1.1, weißt du, dass gilt: A ist nicht B. Und dies aus dem unabweislichen Grund, weil natürlich gilt: 0 ist nicht 1.

Aus dem Vorgang des Zählens und also aus dem Hantieren mit den natürlichen Zahlen 0 und 1 können wir die Struktur des logischen Raums aufbauen. Denn: (1) Zählen ist ein intentionaler Akt, der dem Zählenden bewusst ist, es kann (2) mittels Sprechakten dargestellt werden wie „Ich zähle von 1 bis 10“ oder „Ich zähle die Primzahlen zwischen 30 und 50“ oder „Ich zähle bis zur 18. Kommastelle der Zahl pi“ und ist (3) ein zentraler Baustein der Rationalität, weil es die logischen Forderungen nach Konsistenz, Kohärenz und logischer Folgerung voraussetzt und im besten Falle erfüllt.

Du zählst zunächst 0, danach zählst du 1. Zählen ist wie jede Hantierung und Handlung sowie jeder Sprechakt ein Vorgang in der Zeit, ein Vorgang, eine Handlung, die Zeit braucht. Wenn wir die Zahlen wie die Stationen eines Wanderwegs mittels Zählen erreichen und wenn das die Zahlen konstituierende Zählen Zeit braucht, können wir daraus schließen, dass Zahlen nicht in einer scheinbar zeitenthobenen Sphäre als ewige Entitäten herumschweben oder wie Fixsterne am platonischen Ideenhimmel festgenagelt sind.

1080 ist die ungefähre Anzahl der Atome im Weltall. Die Zahl gibt eine unser Vorstellungsvermögen weit übersteigende Größe an – aber eine endliche, begrenzte, messbare Größe. Du kannst aber einfach hinschreiben: 1081, 1082, 1083 und so weiter. Was heißt das? Wir zählen einfach weiter, wie es uns passt, scheinbar oder offenbar durch keine realen Grenzen der realen Raum-Zeit gehemmt.

Wären Zahlen gleichsam Abbilder der zählbaren Dinge, wären die Etiketten 1.0 und 1.1 nicht lose mit den durch sie etikettierten Dingen verbunden, sondern an sie fest angeheftet, könnten wir irgendwann nicht weiterzählen, sondern stießen an die faktische Grenze des Zählbaren.

Würden Zahlen die zu zählenden und  zählbaren Dinge bezeichnen, wie könnte es dann eine Null geben, die ja nichts zu bezeichnen scheint? Oder wie negative Zahlen – von irrationalen und imaginären Zahlen zu schweigen. Welches seltsame Objekt sollte die transzendente Zahl pi bezeichnen? Also, merken wir an, Zahlen bezeichnen oder referieren nicht, der Vorgang des Zählens ist kein Vorgang des Bezeichnens.

Aber, wendest du ein, wir brauchen die vertrackte Zahl pi doch, um ein wirkliches geometrisches Gebilde, den Kreis, zu vermessen, nämlich Umfang und Fläche des Kreises zu bestimmen! Doch was sind Kreise – und all die anderen geometrischen und topologischen Gebilde und Strukturen – anderes als wiederum Werkzeuge des menschlichen Geistes, der damit schalten und walten kann, wie es ihm beliebt – freilich bis zur unüberschreitbaren Grenze der Inkonsistenz?

Würden Zahlen etwas bezeichnen, müssten sie wie Eigennamen funktionieren. Eigennamen bezeichnen Gegenstände, die existieren, auch wenn wir um ihre Existenz nicht wissen. Denn gewiss gibt es einen gewissen Hans-Peter oder eine bestimmte Inge in deiner Nachbarschaft, in deinem Nachbarviertel oder deiner Nachbarstadt, die so heißen, von deren Existenz du aber nichts weißt. Was sollte es aber bedeuten, dass eine Zahl mit dem Namen Z0 existiert, aber du weißt nichts von ihrer Existenz? Würden Zahlen bestehende Entitäten bezeichnen, wäre man leicht verführt, zu meinen, auch das Zeichen für das „Und so weiter“, das Unendlichkeitszeichen, bezeichne einen Gegenstand, nämlich das Unendliche. Schon kommen wir in Teufels Küche und stellen unsinnige Fragen wie: Was für ein Objekt ist ein Objekt, das keine Grenzen hat, oder: Wie kann das Unendliche im Endlichen existieren?

