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Philosophieren I

10.07.2013

Aufgrund zweier Dinge ist dir der andere gegeben (Luft, die den Schleier bewegt und lüpft): des Körpers, in dem er leibt und lebt, mit dem er durch Handlungen (absichtsvolle Muskelbewegungen), Gesten und Mimik zeigt, was er meint, wer er ist – und der Sprache, in der er redet und schreibt: Sie ist wie die Falten, die beim Lächeln unwillkürlich entstehen, oder die Tränen beim Weinen (ziehe die Falten ab vom Lächeln, die Tränen vom Weinen – was bleibt?).

Die Gedanken, Absichten, Gefühle des anderen sind nicht hinter der Stirn des Geheimnisses und in einer unzugänglichen Kammer der Seele verborgen oder nur mühsam mittels Analogie zu den dir vertrauten eigenen Bewusstseinszuständen aus seinen Äußerungen zu erschließen – und dies dann bei hohem Unsicherheitsrisiko. Wenn du wissen willst, was er denkt, welche Absichten er hegt, wie er fühlt und empfindet – nun, so frage ihn, betrachte ihn, handle mit ihm, lebe mit ihm!

Oder achte auf die Umgebung und das Spielfeld des Handelns! Siehst du ihn einen Regenschirm ergreifen und das Haus verlassen, musst du nicht fragen, um seine Absicht zu erkunden: Du weißt, er erfüllt sich den Wunsch nach einem Spaziergang, befürchtet aber, vom Regen überrascht zu werden. Eine Absicht, einen Wunsch, eine Befürchtung – all das, einen komplexen mentalen Zustand, hast du in einem Nu geistesgegenwärtig erfasst.

Es könnte sich natürlich auch um einen Kauz handeln, der auch beim schönsten Allwetterhoch nie ohne sein Accessoire unterwegs ist. Wenn du diesen Menschen über längere Zeit beobachtest, wirst du ihn schon als kauzig wahrzunehmen und einzuschätzen lernen.

Zum Spielfeld des Handelns zählt manches und vieles, so auch die jeweilige Semantik der Anredeformen, die dir deine Sprache bereitstellt. Diese Semantiken sind ausgespannt zwischen dem Pol maximaler Verfeinerung der Anredeskala – das sind die chinesischen, japanischen und altindischen Aristokraten unter den Semantiken – und dem Pol maximaler Reduktion und Vereinfachung – das sind die amerikanischen Demokraten. Du kannst immerhin zwischen der Du-Anrede im Nahbereich von Verwandtschaft, Freundschaft und Liebe und der höflichen, respektvollen Sie-Anrede im Distanzbereich von Institutionen der Unterordnung und Hierarchien wie Schule, Armee und Kirche wählen, auch wenn dir die alte vornehme Geste der Ihr-Anrede für die Distanzierung im Nahbereich mittlerweile versagt ist.

Mittels der Anredeform wird die Situation mitdefiniert, in der dir der andere sein Gesicht zeigt. Der Unteroffizier wird den General, der Untergebene seinen Vorgesetzten und der Pfarrer seinen Bischof nicht ungebührlich duzen, er riskiere denn Ruf und Stellung. Umgekehrt kann der Ältere, der im Handlungsfeld Führende durch das Angebot des vertraulichen Du die Situation neu definieren und den Weg zu vertraulicherem Umgang und intimeren Mitteilungen bahnen.

Natürlich kann der andere lügen und sich verstellen – doch nur bis zu einem gewissen Grad. Es bleibt deinem Feingefühl überlassen, ihn zu entlarven, ihm auf die Schliche zu kommen. Ist er im Grunde unglücklich, möchte aber durch Preisgabe seiner traurigen Lage dir nicht unterlegen oder gar ausgeliefert scheinen, kann er sich zu einem künstlichen Lächeln und einem scherzhaften Plauderton zwingen. Das Gekünstelte, Geheuchelte und Erzwungene in diesem Lächeln, in diesen Worten kannst du zu sehen und zu hören lernen.

