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Begriffliche Klärungen V – „Es regnet“

08.02.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

„Es regnet“ – einer der merkwürdigen Sätze indogermanischen Typs, die sich nicht weiter analysieren und in Subjekt und Prädikat aufspalten lassen. Sie sagen, was sich ereignet: Es schneit. Es blitzt. Es donnert. Es wird wärmer. Es zieht.

Sätze mit dem Schein-Subjekt „es“ muten an, als seien sie ursprünglich Phänomenen der Witterung zugedacht; und wirklich sagte man im Altgriechischen auch „Zeus regnet“, bevor man sagte „Es regnet.“

Einfache Aussagen wie „Tropfen fallen“ haben die logisch-grammatische Form a (P), wobei die Variable a für ein Objekt der Welt, P für ein Prädikat steht, das man ihm zuschreiben kann. „Tropfen steigen empor“ ist gewiß ein ebenso sinnvoller Satz wie „Tropfen fallen“, doch nicht in der Welt, in der wir leben.

Der Satz „Es regnet“ hat, außer den gewöhnlichen Zeichen, die wir in ihm vorfinden, kein Sonderzeichen, an dem wir erkennen könnten, daß er eine Aussage über die Welt ist, in der wir leben. Würden wir das Ausrufezeichen mit der neuen Bedeutung verwenden, daß der mit ihm versehene Satz wirklich etwas über die Welt sagt (wie es Frege mit dem Behauptungszeichen vorgeschwebt haben mag), läsen wir etwa: „Es regnet!“ oder einfach „Regen!“ – Doch könnten wir ebensogut im Märchenbuch von dem Zwerg lesen, der aus einer Baumhöhle klettert und ausruft: „Es regnet!“ oder einfach „Regen!“

Wir können nicht sagen, Aussagen wie „Es regnet“ müßten von demjenigen, der sie versteht, in bedeutungsgleiche Ausdrücke übersetzt werden können; denn jemand könnte wissen, was der Satz „Es regnet“ bedeutet, ohne zu wissen, was der Satz „Tropfen fallen“ bedeutet, oder von den Prämissen „Wenn es regnet, fallen Tropfen“ und „Es regnet“ den Schluß folgern zu können „Es fallen tropfen.“

Der Ausruf aus dem Munde des Zwergs „Es regnet!“ bedeutet im fiktionalen Kontext des Märchens augenscheinlich etwas anderes als derselbe Ausruf aus dem Mund des Gastgebers, der aus dem Fenster schaut. nachdem er mit seinem Gast vereinbart hat, noch einen Spaziergang zu unternehmen. Denn im Kontext dieser Situation stellt er nicht nur die deskriptive Aussage über ein Ereignis in der Welt dar, sondern zugleich die präskriptive Äußerung „Bleiben wir lieber hier!“

Die Äußerung „Es regnet“, die bedeutet „Bleiben wir lieber hier“, sagt nicht „Bleiben wir lieber hier“; wer situationsgemäß versteht, was die Äußerung besagt, kann es ihr nicht anhören oder ansehen, denn sie sagt ja nicht, was sie meint.

Das Bild der Wolke mit den fallenden Tropfen, auf das die Wetterfee in der Nachrichtensendung weist, sagt, daß es in dieser Region regnet (oder bald regnen wird). Das Bild mit der ikonischen Figur eines Mannes oder einer Frau an der Tür, sagt nicht, daß wir auf Vertreter des jeweiligen Geschlechtes treffen, wenn wir die Tür öffnen, sondern daß nur Vertreter des jeweiligen Geschlechts sie öffnen und eintreten sollen. – Das Bild mit der Regenwolke ist deskriptiv (oder prognostisch), das Bild mit der ikonischen Figur an der Toilettentür ist nicht deskriptiv, sondern präskriptiv.

Das Bild mit der Regenwolke ähnelt dem, was es meint, der Satz „Es regnet“ nicht. – Die ikonischen Figuren auf den Toilettentüren sind dem, was sie darstellen, ähnlich, doch nicht dem, was sie meinen („Du kannst eintreten, wenn du mir ähnlich bist“).

Der frühe Wittgenstein glaubte, Sätze seien Bilder von möglichen Sachverhalten und Gedanken seien sinnvoll nur, wenn sie in solchen Sätzen ausgedrückt werden; es bestehe eine logische oder strukturelle Ähnlichkeit und Isomorphie zwischen dem Gedanken und dem ihn ausdrückenden sinnvollen Satz und dem möglichen Sachverhalt, den der Satz darstellt. Demnach wäre der Satz „Peter sitzt links von Petra“ sinnvoll und der Ausdruck eines sinnvollen Gedankens, weil seine logische Form mit der logischen Form des Sachverhalts, nämlich der Relation a (S) b übereinstimmt, wobei a und b für die Namen der Personen und S für die Relation des geordneten Nebeneinandersitzens steht und die Tatsache, daß der Name „Peter“ links von dem Namen „Petra“ steht, die Tatsache abbildet, daß Peter links von Petra sitzt.

