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Vom Sinn des Normativen

05.02.2016

Über den Unterschied von normativer und kausaler Erklärung

Wir handeln hier nicht vom moralischen Sinn des Normativen oder der begrifflichen Form moralischer Normen und Urteile, sondern vom logisch-semantischen Sinn des Normativen als einem grundlegenden Merkmal der intentionalen Struktur des menschlichen Daseins.

Wir nennen die Nötigung, die uns zu der Annahme oder Vermutung bewegt, mit meiner Aussage, daß es schneit, während draußen die Sonne scheint, oder daß die Summe zweier Summanden kleiner sei als einer von ihnen, könne etwas nicht stimmen, normative Nötigung und unterscheiden sie vom physischen Zwang, der dich nötigt, zu atmen, bevor du weitersprichst, oder nach geraumer Weile der Nahrungsenthaltung ein Hungergefühl zu empfinden, wenn du auch nicht unter allen Umständen gezwungen bist, dir Essen zuzubereiten, denn du könntest aus religiösen Gründen für einige Zeit Askese üben oder Kafkas Hungerkünstler als neuestem Idol nachstreben wollen.

Logik, Mathematik, Sprache, Spiele und Umgangsformen (oder kurz der Bereich des sozialen Lebens) sind geprägt von typischen Denk,- Spiel- und Handlungsfeldern, von denen wir sagen, daß sie mehr oder weniger expliziten Regeln gehorchen oder daß ihre Spiel- und Handlungsfolgen oder Übergänge normativ reguliert sind, sodaß wir bei ihrer Ausführung richtig liegen oder Fehler machen können.

Der Geiger vergreift sich während der Probe und wird deshalb zurecht vom Dirigenten getadelt. Natürlich fehlte der Grund, ihn zu tadeln, wäre der Mißgriff einem plötzlichen Krampf in der Hand geschuldet. Der Geiger hätte dann nicht fehlerhaft danebengegriffen, sondern wäre aus dem spontanen Spiel herausgeraten.

Der Sänger hat während der Probe in der Meisterklasse den in der Partitur angegebenen Ausdrucksgehalt „getragen, mit tiefer Bewegtheit“, den der Komponist an der Stelle des Lieds eingetragen hat, an der die lyrische Intensität ihren Gipfelpunkt erreicht, nicht zur vollen Zufriedenheit des Meisters wiedergegeben und wird von ihm auf den Ausdrucksfehler aufmerksam gemacht und gebeten, die Stelle nochmals zu interpretieren. Der künstlerisch intendierte Ausdrucksgehalt unterscheidet sich von dem natürlichen Ausdruck der Bewegtheit, der Freude oder Traurigkeit dadurch, daß er einer musikalisch-technischen Konvention gehorcht und frei wiedergegeben werden kann und nicht der natürlichen neurophysiologischen Stimuli bedarf, die bewirken, daß wir traurig oder fröhlich sind.

Hieran ersehen wir, daß sowohl bei der musikalischen Interpretation als auch der musikalischen Komposition normative Züge hervortreten und zur Geltung kommen, die wir im alltäglichen Umgang nicht mit Regelwerken und Regelzwängen zu behaften pflegen. Wir pflegen gewöhnlich dem Mitmenschen, der dem Trauernden am Grab kondoliert, nicht vorzuwerfen, er habe ihm nicht mit der gewünschten oder erwarteten „tiefen Bewegtheit“ die Hand gereicht und sein Mitgefühl ausgesprochen, denn hier genügt uns im Regelfalle das Einhalten der Konvention. Der Sinn des Normativen ist bei Konventionen schon dadurch erfüllt, daß einer sie einhält, und dadurch durchkreuzt, daß einer sie bricht.

Der Maler findet, er müsse zur Ergänzung oder zum farblichen Ausgleich oder zur Vervollkommnung der gestalterischen Balance in dieser Ecke der Leinwand noch einen gelben Fleck hinzufügen. Befragt, ob er einer näheren Grund für sein Tun oder eine ästhetische Regel angeben könne, aus der es sich ableiten und rechtfertigen ließe, schüttelt er nur den Kopf: Er handele intuitiv.

In der Tat muß der Künstler keine explizite ästhetische Regel angeben können, um sein Tun zu rechtfertigen. Seine Berufung auf eine vage Instanz wie die Intuition genügt, er hätte auch sagen können: Ich fühle einen gewissen inneren Zwang, so zu handeln.

