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Begriffliche Klärungen IV – „Hier bin ich“

03.02.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Mögen diese oder jene Neuronen feuern, neuronale Ereignisse nach deterministischem oder indeterministischem Muster in unseren Hirnregionen ablaufen: Dies oder jenes anzunehmen oder gar experimentell unter Beweis zu stellen, hilft uns nicht zu verstehen, was wir tun, wenn wir die Miene des anderen als freundlich oder abweisend, seine Rede als Einladung oder Drohung, seine Worte als eindeutig oder zweideutig interpretieren.

Die begriffliche Konfusion von Ursache und Grund, causa efficiens und causa finalis: „Der Erzieher hatte allen Grund, das Betragen oder das gemalte Bild des Kindes zu loben (oder zu tadeln)“ – die lobenden (oder tadelnden) Worte, die aus dem Munde des Pädagogen strömen, haben ihre Ursache in gewissen erforschlichen oder noch unerforschten neuronalen Prozessen in seinem Gehirn, die den funktionalen Gebrauch der Sprechwerkzeuge steuern; aber, was wir Lob und Tadel nennen, ist kein neuronaler Prozess im Gehirn, sondern eine Funktion des angemessenen oder auch unangemessenen Gebrauchs konventioneller Sprechakte, die sich in der Verlautbarung bestimmter Sätze kundtun.

Das Gehirn ist nicht das Organ, dem wir die ästhetische Wahrnehmung und Beurteilung von Kunstwerken oder die Äußerungen von Lob und Tadel zusprechen; der Lehrer ist es, dem das Bild gefällt oder mißfällt, der es anhand gewisser Kriterien des Bildaufbaus, der sinnvoll eingesetzten Farbgebung und der intuitiven Kraft des bildnerischen Ausdrucks bewertet und lobt oder tadelt.

Die Addition und Kombination sämtlicher Molekülbewegungen erzeugen, was wir Wasser im flüssigen Zustand nennen; aber die Addition und Kombination sämtlicher neuronaler Prozesse im Gehirn erklären nicht, was wir den Geschmack und die Färbung einer klaren Flüssigkeit nennen.

Ein neuronales System wie das Gehirn oder ein ihm nachkonstruierter Roboter kann aus dem intimen Getuschel der Gastgeberin mit dem Gast nicht wie der eifersüchtige Ehemann die Vermutung ableiten, daß sie im Begriff ist, ihn zu betrügen; es kann ebensowenig aus dem Umstand, daß die Verdächtigen am Ende der Party im Streit auseinandergehen, den Schluß ziehen, wie es der beruhigte Ehemann tut, daß es sich getäuscht hat.

Den Verdacht auf Untreue zu hegen oder in der Treue einer Person wider Erwarten bestätigt zu werden setzt ein begriffliches Denken voraus, das uns nur aus der Fähigkeit des Gebrauchs einer grammatisch und semantisch differenzierten Sprache erwächst.

Wäre die Wirkung der neuronalen Prozesse auf die phänomenalen Inhalte des Bewußtseins in einem strengen Sinne physikalischer Kausalität zu interpretieren, wären unsere Absichten nichts als verkleidete Formen mehr oder weniger deutlicher Antizipationen künftigen Verhaltens.

Er hatte die feste Absicht, es dem ungetreuen Freund heimzuzahlen und ihn nicht gemäß ihrer Verabredung zu besuchen, entschied sich aber anders und ging hin.

Er streifte sie beinahe absichtslos.

Cäsar wußte, was er wollte, als er den Rubikon überschritt. – Die Notwehrhandlung des Bedrohten geschah beinahe unwillkürlich.

Willensschwäche ist kein Mangel neuronaler Impulse; wer im entscheidenden Moment, wo es gilt, beherzt zu handeln, versagt, wird dafür zur Verantwortung gezogen; nicht so der an Apathie Leidende.

Information ist ein semantischer Begriff; neuronale Vorgänge aber sind syntaktisch geordnet. Daher ist der Versuch, den angeblichen Abgrund zwischen Physischem und Mentalem (aber es handelt sich dabei um zwei konträre Sprachspiele oder zwei Aspekte derselben Tiefenschicht wie Hase und Ente auf dem Vexierbild) mit Hilfe des Begriffs der Information zu überbrücken, ein Sophismus.

Ähnlich steht es umgekehrt mit dem Begriff der Komplexität, er ist ein syntaktischer Begriff, wird aber unter der Hand semantisch aufgeladen; wir erhalten den umgekehrten Sophismus.

