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Philosophieren XVI

24.07.2013

Du tust, was du willst. Du tust nur das, was du willst. Was du nicht willst, könntest du vielleicht tun, tust es aber jetzt nicht. Du tust nicht, was du nicht willst. Du kannst nicht tun, es ist dir nicht möglich zu tun, was du ein für alle Mal nicht willst.

Du gibst deinem Freund die Geldsumme, die er dir freundlicherweise ausgeliehen hat, zum vereinbarten Zeitpunkt nebst den ausbedungenen Zinsen zurück. Du gibst das Geld zurück, weil du es deinem Freund versprochen hast, weil du es ihm hoch und heilig gelobt hast. Auch wenn es dir nicht leichtfällt, obwohl du die Summe gerade jetzt gut gebrauchen könntest, brichst du dein Versprechen nicht, sondern löst es ein.

Wenn du das Geld nur ungern, widerwillig, wider Willen zurückgibt, wider Willen zwar, aber getreu deinem Aug in Aug zugesagten Wort, wider Willen, aber pflichtbewusst – dann tust du etwas, was du eigentlich gar nicht willst, und wäre es dir freigestellt, wärest du in einer Welt, in der das gegebene Wort, das gegebene Versprechen nicht zählten – nicht in deiner Welt –, dann würdest du deinem eitlen Willen freien Lauf lassen: „Was schert mich mein Geschwätz von gestern!“

Aber dir gilt: Gesagt, getan. Versprochen ist versprochen. Also musst du dein Versprechen einlösen wollen, soll weiterhin das Gesetz gelten: Natürliche Organismen werden durch natürliche Ursachen und Antriebe wie Bedürfnisse und Wünsche oder durch physikalisch-chemisch-biologische Mechanismen zu Handlungen determiniert, welche sich für den Betroffenen als Bedürfnisse und Wünsche bemerkbar machen. Wenn du aber, wie du sagst, dein Versprechen eigentlich nur widerwillig einlöst, müssen wir annehmen, dass die Macht des Versprechens die Macht des natürlichen Willens zu überformen und sich unterzuordnen in der Lage ist. Die Macht des Versprechens, des Gelobens, des Treueschwurs oder der Verpflichtung setzt sich gleichsam an die Stelle unserer primären Wünsche, sodass du fähig bist zu wünschen, was du auf einer anderen Ebene eigentlich nicht wünschst.

Du windest dich morgens aus den Laken und machst dich schließlich trotz deines Unbehagens oder Widerstrebens auf in die Schule, die Universität, zur Arbeit. „Wenn ich mich morgens nicht mehr rausquälen würde, um zur Schule, zur Universität, zur Arbeit zu gehen, würde ich über kurz oder lang riskieren, von der Schule zu fliegen, mein Examen zu vermasseln, entlassen zu werden.“ Du willst sagen: Weil diese dir zweifellos drohenden größeren Übel das geringere Übel des morgendlichen Unbehagens übersteigen, siehst du peinlich darauf, sie durch dein Handeln zu vermeiden.

Ist es nicht auch so beim Versprechen? Löst du es nicht ein, könntest du Gefahr laufen, schlecht beleumundet zu werden, an Ansehen und Ehre einzubüßen, bei Freund und Feind verschrien als Betrüger und hundsgemeiner Schuft, dem nicht zu trauen ist, mit dem man keine Geschäfte machen, keine Freundschaft pflegen sollte. Also entgehst du mittels des geringeren Übels, nämlich das Geld auf den Tisch zu zählen, dem größeren, nämlich sozialer Ächtung und Isolierung.

Doch nehmen wir an und übertreiben wir ein wenig der Deutlichkeit und Klarheit des Gedankens zuliebe, du bist willens, dein Versprechen nicht einzulösen, möchtest aber den unangenehmen Folgen dieses Betrugs wie bösem Leumund und sozialer Ächtung entgehen und ziehst deshalb weit weg in eine andere Stadt, ein anderes Land, nimmst einen anderen Namen an und gedenkst, so ein unbeschwertes Leben zu führen. Aber die Tatsache, dass du dort hingezogen bist, weil du deinem Freund nicht mehr ins Gesicht sehen kannst, bleibt bestehen und sie besteht fort in dir, solange du dich daran erinnerst. Und diese Erinnerung ist nicht süß, sie hat einen bitteren Beigeschmack, der von dem herrührt, was wir schlechtes Gewissen nennen.

