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Stefan George, Komm in den totgesagten park und schau

17.07.2018

Fingerzeige zur Interpretation

Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade.
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.

Dort nimm das tiefe gelb, das weiche grau
Von birken und von buchs, der wind ist lau.
Die späten rosen welkten noch nicht ganz.
Erlese küsse sie und flicht den kranz.

Vergiss auch diese letzten astern nicht.
Den purpur um die ranken wilder reben
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.

 

Dies ist kein romantisches Natur- und Jahreszeitengedicht, dessen Sinn sich vorgeblich mittels Einfühlung erschlösse.

Der im Gedicht gezeigte Park („schau“) ist ein Garten aus Worten.

Der Sprecher des Gedichts ist mitgedichtet oder Teil des Gedichts. Er ist nicht identisch mit der natürlichen Person Stefan George.

Wir könnten, um die natürliche Person zu benennen, die gemischte Schreibweise benutzen: Stefan George, die fiktive Person oder poetische Maske des nur im Gedicht anwesenden Dichters in Versalien ausdrücken: STEFAN GEORGE.

Wir unterscheiden demnach die natürliche Person, den Träger des Namens Stefan George, der 1868 im heutigen Bingen geboren wurde und nach vielen Lebens- und Wanderstationen 1933 in Minusio verstarb, von der fiktiven Person oder der poetischen Maske oder dem Dichter, dessen wesentliche sprachlichen Handlungen (Sprechakte) in diesem Gedicht darin bestehen, den Leser seinerseits zu bestimmten Handlungen aufzufordern („komm“, „schau“, „nimm“, „erlese“, „küsse“, „flicht“, „vergiss nicht“, „verwinde“).

Wir betonen nochmals: Der Dichter des Gedichts ist NICHT die natürliche Person Stefan George, sondern STEFAN GEORGE, eine literarische Maske, eine künstliche Stimme, die von dem, was sie sagt, dem Gedicht, allererst erzeugt oder in den imaginären Raum der Dichtung projiziert wird.

Die künstliche Stimme können wir mit einer verstellten Stimme vergleichen: Der Physiologe kann mit seiner Schallanalyse die Identität des natürlichen Sprechers ausfindig machen. Doch die Absicht dessen, der seine Stimme verstellt, ist es gerade, seine natürliche Identität zu verschleiern oder mittels der Mimikry einer fremden Stimme zu verhüllen.

Etwas Ähnliches ereignet sich im Gedicht: Der Dichter spricht im Namen einer Instanz, deren Umriss, Herkunft und Intention uns allererst im Gedicht selbst mehr oder weniger kenntlich werden.

Wir streifen hier den Ursprung dichterischer Rede: Sie ist eine Überwältigung der Stimme einer natürlichen Person durch eine fremde Instanz, Orpheus vielleicht oder Dionysos, oder gleicht der als Vergewaltigung empfundenen Inspiration der wahrsagenden Priesterin in Delphi durch den Gott Apollon.

Leicht zugänglich wird diese Metamorphose bei allen so genannten Rollengedichten. So nennt der zweite Teil des Gedichtbands Das Jahr der Seele, den das Gedicht Komm in den totgesagten park und schau einleitet, als fiktiven Sprecher den Waller im Schnee, eine Maske der Stimme eines Pilgers und Wanderers durch den Winter der Seele.

Was für den fiktiven Charakter der Dichter-Persona gilt, finden wir ebenso, wenn auch versteckter, bei der Person des angesprochenen Hörers oder Lesers: Sie wird im Hören und Lesen des Gedichts mitgedichtet. Ja, diese Projektion einer neuen Persona oder um den klassischen Begriff zu verwenden, den der Dichter in den Titel des Werks gerückt hat, der Seele, ist die eigentliche Intention des Gedichts.

Die Handlungen, zu denen der fiktive Sprecher oder die poetische Maske oder der Dichter den Leser auffordert, sind keine realen, sondern fiktive Handlungen. Aus Wort-Rosen, Wort-Astern und Wort-Blättern lässt sich kein wirklicher Kranz flechten.

Aufforderungen, Mahnungen, Warnungen oder Befehle sind sprachliche Handlungen, die einen institutionellen oder rituellen Kontext voraussetzen, der sie mit mehr oder weniger starker Macht und autoritativer Wirkkraft begabt. So ist die Aufforderung des Richters, der Angeklagte solle die Wahrheit sagen, mit der autoritativen Wirkkraft begabt, die dem Richter aus seiner institutionellen Funktion als des Repräsentanten des Gesetzes (und nicht der natürlichen Person N. N., die zufällig dieser Richter ist) zukommt.

Welche autoritative Wirkkraft verleiht der Aufforderung des Sprechers und der Stimme des Gedichtes ihre Geltung? Das Charisma oder der Zauber ihres Klangs.