Das sogenannte Rätsel des Bewußtseins ist eine Erfindung von Salonphilosophen. Was trübe an deinem Spie­gelbild erscheint, ist die Wirkung deines eigenen Atems.

Man darf sich von den martialisch oder pfäffisch auftretenden „Philosophen“ mit der seriös wirkenden Ausrichtung auf die Naturwissenschaft als Paradigma der angeblich solidesten Form des Wissens nicht einschüchtern lassen. Nicht einmal ihre methodische Grundlage, die Mathematik, ist einheitlich, sondern zerfällt in eine Vielzahl von sich überschneidenden Disziplinen von der Zahlentheorie bis zur Topologie sowie in eine Mannigfaltigkeit von Beweismethoden, Verfahrens- und Erklärungsweisen. Von einem universalen Erklärungsmodell DER Naturwissenschaft vom nomologischen Typus kann mitnichten die Rede sein; weder ist die Chemie noch gar die Biologie auf die Physik reduzierbar, die Utopie der Einheitswissenschaft aus dem beschwingten Wien des Positivismus und der analytischen Philosophie der Idealsprache hat mittlerweile die Centenarfeier ihres Scheiterns bereits hinter sich.

Ein neuronales Netzwerk und ein ihm nachgebildeter Roboter können nicht den Begriff einer Tatsache bilden, nicht feststellen, daß sich die Dinge auf diese und jene Weise verhalten; demnach auch nicht den Begriff einer negativen Tatsache bilden, nicht feststellen, daß sich die Dinge nicht auf diese und jene Weise verhalten. Sie können sich auch nicht darin irren, das Bestehen eines Sachverhalts anzunehmen, der in Wirklichkeit nicht besteht, und anschließend ihren Irrtum einsehen und korrigieren.

Auch dem Tier ist ein Aufenthalt im semantischen Raum der Sachverhalte und Tatsachen verwehrt; der Hund kann nicht die Tatsache feststellen, daß sein Herrchen heute nicht wie üblich zur üblichen Zeit nach Hause gekommen ist; er kann nur aufgrund des Ausbleibens seines Herrchens einen gewissen Mangel oder eine gewisse Traurigkeit fühlen.

Nachdem man lächerlicherweise die Unvereinbarkeit der physikalischen Erklärungsmethode mit der phänomenologischen anhand der Unmöglichkeit herausgestellt hat, von der Ebene der Neuronen in diejenige der Bewußtseinsinhalte „zu springen“, denen sie mehr schlecht als recht zu korrelieren scheinen, deklariert man in einer Bescheidenheit, die nur eine Maske von Arroganz darstellt: „Die Philosophie weiß nicht, was das Bewußtsein ist.“ Oder man deklariert hochtrabend, daß es sich bei dieser angeblichen Erklärungslücke um ein unlösbares Rätsel oder eine prinzipielle Schwierigkeit des Denkens handelt.

Aber natürlich wissen wir, was das ist, Bewußtsein und bewußtes Sein und bewußtes Leben: Wir wissen, was wir mit Bewußtlosigkeit oder Ohnmacht meinen; was es heißt, sich nach dem Erwachen seiner Umgebung, seiner Lage im Raum, seiner Situation in der Zeit bewußt zu werden; was es heißt, sich der Folgen seines Tuns und Redens nicht oder nur unzureichend bewußt zu sein; wir wissen, daß einer, der sich an vergangene Erlebnisse erinnert, sowohl des Erlebnisinhalts als auch der Tatsache bewußt wird, daß er vergangen ist; daß nur Personen im strengen Sinne ein Selbstbewußtsein haben, wenn wir unter Person denjenigen verstehen, der die Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Erinnerungen, die er hat, als die seinigen identifiziert; daß wir Tieren den Status des Personseins nicht deshalb absprechen, weil sie kartesianische unbewußte Maschinen sind, sondern weil sie sich nicht im Zentrum eines Koordinatensystems verorten und verzeitlichen, das seine räumlichen und zeitlichen Koordinaten von dem Nullpunkt aus projiziert, den wir meinen, wenn wir sagen: „Hier bin ich.“

Das Gehirn, der Roboter, die Maschine können nicht sagen: „Hier bin ich!“

Wir sind bemüht, anhand von deterministischen oder statistischen Modellen von neuronalen Ereignissen Behauptungen oder mehr oder weniger wahrscheinliche Vermutungen über zukünftige Ereignisse abzuleiten. Doch wenn wir physiognomisch wahrnehmen, beispielsweise dem Lächeln des anderen eine uns gewogene Haltung oder uns freundliche Handlungsabsicht absehen und ablesen, befinden wir uns in einem Bereich nichtdeduktiven, impliziten, ja verschwiegenen Wissens.