Wir fangen irgendwo an, egal wo – aber noch haben wir nichts getan, keinen Mucks und keinen Schritt. Wir nennen diesen Ort des Ursprungs unserer Absichten, Vorhaben, Handlungen und Sprechakte in der irrealen Welt der Zahlen den Nullpunkt oder einfach null. Das ist der Ausgangspunkt – es gibt nichts davor, alles aber danach: Wenn wir den ersten Schritt tun, haben wir gleichsam alle Schritte getan – wie wir gleichsam alles gesagt haben, wenn wir das erste Wort gesagt haben.

Wenn wir den ersten Schritt tun, zählen wir 1. Wir sagen: 1 ist der natürliche Nachfolger der Null, die nur diesen einen direkten Nachfolger, aber keinen Vorfolger oder Vorgänger hat.

Jetzt stehen wir gleichsam auf vorgerücktem Posten, auf der Wegscheide oder am Scheideweg. Vor oder zurück? Wenn uns jetzt der Mut verlässt und wir vor dem nächsten Schritt zurückschrecken, kann es passieren, dass wir kopflos werden und zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren.

Was ist hier passiert? Wir stehen gleichsam unverrichteter Dinge wieder am Nullpunkt, müssen wie man sagt wieder bei null beginnen, obwohl wir die Position der 1 schon erreicht hatten. Als hätten wir gerechnet: 0 x 1 = 0.

Wir haben demnach die Ursünde der Inkonsistenz, des Selbstwiderspruchs, begangen: einen Schritt nach vorn und gleich wieder einen Schritt zurück. Wir sehen, was dabei herauskommt: gar nichts. Wir können die Inkonsistenz sehen, nämlich an der Gleichung 0 x 1 = 0, wofür wir auch schreiben können: ̶1̶  = 0.

Natürlich sollten wir vermeiden, gleich bei unserem ersten Schritt in unbekanntes Gelände zu straucheln. Können wir aber gleichsam auf hoher See oder mitten im Getümmel den Fehltritt der Inkonsistenz auf alle Fälle sichten und ausräumen? Bleiben wir bescheiden und sagen: Nur so weit das Auge reicht, sprich, soweit wir einen Überblick gewinnen können. Vielleicht hast du vor einem Jahr angenommen, Irene wohne in deinem Viertel, heute denkst du nicht mehr an diese Annahme und argwöhnst, Irene wohne nicht in deinem Viertel. Diese gleichsam milden, weil in dem Netzwerk unserer Annahmen lokal umgrenzten und deshalb relativ ungefährlichen Inkonsistenzen können wir nicht ausschließen.

Wenn wir einen Weg zurückgelegt haben und auf einen Hügel gelangen, können wir zurückblicken und unsere verschlungenen Pfade überschauen, die wir gegangen sind, um unseren Überblickspunkt zu erreichen. Wenn wir sehen, dass die zurückgelegten Wegstrecken – trotz Kurven und mancher Umwege und Überkreuzungen – kontinuierlich auseinander hervorgehen, ist alles in Ordnung. Würden wir dagegen wahrnehmen, dass die Spuren unserer Schritte plötzlich abbrechen, um an einer anderen Stelle unversehens wiederaufzutauchen, stutzten wir gehörig und dächten, dass hier was nicht stimmt. Solche Unterbrechungen der Weglinien unseres Handelns und Denkens, solche Löcher im Kontinuum unserer Erfahrung stehen gleichnishaft für das Auftreten von Inkonsistenzen. Wie können wir sie identifizieren? Nun, wir müssen halt immer wieder nach einer gewissen Wegstrecke einen Überblickspunkt finden, von dem aus wir den Faden der Gedanken zurückspulen – und darauf hoffen, dass wir nicht plötzlich ein loses Ende in Händen halten. Dagegen haben wir als gebrechliche Wesen, deren Gedankenkontinuum ständig durch Vergessen, durch Träume und mentale Gewitter unterbrochen wird, keine Hoffnung und keine Chance, einen Aussichtspunkt zu finden, von dem aus wir alle von uns jemals zurückgelegten Wege auf einen Schlag in den Blick nehmen könnten – und könnten wir es, wäre damit noch nicht viel ausgerichtet, denn wir gehen ja weiter, haben noch eine Strecke Weges vor uns, die wir dann wiederum von einem anderen Aussichtspunkt überblicken müssten.