Sollte der Angeklagte oder der Zeuge der Aufforderung des Richters, die Wahrheit zu sagen, nicht nachkommen und ist er auf die Wahrheitspflicht vereidigt worden einen Meineid begehen, kann sein Vergehen mit einer Strafe sanktioniert werden.

Dagegen können wir uns scheinbar schadlos der Aufforderung des Dichters, in den Zaubergarten seines Parks erlesener Wort-Blumen einzutreten, entziehen.

Doch mögen wir den Schaden daran ermessen, dass eine im Gedicht evozierte neue Gestalt der Seele in diesem Falle ungesagt oder wie es im ersten Vers heißt „totgesagt“ bliebe.

Das Charisma der dichterischen Stimme erzeugt eine neue Gestalt der Seele, die in der Imago oder Bildhaftigkeit eines herbstlichen Parks erscheint. Ja, wir müssen akzentuieren: Sie erscheint oder figuriert als diese Imago.

Die intendierte, mitgedichtete, aufgerufene oder evozierte Seele ist nichts Unkörperliches, keine mentale Entität, keine res cogitans, sondern die Identität dessen, der schaut, mit dem, was er als sinnenfällige Phänomene erblickt: Der Schimmer ferner lächelnder Gestade/Der reinen Wolken unverhofftes Blau.

Die sinnenfällig lebende, gleichsam von Vers zu Vers atmende Seele vergewissert sich ihres Daseins wie im gesamten Zyklus des Gedichtbands Das Jahr der Seele im Medium der Landschaft und der elementaren Phänomene der Jahreszeiten Herbst, Winter und Sommer. Dabei handelt es sich nicht darum, die Natur und die Landschaft zu poetisieren und mit ausgesuchten Metaphern zu dekorieren, sondern um etwas anderes, ja geradezu Gegenteiliges: Die natürlichen Phänomen wie in unserem Gedicht der Schimmer der Gestade, das Blau des Himmels, der aus Rosen, Astern und dem übriggebliebenen Grün der Gräser und Halme gewundenen Kranz – sie bilden den Wortschatz einer Sprache, in der sich die Seele des Dichters und Lesers artikuliert, anspricht und ausspricht, in der sie sich neu bildet, indem sie mit sich selbst spricht.

Das letzte Wort des ersten Verses „schau“ korrespondiert mit dem letzten Wort des Gedichts „gesicht“. Was sie gesehen, was sie zum Kranz geflochten hat, ist das neue Gesicht der Seele.

Wir finden im Bild der Seele eine hier und da bunt gestreute oder gedämpft-sfumatohaft anmutende Verteilung von Farbwerten und Lichtern. Schimmer leuchten auf, als würde das Licht lächeln, Teiche spiegeln dieses Lächeln wider und das Blau der Wolken, das durch den Dämmer der Zweige bricht. Als kräftige Farbakzente begegnen uns das Blau des Himmels und der Purpur von Reben, als milde das tiefe Gelb der Birken und das weiche Grau von Buchs.

Wir könnten bei den imaginären Bildern, die uns im Gedicht aufschimmern, genauso gut an Stilleben von Chardin oder Cézanne wie an Parklandschaften der Impressionisten denken.

Der Park des Gedichts gleicht wohl einer durch Kultivierung der wilden Natur abgerungenen friedlichen Insel sorgloser Muße. Doch er öffnet sich gleichsam über seine Einzäunung hinweg der Erinnerung an südliche Ferne (Der schimmer ferner lächelnder gestade) und nach oben ins luzid-transparente Azur-Blau, das im Grenzenlosen verschwimmt.

Das Blau des Himmels und der Purpur wilder Reben sind gleichsam dionysische Farbwerte gegenüber den apollinisch gestillten Herbsttönen von Gelb und Grau, dem blassen Rot der schon hingesunkenen Rosen und dem verwaschenen blauen oder rosafarbenen Ton der Astern, gewiss auch dem fahlen Grün von welkendem Gras und Halmen. Der dionysische und der apollinische Aspekt des seelischen Daseins sollen, so die Aufforderung des Gedichts, in einem Kranz verwunden und verflochten werden.

Wir gehen gleichsam in drei Strophen drei absteigende Stufen von der Schau bis zum Tun und Wirken (dem Flechten und Winden): Der Übergang von der reinen Schau zum Tun bildet der dritte Vers der zweiten Strophe, also genau die Mitte des Gedichts: Hier fällt der Blick auf ein Ur-Symbol der Seele, die Rose. Ihm folgt die entscheidende Aufforderung: Erlese küsse sie und flicht den kranz. Sie verleiht dem Tun der Seele einen edlen und sublimen Charakter. Da nun das Tun nicht nur Ausdruck einer abstrakten mentalen Entität ist, sondern den ganzen seelisch-sensorischen Gehalt umfasst, sehen wir darin auch die Aufforderung, die Seele selbst zu veredeln, zu adeln oder zu sublimieren.