Absichtserklärungen haben nicht den theoretischen Status von wissenschaftlichen, sei es kausalen, sei es statistischen Voraussagen. Zusagen sind keine Vermutungen über die Wahrscheinlichkeit ihrer Erfüllung. „Ich werde morgen kommen“ heißt nicht: „Ich sehe voraus, daß ich morgen kommen werde.“

Kommt die Person trotz ihrer Zusage, morgen zu kommen, nicht, obwohl es ihr freistand, es zu tun, hat sie sich nicht über den Grad der Wahrscheinlichkeit in der Vermutung, daß sie kommen werde, getäuscht, sondern, wie wir schlicht sagen, ihre Zusage nicht eingehalten oder gebrochen.

Kann die Person ihre Zusage aufgrund objektiv hindernder Umstände, wenn sie beispielsweise erkrankt ist, nicht einhalten, ist nicht die Vermutung, daß sie kommen werde, falsifiziert, sondern ihr Nichtkommen entschuldigt.

Es handelt sich augenscheinlich bei Sprechhandlungen und Verhaltenstypen wie der Zusage und ihrer Erfüllung oder Nichterfüllung, der Absichtserklärung und dem Versprechen und ihrer Einlösung oder Nichteinlösung, der informellen oder formal fixierten Vereinbarung oder dem Vertrag und entsprechend der Vertragserfüllung oder dem Vertragsbruch um eine spezifisch humane Fähigkeit, das wetterwendische, fragile und stets gefährdete Dasein in möglichst beständige Schutzhüllen sozialer Institutionen zu bergen, die aufs engste mit dem Besitz der Sprache verwoben sind.

Unser treuer Hund kann uns nicht zusagen oder versprechen, sich künftig nicht mehr von der Leine loszureißen, um der Witterung einer Hasenspur nachzujagen. Wir nur sind es, die sein zukünftiges Verhalten mittels Konditionierung beeinflussen können.

Das Kind verspricht uns, in Zukunft sein Geschwister nicht mehr zu ärgern und ihm nicht mehr das Spielzeug aus der Hand zu reißen. Wir können ihm das Versprechen erleichtern oder versüßen, indem wir unsererseits versprechen, seine Folgsamkeit mit Extra-Naschereien zu belohnen. Wir können den Ernst der Sache herausstellen, indem wir androhen, ihm bei Nichtachtung der Verhaltensregel für eine Zeit den Nachtisch vorzuenthalten.

Die Sanktionierung einer Verhaltensregel oder Lob und Tadeln ähneln nur äußerlich der Verhaltensdressur am Hund durch beispielsweise die Gabe von Leckerlis im Falle seiner Fügsamkeit. Der Hund erhält etwas Feines, wenn er den Ball apportiert hat; aber dies ist keine Belobigung eines von ihm getätigten Versprechens, uns den Ball zu bringen. Der Schüler fühlt sich geehrt, wenn er vom Lehrer für die prompte Einhaltung seiner Zusage, die Hausarbeit pünktlich und ordnungsgemäß abzugeben, vor der Klasse gelobt wird.

Es widerstrebt uns zurecht, ja es klingt absurd, zu sagen, der Hund fühle sich geehrt, wenn er vor anderen Hunden von seinem Herrchen für sein Wohlverhalten gelobt worden ist.

Absichtserklärungen, Zusagen, Versprechen, informelle und vertragliche Vereinbarungen beziehen sich auf zukünftiges Verhalten und Geschehen, sie sind ein sprachlicher und verhaltensmäßiger Modus dessen, was Heidegger Sorge nennt, die wie ihm schien als das entscheidende menschliche Existential hervorsticht.

Nur Personen, die Äußerungen in der ersten Person bilden können, sind fähig, Absichtserklärungen abzugeben.

Der Freund erklärt, daß er mir das Buch, das ich ihm vor zwei Wochen ausgeliehen habe, übermorgen zurückgeben werde. Die Zusage findet in der durch unsere Situation definierten Gegenwart statt: sie bezieht sich sowohl auf ein Ereignis der Vergangenheit als auch der Zukunft.

