Untröstliche Wahrheiten
Manche, deren Bestimmung längst abgetan ist und deren Los geworfen ward, laufen einfach weiter wie Hühner, denen der Kopf abgeschlagen worden ist.
Immer wieder jätest und reinigst du deine sorgsam gehegten Beete. Immer wieder streuen des Nachts tückische Schleicher den Samen exotisch wuchernder Kräuter hinein. Oder ist es der nackte Wind, der sie aus fernen Gefilden bis hierher trägt?
Der falsche Priester, der sein weißes Kollar in die Gosse der öffentlichen Meinung geschleudert hat – und predigt jetzt süßlich Mitleid statt das Ende des Äons.
Der Sohn hat das väterliche Erbe verprasst, verhurt und versoffen – bleich und abgebrannt kommt er nach Hause und vergießt heuchlerisch Tränen im Angesicht der verwilderten Pracht der Gärten und der moosüberwachsenen Schwelle.
Wenn dir einzig die Wahl beschieden, das Maul zu halten und es dir in der guten Stube gemütlich zu machen oder durch wildes Gefuchtel und barbarisches Geheul die Aufmerksamkeit und den Applaus eines Publikums von Stumpfen und Dumpfen einzuheimsen, dann wähle bitte aus Rücksicht auf unser fadenscheinig gewordenes Nervenkostüm das Erstere.
Solange Christen in frommer Einfalt vor dem göttlichen Kind niederknien, ist die Welt noch nicht verloren. Wenn allerdings ein Papst ex cathedra verkündet, der Klerus solle Alltagskleidung tragen, die Kirche solle arm sei wie die ominöse Maus, der Petersdom sei zu versteigern und der Erlös den Bedürftigen auszuteilen, die Sakramente gehörten denen, die nach ihnen verlangen, würdig hin, würdig her, die Gabe des heiligen Trostes sei ein sakraler Service, der keinen sozialen und moralischen Einschränkungen unterliege … dann, ja dann ist sie vielleicht schon untergegangen und du hast es, den Kopf im Dunst deiner falschen Ideale, nur noch nicht bemerkt.
Heroen der Schlechtigkeit. Sie erhalten die Preise. Sie machen den Reibach. Aber auf ihren Werken stehst du wie ein Menhir auf glucksendem Moor.
Frauen, die auf dem eitlen Geschwätz ihrer Verehrer wie Bachstelzen mit elegant tastenden Schritten auf den dünnen, schwankenden Blättern der Teichrosen stelzen.
Nachts, wenn du wachliegst und Totenstille in das Vakuum des Undenkbaren sickert, kannst du in einiger Entfernung das Echo der Hammerschläge hören, mit denen der römische Soldat Jesus ans Kreuz nagelt.
Die kleine Stadtmaus mit der Unruhe im Herzen, des satten, gesicherten Daseins und des unbekümmerten Luxus in der Speisekammer des Highlife überdrüssig, hat vom Großvater bunte Geschichten über das aufregende Leben der Waldmäuse gehört, wobei der Alte den aus den Augen von Eule und Wildkatze spiegelnden Schrecken in köstlichen Nervenkitzel verwandelte, und lange mit sich gerungen, ob sie das behagliche Miteinander im Kreise der Eltern und Großeltern, der Geschwister und Neffen und Nichten, der Tanten und Großtanten wohl entbehren könne, dann aber in heroischer Entschlossenheit und Selbstüberwindung ihr kleines Bündel gepackt und ist eines Nachts, Abschiedstränen aus den Augenwinkeln wischend, aus der heimelige Wohnstatt nach draußen gehuscht – um gleich, als sie, hilflos über die Perserteppiche trippelnd, nach dem Ausgang in die weite Welt und ihre Abenteuer suchte, in die Fänge des Hauskaters, einer feisten Perserkatze, zu geraten.
Ein Satz, der dich wie ein kunstvoll abgeschälter und abgeschabter, ausgehöhlter und ausgehobelter, verpichter und versiegelter Einbaum über das Wasser trüge … Und doch müsstest du das Ruder führen. Und doch müsstest du die Richtung finden. Denn allein du kannst den Satz gut verwenden. Das geht nur, wenn du genügend Kraft in den Armen hast und die Richtung kennst. Wenn nicht, treibst und trudelst du führungs- und orientierungslos in der Strömung – und diese ist kräftig.
Du gehst hastig auf die Straße, um im Supermarkt auf die Schnelle noch dies und das einzukaufen. Eine Menschenmenge versperrt den Weg. Raunen, Zischen, Fluchen. Peitschende Hiebe. Du verschaffst dir Bahn und Ausblick. Du siehst, wie ein halbnackter, nur mit einem Lendentuch bekleideter Mann, den Leib zerfurcht von Striemen und Wunden, eine Dornenkrone auf dem Haupt, ein schweres Holzkreuz auf der Schulter trägt und sich damit mühsam voranschleppt. Soldaten geleiten und bewachen das Geschehen, einer treibt den zum Tode Verurteilten, der erschöpft in sich zusammensinkt, mit der Peitsche an. Die Menge johlt, lacht, spottet. Auch als sie die kleine, verschüchterte Gruppe der Angehörigen und Vertrauten des Gequälten gewahrt, darunter die Mutter, die vor Grauen und Verzweiflung ins Knie bricht und von einem schönen jungen Mann mit leuchtenden Augen aufgefangen wird. – Was bleibt dir zu tun? Du kannst dich in die Menge flüchten und vor der Wahrheit zu verbergen trachten. Oder du gehst hin zu jenem, der eben unter der Last des Kreuzes hingefallen ist, und nimmst ihm das Kreuz ab und trägst es eine Weile an seiner Statt. Oder du nimmst das feine, kostbare Seidentuch vom Hals und reichst es dem Mann, auf dass er sich den Schweiß vom Angesicht wische.