Können wir indes nicht annehmen, dass du dir gleichsam selbst versprochen hast, die Schule und die Universität zu besuchen und erfolgreich abzuschließen, um einen deinen Fähigkeiten angemessenen und deine Neigungen zufriedenstellenden Beruf ausüben zu können? Können wir nicht annehmen, dass du in dieser Form der Selbstverpflichtung dir ein berufliches Engagement gesucht hast, das dir ermöglicht, ein angenehmes und anständiges Leben zu führen? Dann wäre es am Ende die Macht der Verpflichtung und Selbstverpflichtung, die es dir nicht leicht, aber möglich macht, deinem Primärwunsch, liegen zu bleiben und dir noch eine Mütze Schlaf zu genehmigen, nicht nachzugeben, sondern ihn durch den mittels Selbstverpflichtung mobilisierten Sekundärwunsch zu überformen und zu ersetzen, Laken und Schlaf abzuschütteln und pünktlich in der Schule, der Universität, der Arbeit zu erscheinen.

Wenn dich aber aus dem Hinterhalt eine Krankheit packt, wie die mentale Erkrankung, die bewirkt, dass du paranoide Ängste vor deiner Lehrerin, deinem Professor, deinen Kollegen entwickelst, wird die finstere Macht dieser Krankheit allmählich oder rasch die lichte Macht deines Sekundärwunsches, deiner Selbstverpflichtung, deiner Lebenswahl unterspülen und unterminieren: Du bleibst morgens einfach liegen, du stehst tagelang nicht mehr auf. Alles, was du dir selbst, deinen Liebsten, deinen Freunden magst versprochen haben, verliert seine Macht und wird ohnmächtig. Und rechnen wir nicht die Unfähigkeit, Versprechen, Gelöbnisse, Eide und Schwüre einzuhalten und einzulösen, zu den Symptomen der Geisteskrankheit, an deren Endpunkt die Entmündigung steht, die amtliche Beglaubigung der Tatsache, dass der Betroffene keinen bürgerlichen Amtsgeschäften mehr nachgehen, kein Konto führen, keine Verträge schließen darf, Handlungen, die die Macht der Sekundärwüsche über die Primärwünsche, die Macht der Verpflichtung und Selbstverpflichtung voraussetzen?

Oder du stellst nach jahrelangem Studium der Germanistik, nach jahrelangem treuen und engagierten Dienst als Deutschlehrer an der Gesamtschule fest (infolge seltsamer Erlebnisse, aufregender Erfahrungen), dass du einen falschen Weg, einen Holzweg, gegangen bist: Jetzt erst, spät, aber nicht zu spät entdeckst du deine eigentliche Begabung, deine tiefe Neigung zu einer handwerklichen Tätigkeit wie dem Kunstschreinern, Töpfern oder Glasmalen – an diesem Zeitpunkt verwirfst du deine einstige Selbstverpflichtung und erklärst sie für null und nichtig. Nunmehr setzt du eine andere an ihre Stelle, das neu entdeckte Kunsthandwerk so gut, gründlich und sorgfältig dir anzueignen, dass du eine neue Profession daraus machen kannst, die ihren Mann (und deine Frau, deine Kinder) ernährt.

Wir können also wohl sagen: Du kannst dir einerseits die Gründe zu handeln klarmachen, indem du mit dem bewährten konditionalen Satzgefüge auslotest, was geschieht oder unterbleibt, wenn du tust, was du zu tun geneigt bist, oder unterlässt, was dir nicht in den Kram passt. Schwänzt du in einem fort die Schule, gerätst du auf die schiefe Bahn. Um nicht auf die schiefe Bahn abzurutschen, kriechst du morgens wenn auch widerwillig aus dem warmen Bett. In solchen Fällen konditionieren wir unseren Willen, indem wir den Primärwunsch durch den Sekundärwunsch überformen und ersetzen.