Wir sanktionieren des öfteren das Nichteinhalten von Zusagen und Versprechen, bei denen es um Ehrensachen wie die Ablösung von Schulden oder die Unterstützung von Familienangehörigen geht, mit Ehrverlust oder dem Entzug der gebührenden Aufmerksamkeit; plötzlich grüßt den Treubrüchigen der, dem er die Treue brach, oder einer seiner Angehörigen nicht mehr.

Der Hund kann uns nicht zusagen, übermorgen auf unserem Waldgang nicht wieder auszubüchsen, nicht nur, weil er nicht sprechen kann; vielmehr weil er, wenn er es denn könnte, nicht in der Lage wäre, Begriffe der menschlichen Lebenswelt wie „morgen“ oder „übermorgen“ korrekt anzuwenden.

Der Hund kann die uns gewöhnlichen trivialen Zeitbegriffe wie „gestern“, „heute“, „jetzt“ und „morgen“ nicht bilden und korrekt anwenden, weil er keine Person ist; und eine Person zu sein impliziert, wie schon gezeigt, sich in einem raumzeitlichen Koordinatensystem zu identifizieren, das heißt, zu lokalisieren und zu temporalisieren, einem Koordinatensystem, das wir mit der basalen Aussage „Hier bin ich“ festlegen.

TTiere, besagt ein altes Wort, leben in einer ewigen Gegenwart, während unser Dasein durch das, was Heidegger die Ekstasen der Zeit nennt, aufgespannt und auseinandergerissen wird.

Weder das der Gegenwart verhaftete Tier noch ein zeitenthobenes göttliche Wesen kann unsere Sorge verstehen, also verstehen, was wir fühlen, denken oder erwarten.

Das Tier mag um seine Sterblichkeit ahnen, doch wir wissen nicht nur um unsere eigene, sondern auch die Sterblichkeit des anderen, derer vor allem, die uns nahestehen, derer, die wir lieben. Dies scheint uns der dramatische Hintergrund menschlicher Beziehungen, der ihnen allererst Intensität, Frische oder Gehalt verleiht, aber auch bei ihrem Zerfall sich in seelischer Ödnis, Gleichgültigkeit und Ennui manifestiert.

Neuronale Netzwerke, Roboter und Maschinen können weder sagen: „Hier bin ich“ noch lügen und sich selbst verleugnen.

Wir können nur lügen, wenn wir um die Wahrheit dessen wissen, was wir bestreiten; um die Wahrheit wissen heißt schlicht, wissen, daß etwas der Fall ist, lügen heißt vorgeben, daß etwas nicht der Fall ist, obwohl das Gegenteil zutrifft. Wie könnte ein Mechanismus ohne personales Bewußtsein auf etwas hinweisen, was NICHT der Fall ist?

Der Hund, der die Wurst vom Tisch gemopst hat, kann Verlegenheit äußern, aber nicht so tun, als habe er die kleine Schandtat nicht begangen; um sich zu verleugnen und vorzugeben, ein anderer sei der Bösewicht und habe es getan, müßte er freilich der Sprache mächtig sein.

Sich verleugnen heißt ein anderer sein wollen als der, der man ist; heißt, die Wahrheit verleugnen, daß man selbst es ist, der den singulären Nullpunkt im raumzeitlichen Koordinatensystem personalen Lebens einnimmt. Hier eröffnet sich das Feld der Selbsttäuschungen und Pathologien der Selbsterfahrung von der Selbstverkennung (die Plumpe spielt die Anmutige, der Ausgebrannte mimt den neuen van Gogh) bis zur Selbstauslöschung (der Psychotiker, der politische und religiöse Fanatiker), pathologische oder degenerierte Formen, die freilich nur auf dem Hintergrund der Normalität und Normativität der Hinnahme der eigenen existentiellen Position zu verstehen möglich ist.

Was wir Moral nennen, entspringt der Qualifizierung unseres sorgenden und besorgenden Handelns in einer Welt der Ungewißheit und Gefahr: Zuverlässig nennen wir jenen, der zu seinem Wort steht, seine Zusage einhält oder trotz Hindernissen und Unwägbarkeiten sein Versprechen erfüllt; unzuverlässig aber, wer ohne Not seine Zusage verabsäumt oder sein Versprechen bricht. Charakterstark und verläßlich nennen wir jenen, der trotz widriger Umstände die getroffene Vereinbarung einhält, treu aber jenen, der den Verführungen des Geldes, der Begehrlichkeit, der Korruption nicht nachgibt und zu seinem Wort, zum ausbedungenen Vertrag, zur Erfüllung seiner Pflicht steht.