Aber welche logische Form hat der Satz „Es regnet“? Was sind seine logischen Bestandteile und was bildet er strukturell ab? Der Satz „Es regnet“ läßt sich augenscheinlich nicht so analysieren, daß die Analyse die grammatisch-semantischen Subjekte aufdeckt, deren Relation der Satz zum Ausdruck brächte; denn der Satz druckt keine Relation aus, auch keine einstellige wie etwa der Satz „Tropfen fallen.“

Strukturelle Ähnlichkeit und logische Isomorphie zwischen Sätzen und möglichen Sachverhalten sind demnach kein notwendiges semantisches Sinnkriterium.

Mit der Äußerung „Es regnet“ oder der Aussage, daß es regnet, meinen wir ein mögliches Weltereignis, ein Ereignis, das stattfindet oder nicht stattfindet. – Findet das Ereignis bei der Äußerung des Satzes, der es meint, statt, nennen wir ihn wahr, findet es bei der Äußerung des Satzes nicht statt, nennen wir ihn falsch.

Dem Satz „Es regnet“ sehen wir nicht an, ihm steht es nicht an der Stirn geschrieben, ob er wahr oder falsch ist. Dagegen zeigt der Satz „Es regnet oder es regnet nicht“ und der Satz „Es regnet und es regnet nicht“, daß sie wahr beziehungsweise falsch sind; den ersten nennen wir eine logische Tautologie, den zweiten eine Kontradiktion.

Wahrheit und Falschheit sind Eigenschaften von deskriptiven Sätzen; logische Wahrheit und logische Falschheit sind Eigenschaften von mindestens zwei deskriptiven Sätzen, die durch die logischen Konstanten „und“ beziehungsweise „oder“ verknüpft sind.

Wolken ziehen sich zusammen, der Himmel verdüstert sich. Einer sagt „Es gibt Regen“; die Wettererscheinungen dienen uns als Anzeichen künftiger Ereignisse, der Satz aber bedient sich keiner Anzeichen, und sprachliche Zeichen sind autonom (und keine Anzeichen).

Der Ausruf „Aua!“ kann ein Anzeichen für Schmerzen sein; aber der Satz „Ich habe Schmerzen“ ist es nicht. Doch kann die Aussage „Ich habe Schmerzen“ als Übersetzung des Ausrufs „Aua!“ aufgefaßt werden; aufgrund des Umstands, daß in diesem Falle die sprachlichen Zeichen eine vermíttelte oder indirekte Wiedergabe nichtsprachlicher oder unartikulierter Anzeichen sind, begreifen wir leichter die Sonderstellung von Äußerungen der ersten Person über ihre mentalen Zustände, die anders als Aussagen in der dritten Person wie „Er hat Schmerzen“ oder „Es regnet“ meist von Zweifeln ausgenommen sind.

Der Maler eines Selbstporträts mag während des Malvorgangs über sein Leben nachgrübeln, und die Intensität seiner Selbstbetrachtung kann sich in den Zügen des Porträtierten, dem physiognomischen Ausdruck und der Farbgebung kundtun; doch was wir die Ähnlichkeit des Bildes mit dem Dargestellten nennen, ist keine Widerspiegelung solcher mentalen Vorgänge, sondern die Wirkung eines projektiven Malverfahrens.

Die Ähnlichkeit des Porträtbilds mit dem Porträtierten können wir nur feststellen, wenn wir das Bild mit dem Gesicht des Malers vergleichen. – Aussagen können mit nichts verglichen werden, es sei denn mit anderen Aussagen, beispielsweise ihrer Umformung mittels synonymer Ausdrücke wie etwa „Es schüttet“, „Es rieselt“, „Es schauert“ oder ihrer Übersetzung in andere Sprachen wie beispielsweise „It is raining“, „Il pluit“, „Piuve“.

Einer, der sagt „Es regnet“, mag hören, wie Regentropfen aufs Dach fallen, oder aus dem Fenster auf die fallenden Tropfen schauen; doch der Satz „Es regnet“ ist keine Beschreibung eines akustischen oder visuellen Eindrucks.

Nehmen wir an, die Vorstellung von fallenden Regentropfen sei durch einen Komplex feuernder Neuronen im Gehirn repräsentiert: Der Neurologe könnte mittels eines Gehirnscans nicht ausfindig machen, daß ein solches neuronales Geschehen dem Sinn des Satzes „Es regnet“ äquivalent ist.