Anders bei den Formen der Verpflichtung: Schule, Universität und Büro sind Einrichtungen an konkreten Orten, die ihre Zeit unabhängig von deinem Wollen und Nichtwollen, deinem Tun und Lassen existieren und dauern, denen du den Rücken zudrehen und entlaufen kannst. Dein Versprechen, den Kredit bei deinem Freund dann und dann abzulösen, ist als soziale Tatsache einzig in der Welt kraft der Bewegungen und Artikulationen deines Mundes, mit denen du das Versprechen in die Welt gesetzt hast. Du hast ja mit deinem Versprechen allererst die hinreichende Bedingung für die geldliche Transaktion, die Übergabe des Geldes zu deinen Gunsten, hergestellt. Schule, Universität, Arbeitsstelle kannst du wechseln, dein Versprechen bleibt als solches an dir kleben.

Formulieren wir es vorsichtig: Verpflichtungen und Selbstverpflichtungen im Rahmen institutioneller Akte wie Versprechen, Geloben, Schwören haben kraft ihrer ontologischen Form, ihre Existenz einzig dem Akt zu verdanken, durch den sie ausgesagt werden, eine den Willen nötigende ethische Macht, die sich von der sozialen Macht unseres selbst oder durch andere konditionierten Willens unterscheidet. Gegebenenfalls ist die ethische Macht der Verpflichtung so stark, dass sie der äußeren sie fördernden Stimuli und Stützen wie beruflichen und privaten Erfolgs oder ihre Verletzung ahndender Risiken wie Ächtung und sozialer Isolierung entbehren zu können scheint.

Du hast vor Jahren vor den Beamten des Amtsgerichts und den anwesenden Zeugen deiner Frau das Ehegelöbnis ausgesprochen, das beglaubigt und ins Amtsregister eingetragen wurde. Das Versprechen der Treue und des Beistandes in allen Lagen war dir ernst und du hast es beherzigt. Du hast fleißig gearbeitet und eine berufliche Karriere aufgebaut, die es euch ermöglichte, ein nettes Häuschen anzugehen, die beiden Kinder wohl zu versorgen und auf gute Schulen zu schicken und euch da und dort schöne Urlaubstage zu gönnen. Nun, vorgerückten Alters, die Kinder sind aus dem Haus, musst du zu deinem Leidwesen erfahren, dass dich deine Frau vor langer Zeit über Jahre mit einem anderen Mann betrogen hat. Das gibt dem Rückblick auf dein Leben einen bitteren Beigeschmack und lässt dein einstiges Eheversprechen in einem fahlen Licht erscheinen. Du fühlst dich verraten, dein Lebenswerk scheint zu wanken.

Immerhin, könnte man sagen, sind da die Kinder. Immerhin geht es nicht um das Eheversprechen deiner Frau, das sie freilich gebrochen hat, sondern um das deine, und das hast du ja unversehrt gelassen. Wenn dein Versprechen an die Bedingung geknüpft war, dass deine Gefühle gegenüber deiner Frau die Frische und Kraft der Bejahung behielten, die sie hatten, als es dir über die Lippen kam, wäre dein Ehegelöbnis nicht unbedingt und aus eigener Vollmacht, sondern bedingt und aus fremden Motivquellen gespeist gewesen.

Bist du nicht kirchlich getraut, lässt das bürgerliche Gesetzbuch mittels des Scheidungsverfahrens in der Tat einen Widerruf des Eheversprechens zu, während das im Falle des katholischen Ehesakraments nicht möglich ist: Die Kirche sieht hier mit großer Klarheit und Bestimmtheit die ethische Macht des Versprechens und den autonomen Willen des Menschen, der zwar als gefallene Kreatur immerdar unter das Joch der Primärwünsche gebeugt bleibt, aber sie mittels der institutionellen Macht der Verpflichtung und der sakramentalen Macht des Gelöbnisses oder der Weiheformeln überformen und ersetzen kann.

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