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Charles Baudelaire, La Géante

22.06.2020

Du temps que la Nature en sa verve puissante
Concevait chaque jour des enfants monstrueux,
J’eusse aimé vivre auprès d’une jeune géante,
Comme aux pieds d’une reine un chat voluptueux.

J’eusse aimé voir son corps fleurir avec son âme
Et grandir librement dans ses terribles jeux ;
Deviner si son cœur couve une sombre flamme
Aux humides brouillards qui nagent dans ses yeux ;

Parcourir à loisir ses magnifiques formes ;
Ramper sur le versant de ses genoux énormes,
Et parfois en été, quand les soleils malsains,

Lasse, la font s’étendre à travers la campagne,
Dormir nonchalamment à l’ombre de ses seins,
Comme un hameau paisible au pied d’une montagne.

 

 

Die Riesin

Zu Zeiten, da Natur nach schwungvollen Entwürfen
warf Tag für Tag der Erde neue Monster hin,
hätt doch bei einer jungen Riesin ich leben dürfen,
eine lüsterne Katze zu Füßen einer Königin.

Welche Lust, des Leibes Blust zu schauen und der Seele,
wie in grausamen Spielen er sich herrisch bäumt,
zu ahnen, wie ihr Herz von dunklen Flammen schwele
aus feuchtem Nebel, der in ihren Augen schäumt.

Müßig in ihren üppigen Formen zu mäandern,
zum Gipfelausblick ihrer ragenden Knie zu wandern,
bisweilen, wenn das Gift der Sonne im August

sie träge niedersinken ließe unter Hecken,
ohne Sorge zu schlummern im Schatten ihrer Brust,
wie am Fuße eines Bergs ein stiller Flecken.

 

Hinweise zur Interpretation:

Gewiß, Baudelaire war das poetische Genie des 19. Jahrhunderts, und selbst die Größten, die nach ihm kamen, Verlaine, Mallarmé, George, nährten ihre dichterische Substanz mit dem Schimmern und geisterhaften Funkeln, das auf den schwarzen Wassern seiner Verse zurückblieb.

Der Zwerg, dem der von einem Riesen aufgewirbelte Staub die Sicht nimmt, sollte ihm nicht indigniert nachhusten, er muß eben warten, bis sich die Wolke des Naturwunders verzogen hat.

Der Beckmesser, der mechanisch den Leisten schlagend die metrischen Lücken im Lied des Meisters glaubt enthüllen zu können, gleicht dem Ingenieur einer elektronischen Nachtigall, der ihren Gesang dem der echten vorzieht, weil sie auf Tastendruck zwitschert und aus dem Käfig seiner Mache nicht wegfliegen kann.

Mag man am minder gelungenen Gelegenheitswerk des Meisters Kritik üben, doch nur unter Entblößung wundgescheuerter Knie.

Das Sonett La Géante aus den Fleurs du Mal ist trotz der gewohnten Geschliffenheit der sprachlichen Form und der Reinheit der rhythmischen Gestalt ein schwaches, ja cum grano salis ein mißlungenes Gedicht; alles duftet, klingt, flackert wie ein echter Baudelaire, Motive wie die Dämonisierung des weiblichen Geschlechts, die Verwandlung des Dichters in den Wiedergänger eines archaischen Daseins, das vom Elementargeist durchbraust mit üppigen Formen strotzt, die gelassen lächelnde Verklärung der Wildheit, die sich in keiner Education sentimentale à la Rousseau bleiche Wangen geholt hat – und doch mutet es wie eine schief aufgesetzte Maske des Dichters an, eine bravourös absolvierte Imitation seiner selbst.

Reime wie monstrueux und voluptueux, âme und flamme, formes und énormes wirken hier sei es zudringlich und pseudo-suggestiv sei es abgenutzt und verblichen; sie haben den Hautgout des einst in ferner Jugend Beschworenen und nun doch Faden, das wie mit durchschnittenen Sehnen durchhängt, als habe ein müder Baudelaire im eigenen Auftrag routiniert baudelairisiert.

Die Crux aber ist der Schiffbruch der geistigen Form, der mißliche Umstand, daß der Spannungsbogen fehlt, die Brücke, die das Sonett zwischen den Quartetten und Terzetten über den Abgrund einer Frage, eines Rätsels, ja einer Wunde schlägt, Gewölbe, das oft von einem dunklen Ufer sich aufschwingt, um auf dem gegenüber schwebenden Pfeiler aus Licht oder der Klarheit einer bündigen Sentenz aufzuruhen.

Wir erkennen dieses Manko an der grammatischen Struktur; denn die gesamte Aussage, der schwere Zopf des zweiten Quartettes und der beiden Terzette hängt an einem einzigen dünnen Haken, wird von einer einzigen schwachen Klammer zusammengehalten: J’eusse aimé, einer aufgrund des Irrealis schwachbrüstigen und dünnblütigen Aussage, an der alle folgenden Infinitive (voir, parcourir, ramper, dormir) hilflos baumeln. Entscheidend ist indes, daß die Infinitive ohne jedes Staunen, jede Beklemmung, jedes Innehalten in die Terzette hinübergleiten, zerlaufen, versanden.

Daß Baudelaire vom Bild und Antlitz der Frau und Geliebten das leichenhafte Make-up der gelangweilten höheren Tochter mit heftigen, wütenden, obsessiven Gesten weggewischt hat, daß er der stummen Kleinbürgertugend das wilde Stöhnen der Mänade entgegenhielt, dem Kichern der bezopften Mädchen den Wahnsinnsschrei der Lady Macbeth, der staksigen und anämischen Anmut auf Stöckelschuhen die einzig von Titanenlippen erweckbare Nacht des Michelangelo – nun, wohlan!

Aber der Dichter, der unterm Niemands-Mond schlaflos irrende Fremdling, der über den Wahrsage-Quell in den Wäldern des Wahns gebeugte Verfemte und Heimatlose: ein lüsternes, verspieltes Kätzchen zu Füßen einer Riesin, auf deren üppigen Rundungen er herumkraxelt, ein Voyeur geistloser Fleischberge, ein Tagtraum-Tourist überseeischer Idyllen mit Hochglanz-Prospekten unterm Kissen, die mit barbusigen schokoladenbraunen Tänzerinnen vor saftigen Palmwedeln locken, ein Gnom der Lüsternheit, der auf die Klippen der mächtigen Knie einer Gigantin kriecht, um in welchen Abgrund zu starren? Wie, der Schatten einer albtraumhaften Erdmutterbrust als erlösendes Sedativum, auf daß der müde Dichter endlich sorglos dösen mag?

Nein, das ist eine Prise Baudelaire zuviel, etliche schwülstige Tränen mehr, die den Wein des Einsamen verpantschen, eine Phantasmagorie des Ennui, ein Pfühl mit dem ausgerupften Flaum eines abgeschossenen Schwans, ein pralles Kissen, gestopft mit des Albatros Federn.

 

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