Es könnten Rück- und Überblicke zu fatalen Einsichten führen, dann nämlich, wenn jemand bemerkt, dass die Abdrücke der Fußspuren zwar in die Nähe seines Beobachtungspostens führen, aber nicht geradewegs zu seiner Position gelangen, sondern kurz davor abbiegen und in entgegengesetzter Richtung weiterlaufen. Hier, bemerken wir, kann der Einbruch der Inkonsistenz ins Netzwerk der Gedanken und Erinnerungen dermaßen extrem und umfassend sein, dass wir Zweifel zu hegen beginnen, ob wir der Person noch den Status eines rationalen Lebewesens zusprechen wollen.

Wir haben den ersten Schritt getan und sind bei der natürlichen Zahl 1 angelangt. Wir blicken zurück und sehen: Dies ist der einzig konsistente Schritt, um uns von der Null wegzubewegen. Wir bemerken, die Null ist die erste natürliche Zahl und hat genau einen Nachfolger. Also folgern wir, dass die 1 als die zweite natürliche Zahl ihrerseits einen Nachfolger hat. Wir machen den nächsten Schritt und gelangen zur 2. Erst von dieser Position aus können wir mit Sicherheit sagen: und so weiter.

Wir gelangen so rasend schnell zur 9, dann aber springen wir gleichsam auf die erste Etage und schreiben nicht ein eigenes Zeichen für die Zehn hin, wie man es mit dem lateinischen Alphabet mithilfe von X tut, sondern setzen die Zehn aus der 1 und der 0 zusammen und erhalten 10. So machen wir weiter bis zur 20, 30, 40 und so weiter und springen schließlich bei 99 auf die nächste Etage unseres Stellenwertsystems des Zählens, nämlich auf die 100.

Wir bemerken, dass uns die Zahlen 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 ausreichen, um die Menge der natürlichen Zahlen vollständig aufzubauen. Aber, könntest du einwenden, warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah.

In der Tat, dass wir unser Zahlensystem anhand der Zehnerreihe aufbauen, ist nur der natürlichen und kontingenten Tatsache geschuldet, dass wir nun einmal zehn Finger haben und vor Zeiten anhand unserer Finger mit dem Zählen begonnen haben, wie es kleine Kinder auch jetzt noch tun. Kurz und gut: Da wir alle Zahlen mit der 0 und der beliebigen Addition von Einsen darstellen können, liegt das binäre System, mit dem wir die Zahlen und alle anderen Zeichen (vor allem die Buchstaben) mittels der Kombination der Zeichen für 0 und 1 darstellen können, in all seiner Perfektion, Eleganz und Schönheit vor unseren Augen.

Wir haben zu zählen begonnen und das Sesam-öffne-dich von Mathematik und Logik, das Und-so-weiter, mutig ausgesprochen. Und wie geht das Und-so-weiter? Du meinst, es nehme halt kein Ende mit dem Zählen und Sprechen, weil du ja immer weiter zählen und sprechen und für den Nachfolger des Nachfolgers den Nachfolger benennen könnest – weil du bei der x-ten Zahl einfach die nächste Zahl mit der Formel x + 1 bilden könnest, ein unerschöpfliches Unterfangen!

Wenn Zahlen aber Werkzeuge des menschlichen Geistes sind und wenn vieles, was Menschen ins Werk setzen, wohl großartig und bewunderungswürdig sein mag, aber letztlich doch begrenzt und endlich ist, wird dann nicht auch unser kreatives Und-so-weiter an ein Ende kommen und abbrechen müssen? Wir können ja, wenn das Universum aus 1080 Atomen besteht, in einer höchst optimistischen Fiktion „nur“ 1080 Zahlen, Ziffern oder Striche an bestimmten Punkten dieses Universums anbringen.

Was tun? Schreiben wir getrost 1081 hin. Im Bereich der geistigen Abenteuer können wir, was wir wollen – und wir wollen nicht von realen Hemmklötzen in unserer mathematisch-logischen Urlust gestört werden, weiter zu zählen und weiter zu sprechen.

Mit der Gleichung 1 – 2 = –1 gelangen wir in den Bereich der negativen Zahlen. Wir sehen dies im Bild, dass wir uns im Nullpunkt umdrehen und in die entgegengesetzte Richtung einen Schritt machen. Und wieder gilt das Nachfolgeraxiom, das uns das Und-so-weiter in dieser Richtung eröffnet.