Wir ersehen daraus, daß der Mangel oder Wegfall einer ausdrücklich formulierten Regelästhetik keineswegs das künstlerische Tun vom Sinn des Normativen loslöst. Wir könnten sagen, im Gegenteil.

Der Sinn des Normativen besteht darin, unser Tun, soweit es intentional auf einen Gegenstand oder Vorgang ausgerichtet ist, zu erklären und zu rechtfertigen, wie das Komponieren, Interpretieren und kunstsinnige Hören eines Musikstücks oder das Malen und kunstgerechte Betrachten eines Bildes oder das Einhalten und Nichtbeachten einer Konvention wie der Konvention, dem Trauernden zu kondolieren, erklärt und gerechtfertigt wird, wenn es nach den festgelegten oder unausgesprochen Normen und Kriterien geschieht, die dieses Tätigkeiten implizieren.

Die normative Erklärung und Rechtfertigung sieht demnach wie folgt aus:

Auf die Frage, warum der Anverwandte dem Sohn des Verstorbenen die Hand gereicht und dabei „Mein Beileid“ gemurmelt habe, kann er antworten: „Ich habe ihm kondoliert“ oder: „Diese Sitte gilt bei uns.“ Weitere Gründe muß er nicht nennen.

Auf die Frage an den Geiger, warum ihn der Kapellmeister getadelt habe, kann er sagen: „Ich habe einen Mißgriff gemacht“ oder: „Die Partitur gibt an der Stelle eine Vorschrift, die ich nicht eingehalten habe.“

Auf die Frage an den Komponisten, warum er in der Partitur des Liedes den Ausdruck „mit tiefer Bewegtheit“ angegeben habe, kann er antworten: „An dieser Stelle ist die lyrische Intensität am größten.“

Auf die Frage an den Maler, warum er an dieser Bildecke einen gelben Fleck gesetzt habe, kann er sagen: „Damit gleiche ich die überwiegenden Grüntöne der Gegenseite aus.“

Wir unterscheiden die normative Erklärung von der kausalen Erklärung wie folgt:

Wenn der Geiger auf die Frage, warum er an der bewußten Stelle die Vorschrift der Partitur nicht eingehalten habe, antwortet, daß er in diesem Moment einen Krampf in der Hand verspürte, gibt er eine natürliche Ursache oder eine kausale Erklärung für sein Verhalten an, die es nicht in dem Sinne zu rechtfertigen vermag, daß er sich für die Art seines Spieles auf diese Erklärung berufen sein Spielen oder Nichtspielen legitimieren könnte.

Wenn der Anverwandte auf die Frage, warum er dem Trauernden am Grabe die Hand gereicht und dabei „Mein Beileid“ gemurmelt habe, antwortet, daß seine Eltern ihm dieses Verhalten beigebracht und anerzogen hätten, gibt er eine kausale Erklärung seines Verhaltens an, denn es wurde von den Erziehungsmaßnahmen der Erzieher mittels Anweisungen und durch Einsatz von Lob und Tadel konditioniert.

Wir ersehen hieran den wichtigen Punkt, daß wir unser Tun nicht mittels Berufung auf Gewohnheiten oder Konditionierungen rechtfertigen können. Denn was sollte es bedeuten, wenn derjenige, der dem Trauernden am Grabe kondoliert, auf die Frage, warum er dies tue, antwortet, daß es ihm seine Eltern so beigebracht hätten? Vielmehr muß er sagen können, daß er dem Trauernden sein Beileid aussprechen und kundtun wollte.

Der Wille, etwas zu tun, unterscheidet sich von der Gewohnheit, etwas zu tun, oder der Konditionierung des Verhaltens dadurch, daß wir im ersten Falle unser Tun mit Gründen rechtfertigen können und gegebenenfalls die Konvention bewußt und vorsätzlich nicht einhalten, während die üble Angewohnheit, auf die Straße zu spucken, dieses Verhalten nicht dadurch rechtfertigt, daß es im Orient allgemeine Sitte ist.

All unser Reden hat natürliche Ursachen, insofern wir die Sprache als Kinder durch Vorgänge der Konditionierung erlernt und neuronale Zweige und synaptische Assoziationen entwickelt haben, auf denen es kausal fußt. Doch wenn du auf meine Frage, warum du „Entschuldigung!“sagst, wenn du mir versehentlich auf den Fuß getreten bist, obwohl es doch versehentlich geschah, antwortest, daß du es so gelernt hast oder so gewohnt bist, bin ich nicht bereit, dies als guten Grund für dein Benehmen zu akzeptieren, und bin darob wenig amüsiert, denn ich will, daß du aus freien Stücken tust, was du tust, wenn du dich bei mir entschuldigst.