Die Verpflichtungen, die wir in der Sorge um unser Dasein, unseren Erhalt und den Erhalt derer, die uns anvertraut sind, eingehen, beruhen einerseits auf der Symmetrie reziproker Erwartungen: do ut des. Wir zahlen eine Schuld ab, aber das geliehene Geld half uns aus der Patsche; wir fühlen uns demjenigen, der uns gefördert und mit einem entscheidenden Rat und Fingerzeit den Weg oder Ausweg gewiesen hat, nicht nur zugetan, sondern verpflichtet, es ihm, gerät er in eine ähnliche Lage, gleichzutun; wir wissen uns schuldig, wenn wir, und sei es von unseligen Leidenschaften getrieben, die Kreise des anderen empfindlich gestört und verwirrt haben, und wir bleiben es, wenn uns keine Gelegenheit gegeben wird, ihn darin zu unterstützen, sie wieder in Ordnung zu bringen.

Andererseits erkennen wir das moralische Genie, also die Ausnahme, an seinem unwillkürlichen Taktgefühl, seiner Großmut und Großherzigkeit, wenn einer, ohne dazu aufgefordert oder verpflichtet zu sein, auf der Schwelle dessen steht, der in schwieriger Lage ist, und sagt: „Hier bin ich!“

Die Sorge ist eine existentielle Struktur, die mit der Zeitlichkeit unseres Daseins unmittelbar verknüpft ist, wie Heidegger in „Sein und Zeit“ erläutert; so können wir dem anderen die Sorge nicht abnehmen, ohne Gefahr zu laufen, ihn zu entpersönlichen. Daher ist es Selbstbetrug und Betrug am Gegenstand unserer nicht ganz uneitlen, meist sogar moralisch aufgeblähten Fürsorge, jemandem die Sorge um seine Daseinsfristung und seinen Lebenserhalt, so er sie aus eigenen Kräften würde leisten können, abzunehmen.

Wir bedürfen keiner universalistischen Hochmoral philosophischer Natur, wie sie Kant, Apel oder Habermas entwickelt haben; uns genügt es, die Vielfalt der Situationen kasuistisch-minutiös zu beschreiben, in denen wir aufgrund der Sorgestruktur des In-der-Welt-Seins moralische Sprachspiele erfinden und anwenden, die typische Sprechhandlungen und Wendungen der Zusage, der Verpflichtung, des Treueeids oder der vertraglichen Vereinbarung sowie ihre jeweiligen Negationen und die Sanktionen bei ihrer Nichterfüllung aufweisen. Hier bewegen wir uns, wenn auch nur im Schneckentempo, auf dem soliden Boden einer aristotelisch-pragmatischen Sittlichkeit.

Es genügt für die Begriffsklärung, die Spannweite der Sanktionen vom leisen Tadel und des Entzugs der Aufmerksamkeit über den Ehrverlust und die soziale Ächtung bis zum rechtlich verankerten Strafregime auszumessen und zu beschreiben. – Die Androhung und Exekution von moralischen und rechtlichen Strafen ist der Kitt der sozialen Gemeinschaft, mit dem sie die undichten Fugen ihres institutionellen Gehäuses gegen das Eindringen von zersetzenden Schadstoffen abzudichten versucht.

Die Antike überliefert uns den Begriff des otium, der Muße, einer Dimension dichterischen Lebens, das von der Sorge der Daseinsfristung auf Zeit entlastet ist. Wird uns diese Dimension auch durch den wüsten Lärm und den tumultuarischen Betrieb der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie mehr und mehr verstellt, überraschen uns doch gelegentlich auf unseren einsamen Streifzügen einige der Blüten, die einst in den Musengärten aufgesprossen sind.

Bisweilen gleichen unsere seltenen Funde jenen wenn auch ihres Duftes und ihrer Farbenfrische beraubten gepreßten Blumen, die unverhofft aus verstaubten Folianten fallen.

Beim Hören der Serenaden Mozarts, der Pastorale und des Violinkonzerts von Beethoven oder der Lieder Schuberts könnten wir mit einem Male sagen: „Hier bin ich zu Hause“ oder vielleicht: „Hier wäre ich gern zu Hause“ – da wir nunmehr aus der Mitte eines imaginären Koordinatensystems den Ort unseres Erlebens im Nirgendwo oder dem mythisch-verborgenen Hain der Musen, die Zeit aber als spielerische Konfigurationen der Erinnerung und Erwartung erfahren.

 

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