Weil anders als der sprachliche der gestische und mimische Ausdruck in vielen Stücken – bei weitem nicht in allen – unter allen Völkern etwa gleich ist, könnt ihr euch mit Händen und Füßen verständigen – zu einem freilich geringen Grad. Beherrschtest du alle Sprachen der Welt und wärest ein perfekter Gebärdeninterpret und dir begegnete ein Wesen, und du verstündest keine seiner Äußerungen – so wäre dieses Wesen eo ipso nicht als menschliches Wesen, als Wesen unserer Art, zu betrachten.

Immer wiederholst du gleichsam den von dem anderen geäußerten Gedanken, im Augenblick, da du den Satz hörst, mit dem er ihn ausdrückt. Sein Gedanke verwandelt sich – bei günstigen Bedingungen – unmittelbar in deinen Gedanken. So kannst du verstehend hören und hörend verstehen. Doch versteht du, was der andere meint, wenn er etwas sagt, erst recht, wenn das euch beiden gegebene Umfeld der Wahrnehmung, des Erlebens und Handels offen und transparent da- und vor Augen liegt. Denn zumeist beziehen sich die Äußerung und der mit der Äußerung gemeinte Gedanke auf das nähere Umfeld des Sprechenden, das wie für ihn auch für sein Gegenüber mittels sinnlicher Wahrnehmung zugänglich ist.

Du kommst der Bedeutung des Gesagten, dem Gedanken, einfach auf die Schliche, wenn du fragst: Was wollte er mir bedeuten? Wollte er mir etwas zeigen, mich auf etwas hinweisen? Hat er mich etwas gefragt? Wollte er etwas von mir wissen? Hat er mich zu etwas aufgefordert? Wollte er, dass ich den von ihm ausgeschrittenen Handlungskreis vollende und schließe? Hat er mich vor etwas gewarnt? Mich um etwas gebeten? Wollte er mir seine Überzeugung über etwas kundtun? In diesen sprachlichen Figuren des Fragens, Aufforderns, Bittens, Warnens enthüllt sich dir der intentionale Grund, der mentale Zustand, der den Sprecher zu sagen bewog, was er sagte. In dem „etwas“, auf das sich das Gesagte und der im Gesagten gemeinte Gedanke beziehen, enthüllt sich dir der objektive Grund, auf den sich das Gesagte und der im Gesagten gemeinte Gedanke beziehen. Meist ist dies, handelt es sich nicht um die dünne Luft wissenschaftlicher Fachgespräche, um Gegenstände, Personen oder Ereignisse im Umfeld der sinnlichen Wahrnehmung.

Oft bezieht sich aber die Äußerung nicht auf einen Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auf einen bestimmten Punkt einer unabgeschlossenen Handlungskette: „Kannst du das mal halten!“ „Bitte steck den Brief ein und händige ihn dem Vater aus!“ „Komm mal näher, ich kann so nicht sehen, was du im Auge hast!“ „Daran arbeiten wir beim nächsten Mal weiter!“

Äußerungen, deren Gegenstand im Umfeld der Wahrnehmung liegt, werden oft eingeleitet oder begleitet von Formulierungen wie: „Schau mal! Sieh mal! Vorsicht! Achtung! Da drüben! Hierher! Sofort! Später. Nachher. Morgen. Rechts davon, links davon. Auf dem Tisch. Im Wohnzimmer. Im Garten. Das blaue, nicht das grüne Kleid.“ Diese Formulierungen spezifizieren die Raum-Zeit-Koordinaten und die sinnlichen Wahrnehmungen, die wir als biologisch-soziale Wesen zur Bestimmung der Gegenstände und ihrer Eigenschaften heranziehen müssen, damit wir sie uns zeigen, unsere Aufmerksamkeit auf sie richten und Handlungen mit und an ihnen ausführen können.

Im Übrigen sorgen die Dichte und Prägnanz der Situation – ähnlich der Fähigkeit des Menschen, Lücken der gesehenen Gestalt augenblicks auszufüllen – dafür, dass ihr euch gut versteht. Seid ihr verliebt, ist ein Kuss eine Antwort oder eine Aufforderung. Seid ihr verfeindet, ist eine Schmeichelei ein ironischer Stich oder eine versteckte Beleidigung. Seid ihr in einer geschäftlichen Unterhandlung, ist die Frage nach der Zeit eine Aufforderung, nicht länger nach Kompromissen zu suchen und zum Abschluss zu kommen.

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