Wir ersehen hieraus den wichtigen Punkt, daß wir unser Reden nicht kausal erklären können, wenn wir nach seiner Bedeutung und seinem Sinn fragen.

Führten wir unser Gespräch an den Leiplanken der kausalen Rollen von Reiz und Reaktion entlang, müßten und könnten wir die Bedeutung und den Sinn des Gesagten nicht verstehen. Wenn ich mit der Aufforderung, einen Spaziergang zu machen, dir den verbalen Reiz hinhielte, dies zu tun, hätte dein erklärtes Einverständnis nicht die Bedeutung einer Zustimmung, sondern die Funktion einer konditionierten Reaktion. Meine Aufforderung hätte den kausalen Sinn eines Strickes, den ich um deinen Hals legte, um dich damit ins Freie zu ziehen. Und folgtest du meiner Aufforderung nicht, hätte dieses Verhalten nicht den Sinn einer Ablehnung, sondern wäre der Tatsache äquivalent, daß der unsichtbare Strick gerissen wäre.

Das, was wir psychische Realität nennen, ist kein physischer Teil der Welt, der ausschließlich kausalen Erklärungen nach neurophysiologischen Reiz-Reaktions-Mechanismen und Konditionierungen zugänglich wäre, auch wenn ihre Entstehung nicht ohne physische Gegenstücke denkbar sein sollte, sondern ein intentionaler

Teil der Welt, der ausschließlich normativen Erklärungen unter Anwendung von Regeln, Vorschriften und Kriterien zugänglich ist.

Die normierenden Regularien können wie bei den Kodizes des Benehmens und Gebarens implizit und unausdrücklich oder wie bei den Regeln zur Verfertigung einer musikalischen Fuge oder den Rechenregeln für Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division oder den logischen Ableitungsregeln explizit und ausdrücklich festgelegt und formuliert oder wie bei den Regeln der logischen und natürlichsprachlichen Grammatik beides sein, denn die meisten Leute wissen nicht, warum sie mit Grund einen Eigennamen wie Peter nicht als Prädikat verwenden und verwenden sollten – Hauptsache, Logiker wie Frege und Russel haben es herausgefunden und explizit gemacht.

Wenn wir annehmen müssen, daß die psychische Realität einen echten Teil der gesamten Realität darstellt, müssen wir schlußfolgern, daß wir sie nicht als Wirkung natürlicher Ursachen wie des Urknalls, der kosmologischen oder darwinistischen Evolution oder der Neurophysiologie unseres Gehirns erklären können – trotz der törichten Erklärungsversuche durch solch brillante Narren wie Stephen Hawking oder Richard Dawkins.

Denn die psychische Realität oder der Sinn des Normativen ist überhaupt nicht als Wirkung einer Ursache vollständig erklärbar. Andernfalls wäre der Sinn der Aufgabe, 3 und 7 zu addieren, erklärbar aus der Wirkung bestimmter neuronaler Vorgänge unseres Gehirns, die uns veranlassen, als Antwort 10 zu sagen. Aber diese neuronalen Vorgänge können nicht identisch sein mit denjenigen neuronalen Vorgängen, die bewirken, daß wir die Aufgabe der Addition von 7 und 3 mit derselben Summe wiedergeben, weil wir das Kommutativgesetz kennen oder wissen, daß 3 + 7 dieselbe Summe ergibt wie 7 + 3.

Wir können festlegen, daß wir die Reihe von 1 bis 10 mit 11 fortsetzen, aber wir könnten auch festlegen, daß wir sie mit 101 fortsetzen und hernach mit 1001 weitermachen. Dieser konventionelle Anteil des Normativen reicht von der Grammatik bis zur Ästhetik der Gestaltung in den Künsten. Wir können nicht ohne Farben malen, wenn wir malen wollen, aber wir können die Farben als Signalfarben behandeln oder als symbolische Farben oder als reine visuelle Vorkommnisse ohne jeden symbolischen Bezug. Bei Tieren haben Farben die Funktion natürlicher Reize für unkonditionierte oder konditionierte Verhaltensweisen. Wir lassen die Ampeln wohl auf Rot als Warnsignal schalten, doch Goethe spricht vom goldenen Baum des Lebens und Franz Marc malt blaue Pferde.