Mit dem geordneten Zahlenpaar (1/1) erobern wir die zweite Dimension, die Ebene oder Fläche, mit dem geordneten Zahlentripel (1/1/1) die dritte Dimension, den Raum. Wir sehen: Wir können nicht nur linear auf dem Zahlenstrahl das Und-so-weiter Schritt für Schritt vollziehen, sondern auch multidimensional den Raum der Dimensionen mit dem Und-so-weiter Schritt für Schritt aufbauen.

Wir haben mit dem Punkt der Ebene P1 (1/1) und dem Punkt des dreidimensionalen Raums P2 (1/1/1) genau einen Wert von virtuell unendlich vielen Werten herausgegriffen. Dies gilt auch dann, wenn wir mittels dieser Punkte im cartesischen Koordinatensystem ein Quadrat mit der Kante 1 oder einen Kubus mit der Kante 1 konstruieren. Wir brauchen nur willkürlich einen Wert der Punktmengen zu variieren, zum Beispiel P3 (1/2) oder P4 (1/1/2), und schon erhalten wir als Ergebnis andere geometrische Gebilde, nämlich ein Rechteck beziehungsweise eine quadratische Säule.

Die Virtualität oder die grenzenlosen Möglichkeiten der Wertverteilung können wir folgendermaßen ausdrücken: P1 (x1/y1) beziehungsweise P2 (x1/y1/z1). Wir sehen: Wir können nicht nur mit gegebenen Zahlen hantieren, sondern auch durch algebraische Abstraktion mit virtuellen Zahlen spielen.

Wir verteilen beliebige Werte auf die Punktmengen und üben uns im Und-so-weiter, indem wir an je einer Wertstelle eine 1 hinzufügen: P5 (x1 + 1/y1 + 1/z1 +1). Wenn wir auf den vollständigen Zahlenraum zugreifen, können wir statt der 1 auch jeweils –1, Wurzel aus –1 oder pi einsetzen.

Wenn du ein Quadrat in der Mitte faltest und die beiden Hälften zusammenklappst, erhältst du ein Rechteck, schneidest du es in der Mitte durch, erhältst du zwei flächengleiche Rechtecke. Machst du das mit einem Kubus, erhältst du einen Quader. Quetschst du einen Kreis, erhältst du eine Ellipse. Ja, du kannst mit ein bisschen Gewaltanwendung einen Kubus so lange zusammenpressen, bis er wieder eine Dimension herunterfährt und ein Quadrat bildet (mach es in Gedanken, dann geht es problemlos). Wir sehen: Mittels regelförmiger Transformationen können wir nicht nur geometrische Gebilde einer Stufe ineinander verwandeln, sondern auch Gebilde beliebiger Stufe auf die nächstniedrige Stufe, wie von der 3. Dimension auf die 2. Dimension, transformieren. Wir sagen: Zahlen und Gebilde, die wir anhand von Punkt- und Zahlenmengen konstruieren, können wir beliebig variieren.

Was wir nicht können, und hier handelt sich es wiederum nicht um ein empirisches Versagen, sondern um einen Zug oder eine Eigenschaft im logischen Raum: Wir können mittels Variationen keine zahlenförmigen Strukturen oder geometrischen Gebilde erzeugen, die nicht durch die Angabe ihrer Koordinaten, also mittels Punkt- und Zahlenmengen, dargestellt werden können. Das Verfahren der Variation ist strukturell und dimensional in sich abgeschlossen durch den Begriff der Identität. Variation setzt den Begriff der Identität voraus.

Würden wir den Begriff der Identität aufgeben, könnten wir nicht mehr zählen – und also nicht mehr denken. Gedanken sind Variationen der Identität. Wenn wir auf dem Gedankenweg den Ausgangspunkt, den Nullpunkt, unserer freien Variationen gleichsam vergessen oder aus den Augen verlieren und von unserem Überblicksposten aus nicht mehr gewärtigen können, haben wir das Spiel verloren und uns heillos in Inkonsistenzen verstrickt. Wir haben dann nicht bloß Fehler gemacht, wie einem eben nun mal notgedrungen Rechenfehler unterlaufen, sondern sind nicht mehr in der Lage, zu erkennen und zu behaupten, ob wir Fehler gemacht haben oder korrekt gerechnet und klar gedacht haben.

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