Wir können von der Wüste reden und dabei an Regentropfen denken, wir können vom Regen reden oder sagen „Es regnet“ und dabei an die ausgetrocknete Sahara denken.

Die semantischen Eigenschaften von Sätzen können wir nicht auf der Grundlage der Vorstellungen (Phantasiebilder, Erinnerungen) erfassen, die sie begleiten.

Semantische Eigenschaften sind keine mentalen oder psychologischen Eigenschaften.

Semantische Eigenschaften und die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke können nicht aus neuronalen Zuständen oder Ereignissen abgeleitet werden.

Die Bedeutung einer Aussage befindet sich nicht im Gehirn dessen, der sie äußert.

Die Semantik ist weder auf Psychologie noch auf Neurophysiologie reduzierbar.

Die Falschheit der Äußerung „Es regnet“, wenn es nicht regnet, mag die Wirkung einer auditiven Halluzination sein; doch dieses neuronale und psychotische Ereignis begründet nicht die Falschheit der Äußerung – jemand könnte die auditive Halluzination herabprasselnder Regentropfen haben, während es tatsächlich regnet; seine Äußerung „Es regnet“ wäre zwar wahr, aber ihre Wahrheit wäre nicht durch die zufällige Koinzidenz seines seltsamen Erlebens mit der Wirklichkeit begründet, sondern durch die Tatsache, daß es regnet.

Die wahre Äußerung „Es regnet“, wenn es regnet, wird nicht falsch, wenn der Sprecher glaubt, daß es gar nicht regnet, aber seinen Gast mit der scheinbar falschen Äußerung zum Bleiben nötigen will.

Der bequeme Gastgeber will den Gast dazu verleiten, auf den geplanten Spaziergang zu verzichten und gemütlich in der warmen Stube noch weiterzuplaudern, und sagt, während es auf den Balkon tropft (freilich, weil der Bewohner der oberen Wohnung die Balkonpflanzen gießt) „Es regnet“ – er mag es nun selbst glauben oder flunkern. Ob er Falsches annimmt oder lügt, beidemal ist die Aussage unwahr.

Die Äußerung „Ich weiß, daß es regnet“, wenn es regnet, ist keine wahre Äußerung über den Regen, sondern über die Überzeugung des Sprechers; und sie ist sinnvoll nur, wenn sie beispielsweise den Zweifel des Gesprächspartners ausräumen soll. – Denn aus dem Fenster zu schauen und es regnen zu sehen und dann zu sagen „Ich weiß, daß es regnet“ ist unsinnig.

Die Äußerung „Ich fürchte, es gibt Regen“, wenn sich Wolken zusammenziehen und der Himmel sich verdüstert, ist keine Wetterprognose, sondern der Ausdruck der Bedenklichkeit des Sprechers und seines Wunsches, lieber daheim zu bleiben.

Die Semantik deskriptiver Sätze wie „Es regnet“ ist keine Funktion mentaler Zustände oder Dispositionen, die wir mit Wendungen wie „Ich glaube, daß p“, „Ich weiß, daß p“, „Ich fürchte, daß p“ oder „Ich hoffe, daß p“ zum Ausdruck bringen.

Die Bedeutung der Aussage „Es regnet“ ist keine Funktion des Wissens, daß Regentropfen aus Wasser und Wasser aus H2O besteht; denn der Bewohner der Putnamschen Gegenerde mag sagen „Es regnet“, auch wenn er weiß oder nicht weiß, daß die Regentropfen, die auf der Gegenerde niedergehen, nicht aus H2O bestehen.

Gleichgültig, ob wir die neuronalen Ereignisse in unserem Gehirn deterministisch oder probabilistisch deuten, die Tatsache, daß wir auf ihrer Grundlage den Satz bilden „Es regnet“ und damit meinen, daß es regnet, ist weder eine neurophysiologische Tatsache noch ein rein phänomenaler Bewußtseinsinhalt.

Von Neuronen und neuronalen Ereignissen (ebenso wie vom Regen und von Regentropfen) sprechen zu können setzt die semantische Relation zwischen Sprache und Welt schon voraus, kann sie demnach nicht begründen.

Wenn die semantische Beziehung zwischen der Äußerung „Es regnet“ und dem Ereignis, daß es regnet, weder aufgrund der Ähnlichkeit, der Abbildungsfunktion oder der logischen Isomorphie des Satzes mit dem Wetterphänomen noch aufgrund der psychologischen Zustände und mentalen Dispositionen des Sprechers besteht, worin gründet sie dann?

Sagen wir einmal, was naheläge, die semantische Relation gründe in den Kontexten der Äußerung von Sätzen, die uns ermöglichen, sie zu bestätigen oder zu widerlegen (beziehungsweise ihre Annahme nahezulegen oder in Zweifel zu ziehen).