Insbesondere kann die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nicht auf ihre kausale Rolle in der Kommunikation zurückgeführt oder als Wirkung lautlicher oder grafischer Signale oder Reize erklärt werden. Wäre die Bedeutung von „Halt!“ eindeutig und stets auf das Signal des Warnzeichens reduzierbar, das mit ihm assoziiert ist, wie könnten wir dann Begriffe wie „Vorhalt“, „Aufenthalt“ oder „Hinterhalt“ bilden? Wie könnte der Dieb auf diesen Zuruf hin nicht sich augenblicks gefangengeben, sondern vielmehr davonstürmen?

Die dichterische Verwendung der Sprache ist geradezu dadurch definierbar, daß sie sowohl den Appellcharakter als auch den Wahrheitsbezug der dargestellten und ausgedrückten Sprechakte in einem freien Spiel der Wortverwendung suspendiert, denn wir eilen als Zuschauer im Theater dem Schauspieler, der um Hilfe ruft oder seinen Peiniger um Erbarmen anfleht, nicht zu Hilfe, sondern erbauen uns an der künstlerischen Leistung des Dichters und Schauspielers, tragischen Lebenslagen wortgewaltigen und gestisch überzeugenden Ausdruck zu verleihen.

Alle Versuche der kausalen Erklärung der Sprachentstehung angefangen von Gottfried Herder bis zu Steven Pinker sind daran gescheitert, den semantischen und normativen Sinn der Sprachverwendung aus den kausalen Rollen der Sprechakte oder aus gewissen Instinkten und instinktähnlichen Gewohnheiten ableiten zu wollen. Wäre die Bedeutung des Urwortes „Mutter“ vollständig auf die kausale Rolle reduzierbar, die Anwesenheit des für das Kind wichtigsten Lebenspartners zu bezeugen oder zu beschwören, wie könnte es jemals den Sinn des Satzes „Die Mutter ist nicht da“ einsehen?

Überhaupt scheint die Verwendung der Negation der Prüfstein der Sprachtheorie zu sein oder die genaueste Aufklärung über den Sinn des Normativen in der Sprachverwendung bereitzuhalten. Denn wäre der Sinn des Satzes auf die Wirkung oder den Reiz zurückführbar, den mit ihm gemeinten Sachverhalt mental darzustellen oder zu repräsentieren, wie könnte dann die Repräsentation des nicht vorhandenen Sachverhaltes erklärt werden? Er ist ja nicht so etwas wie die Verdünnung des positiven Gehalts bis zum äußersten Grad!

Wenn du mich bittest, dich zu deinem Spaziergang heute ausnahmsweise nicht zu begleiten, verstehe ich genau, was du meinst, und kann deiner Bitte entsprechen, ohne mich von dem ursprünglichen Reiz, der in der positiven Aufforderung stecken mag, loslösen zu müssen.

Vergleichen wir die grammatische Ordnung der Wortkategorien mit der natürlichen Ordnung der Namen für Tiere und Pflanzen, wie sie uns die zoologische Klassifikation darbietet. Katzen sind Mitglieder der Ordnung der Raubtiere, Raubtiere sind Mitglieder der Ordnung der Säugetiere, Säugetiere sind Mitglieder der Klasse der Wirbeltiere, Wirbeltiere sind Mitglieder des Stammes der Chordatiere.

Dagegen können wir sagen: „Es fallen Tropfen“ oder: „Es regnet“, wobei wir im ersten Falle als Grundkategorie unserer Aussage die Kategorie der Einzeldinge wählen, während wir im zweiten Falle die Kategorie der Ereignisse bevorzugen. Wir können wiederum über ein Ereignis als gegenstandlosen Vorgang sprechen, wie wenn wir sagen: „Es dämmert“ oder „Es wird dunkel“ oder als gegenständlichen Vorgang, wie wenn wir sagen: „Die Dämmerung bricht herein“ oder „Es wird Nacht.“

Daraus erhellt, daß wir in der Wahl unserer grammtischen Klassifikationen und Ontologien nicht durch natürliche Tatsachen gebunden sind, wie dies bei der zoologischen Klassifikation nach Lenné oder dem Periodensystem der chemischen Elemente der Fall ist.

Freilich gelten, wenn wir uns einmal grammatisch-ontologisch festgelegt haben, die Kriterien der Kohärenz und Konsistenz. Wir können Einzeldinge nicht wie Ereignisse und Ereignisse nicht wie Einzeldinge kategorisieren. Doch die Kriterien der Kohärenz und Konsistenz sind wiederum evidenterweise normative Kriterien, und sie sind die fundamentalen Kriterien, die unser sprachliches Verhalten und die von uns erfaßten und dargestellten logisch-semantischen Sinnzusammenhänge normieren.

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