In der Anmutung, die erlesenen Rosen zu küssen, begegnet uns an exponierter Stelle die einzige leibhafte Gebärde des Gedichts, eine der hingebungsvollsten und innigsten Erotik: Sind ja die hier geküssten Lippen Blütenblätter. Dies deutet auf eine äußerste Sublimierung des tierischen Sexus in eine Form des himmlischen Eros, wie sie Dantes Himmelsrose gebührte.

Dieser sublime Zug wird mit dem Rückgriff auf die urtümliche Emblematik des Kranzes verstärkt. Dass sich die Schau des Parks in dem aus Rosen, Astern und grünen Gräsern gewundenen Kranz verdichtet und gleichsam Flora als versteckte Allegorie aus dem Schatten der Büsche und Bäume tritt, verweist uns auf den radikalen Ausschluss allen tierischen Lebens: kein Vogel, der sänge, kein Pfau, der schriee, kein Fisch, der aus dem Weiher schnellte. Alle mit dem natürlichen Leben des Tiers verknüpften Gebärden der Bewegung und Lautung sind verbannt. Eine tiefe Stille ist auf alles gebreitet. Selbst der laue Wind rührt kein Blatt, keinen Halm.

Die Aufforderung, die das Gedicht an die Seele des Hörers und Lesers erhebt, gipfelt demnach negativ im Ausschluss des tierischen Lebens mit all seinen Aspekten von Gier und Verschlingen, Siegen und Erliegen, Zeugen und Töten, Verletzen und Schmerzempfinden, Auftrumpfen und Dahinsiechen.

Der Kranz, der hier geflochten wird, ist kein Siegeskranz, darauf deutet leise schon das im Wort „verwinden“ mitgemeinte Verzichten und Überwinden. Dennoch enthält das Emblem den ursprünglichen Sinn der Weihe, wurden Blumenkränze doch vor die Bildnisse der Götter und auf ihre Altäre gebreitet.

Doch hier, im Park dieses Gedichts, finden sich keine Götterstatuen, keine romantisch zerfallenen Altarsteine. Wen also mag der Kranz schmücken? Die Seele selbst, die aufgefordert ist, ihn sich zu flechten.

Der Kranz erscheint auch als Schattenriss im Flechtwerk der Reime mit dem Reimschema: a b a b//a a c c//d e e d, wobei wir wiederum die Mitte finden, von der sich die beiden aus eigenständigen Reinwörtern gebildeten Reihen verzweigen.

Das reale Leben stolziert, irrt oder stolpert auf diesem fatalen Gestirn einher, angetan mit der tragischen und der komisch-grotesken Maske, die eine setzt ihm die hagere Hand der Schuldverstrickung, der Angst vor der Leere und der Vergänglichkeit auf, die andere die bebende des animalischen Triebs. Flüchtet sich das Gedicht in einem selbstgefälligen und selbstverliebten ästhetischen Eskapismus vor diesen unabwendbaren Daseinsmächten in eine bukolische Scheinwelt? Nein, das Dunkel des Lebens ist anwesend, wenn auch nur flüchtig spürbar in einem Hauch herbstlicher Melancholie. Es ist ein letzter Kranz, der hier gewunden wird.

Der Angeklagte oder der Zeuge vor Gericht versteht, was der Richter mit seiner Aufforderung meint, sich geflissentlich an die Wahrheit zu halten, nicht allein aufgrund der Tatsache, dass er des Deutschen mächtig ist, sondern weil er darüber hinaus versteht, dass die Äußerung den Modus oder den Charakter einer Aufforderung hat, der sich zu entziehen missliche Folgen nach sich ziehen könnte. Wir machen hier den klassischen Unterschied zwischen semantischem oder wörtlichem Verstehen und pragmatischem oder übertragenem Verstehen, das wir dem Kontext der wörtlichen Rede als Intention des Gesagten entnehmen.

Was verstehen wir, wenn wir die Aufforderung des Dichters vernehmen, aus nichtexistenten Blumen einen rein fiktiven Kranz zu flechten? Nun, wir winden im Medium des Gedichts einen Kranz aus Worten. Die Worte aber sind wie die fiktiven Blumen vom Hauch des Herbstes schon gezeichnet. Wir fühlen, bald sind sie wie jene ganz verblasst, Worte, von denen nichts bleibt als vielleicht ein leiser, weher Duft der Erinnerung.

Fassen wir das Gedicht als Selbstgespräch auf, und viele Du-Anreden in den Gedichten Georges sind Selbst-Anreden, so können wir sagen: Der Kranz, den zu winden das Gedicht auffordert, ist das Gedicht selbst, und der ihn zu flechten unternahm, der Dichter, weiht ihn sich selbst.

 

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