Die Äußerung „Es regnet“ lassen wir gelten, wenn uns der Blick aus dem Fenster bestätigt, daß Tropfen fallen.

Somit würde die semantische Relation in der Wahrheitsfähigkeit (oder Widerlegbarkeit) von Sätzen gründen, mit Hilfe welcher Prüfverfahren ihre Bestätigung oder Widerlegung auch immer erfolgen mag.

Aber drehen wir uns nicht im Kreise? Offensichtlich. Denn Wahrheit ist ja trivialerweise die semantische Fähigkeit von Sätzen, einen Bezug auf bestehende Sachverhalte nehmen und durch diese bestätigt werden zu können.

Daraus folgern wir, daß die semantische Relation zwischen Sprache und Welt, die Conditio humana schlechthin, insofern wir uns als Homo loquens definieren, nicht erklärt oder abgeleitet werden kann; jede Erklärung und Ableitung setzt sie bereits voraus.

Der Heidegger von „Sein und Zeit“ tat demnach gut daran, die Welterschlossenheit des menschlichen Daseins nicht als philosophisches Problem zu behandeln, sondern als Existential vorauszusetzen. Nur daß sie sich nicht bloß im zeughaft-technischen und künstlerischen Weltumgang oder in existentiellen Stimmungen wie der Angst und der Sorge kundtut, sondern, wie er in seinem Spätwerk selber darlegt, um sich auf solche Weise manifestieren zu können, das Sprachvermögen und die semantische Kraft der sprachlichen Darstellung zur Grundlage hat.

Der sinnvoll klingende philosophische Satz, wonach die Aussage „Es regnet“ die Tatsache bedeute, daß es regnet, ist ein Scheinsatz; denn es gibt keine Tatsachen in dem Sinne, wie es Regentropfen oder Dinge der Welt gibt. Wir reden von Tatsachen, aber eigentlich reden wir von der semantischen Kraft der Sprache, also von einer begrifflichen Struktur.

Wasser, sagen manche, habe die Bedeutung von H2O; doch Dinge, Substanzen und Ereignisse haben keine Bedeutung, sondern nur Sätze, die von ihnen reden.

Von Dingen, Substanzen und Ereignissen zu reden ist schon zweideutig; denn eigentlich sind sie begriffliche Formen der Sätze, mit denen wir von Tropfen, Wasser und Regenfällen sprechen.

Die Äußerung „Es regnet“ über den bestehenden Sachverhalt, daß es regnet, ist ein Konstituens der Tatsache, daß es regnet, nicht freilich der Regentropfen.

Die seltsame, aber gnomisch-stimmige Äußerung Heideggers „Es weltet“ ist ein Hinweis auf die gleichsam sprachähnliche Ereignisstruktur der Welt, in der wir leben, und auf die welterschließende semantische Kraft der menschlichen Sprache, die von ihr Zeugnis gibt. Ohne die semantische Kraft der Sprache könnten wir das Bestehen des Sachverhalts und also die Wahrheit der Aussage „Es regnet“ nicht erfassen.

Ohne das Dasein des Homo loquens und die darstellende Funktion der menschlichen Sprache fielen wohl Regentropfen auf die Erde nieder, doch wäre es unsinnig, von einem möglichen Sachverhalt zu reden, den wir mit der Aussage „Es regnet“ meinen und deren Wahrheit wir mit einem flüchtigen Blick aus dem Fenster bestätigen.

Über die Jahrhunderte und die Länder verteilt könnte man Einträge in Tagebüchern finden wie „Es regnet“, „It is raining“, „Il pluit“, „Piuve“, und statt zu sagen, dann und dann hat es geregnet, können wir auch sagen, im Tagebuch des N. N. vom xx.xx.xxxx steht „Es regnet.“

Vorkommnisse eines natürlichen Ereignistyps wie Regen, Gewitter, Schneefall können wir auf einer beliebig langen Zeitstrecke anhand des jeweiligen Protokollsatzes „Es regnet“, „Es blitzt“, „Es schneit“ datieren; dies gilt nicht für singuläre und historisch einmalige Ereignisse. Der Meteorit schlug nur einmal auf; Cäsar überschritt nur einmal den Rubikon.

Da wir die natürlichen Ursachen des Regens kennen, können wir voraussagen, daß sich dieses Wetterphänomen unter den gleichen kausalen Umständen wiederholen wird; dagegen kennen wir keine natürlichen Ursachen, aus denen sich das Handeln einer Person gesetzesförmig ableiten ließe.

Der Mythos, gemäß dem es der Wettergott Ist, dem das natürliche Ereignis Regen als willensmäßiges Handeln zugeschrieben wird, ist eben aufgrund dieser poetischen Illusion ein Mythos.

 

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