Skip to content

Von der Eigenart psychologischer Prädikate

25.11.2015

Leistungen und Grenzen psychologischer Beschreibung

 

Der Schüchterne kann so tun, als sei er kühn und tapfer, ja indem er so tut, ist er es, ohne indes aufhören zu müssen, schüchtern zu sein.

Der schüchterne Mensch, der plötzlich als Großsprecher auftritt oder sich durch eine kühne Tat auszeichnet, verliert nicht die Eigenschaft, schüchtern zu sein.

Der Dumme kann nicht vortäuschen, klug zu sein, denn um dies tun zu können, müßte er es sein.

Wir können nicht den Dummen spielen, der von nichts weiß, und gleichzeitig die Kripo mittels Vortäuschung eines listig eingefädelten Alibis an der Nase herumführen wollen, denn unsere Fähigkeit zur List ist der Beweis dafür, daß wir nicht dumm sind.

Wir können der Kripo nicht weismachen, daß wir den Dieb wiedererkennen werden, weil wir ihn bei Nacht und Nebel in einer Entfernung von 150 Metern haben heranschleichen sehen, nachdem der Anblick unserer dicken Brillengläser und die Einsicht in unseren Behindertenausweis uns als schwer sehbehindert ausgewiesen haben.

Wenn die Sonne scheint, können wir nicht vorgeben zu glauben, der Himmel sei nicht blau, oder die Straße werde nicht naß, wenn es geregnet hat.

Wasser hat die Disposition, sich bei geeigneten Umweltbedingungen in den festen, den flüssigen und den gasförmigen Zustand zu verwandeln.

Der Pawlowsche Hund hat die konditionierte Disposition, beim Erschallen der Klingel Speichel abzusondern.

Der Schüchterne hat die Disposition, sich bei geeigneten Umweltbedingungen zu schämen, der Jähzornige, zornig zu werden, der freundliche Mensch zuvorkommend zu sein.

Doch überrascht uns der Mensch, den wir für schüchtern hielten, durch eine kühne Tat, der Mensch, dessen Wutausbruch wir erwarteten, durch eine begütigende Geste, der Mensch, dessen freundliches Wesen wir schätzten, durch eine grausame Handlung.

Der laut und arrogant auftretende Mensch kann eigentlich schüchtern und ängstlich sein, der schüchtern und kleinlaut auftretende eigentlich machtgierig und arrogant.

Deskriptive Prädikate wie „blau“, „naß“, „fest“, „flüssig“ und „gasförmig“ und kognitive Prädikate wie „fehlsichtig“ und „scharfsichtig“, „dumm“ oder „intelligent“ haben andere Bedingungen der Verwendung als psychologische Prädikate wie „jähzornig“, „schüchtern“ oder „selbstbewußt“, „ängstlich“ oder „verwegen“.

Die Eigenart psychologischer Prädikate besteht im Gegensatz zur Semantik deskriptiver Prädikate darin, komplementär verwendet werden zu können, vergleichbar mit dem Komplementärprinzip der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, wonach Licht sowohl Eigenschaften von Materieteilchen als auch Eigenschaften von Energiewellen besitzt, insofern die menschliche Seele ein komplexes, vielschichtiges und verwickeltes Ding ist.

Es ist zu vermuten, daß die Eigenart psychologischer Prädikate, komplementär verwendet werden zu können, den Anstoß und die scheinbare Plausibilität für die psychoanalytische Annahme unbewußter psychischer Vorgänge darstellt, eine Hypothese, die entbehrlich ist, wenn wir erkennen, daß die Zuschreibung widersprüchlicher psychologischer Prädikate auf ein und dieselbe Person nicht die Existenz eines Unbewußten voraussetzt, sondern die Existenz spezifischer Verwendungsregeln für solche Prädikate, hauptsächlich die Regel der Komplementarität.

Wir müssen nicht sagen, jener Mensch habe kühn gehandelt, obwohl wir ihn als schüchtern und ängstlich kennen, oder jener Frau sei die Hutschnur geplatzt und sie sei jähzornig aufgebraust, obwohl wir sie als sanftmütige Person in Erinnerung haben. Sondern wir sagen, jener schüchterne und ängstliche Mensch habe kühn gehandelt oder jener sanftmütigen Frau sei die Hutschnur geplatzt und sie sei zornig aufgebraust.

 

Wenn ich dir einmal bei einer zufälligen Begegnung zugelächelt hätte, würdest du aus dieser Wahrnehmung nicht folgern, daß ich ein freundlicher Mensch sei, auch wenn natürlich gilt, daß freundliche Menschen eher zu lächeln bereit sind als unfreundliche. Um feststellen zu können, daß ich ein freundlicher Mensch bin, genügt ein Lächeln nicht – vielleicht war es ja eher ein Grinsen, das ich aufgesetzt hatte, oder es geschah halbbewußt in einer Art Geistesabwesenheit.

Um feststellen zu können, daß einer ein freundlicher Mensch ist, müßten wir mit ihm zusammenleben oder einen engen Austausch mit ihm pflegen, der uns erlaubt, ihn in verschiedenen Situationen zu beobachten. Dann kommen wir vielleicht allmählich dahinter, was es mit jenen Gemütsäußerungen oder emotionalen Reaktionen und anderen verbalen und nichtverbalen Bekundungen auf sich hat, denen wir das Etikett „freundlich“ oder „unfreundlich“ anheften. Denn die psychologische Eigenschaft, die wir Freundlichkeit nennen, offenbart sich nach und nach in einer Gemengelage aus Gesten, Worten und Taten, die wir unterschiedlich beschreiben, etwa durch Attribute wie „zuvorkommend“, „hilfsbereit“, „aufmerksam“, „teilnehmend“ oder „verständnisvoll“, die wir aber dennoch mit dem einen roten Faden namens „Freundlichkeit“ untereinander verknüpfen.

Wir werden uns aber hüten und den roten Faden nicht mit psychologischen Prädikaten wie „gutherzig“, „warmherzig“, „einfühlsam“, „liebevoll“ oder „sanftmütig“ verknüpfen, da unsere Intuition hier eine andere Kategorie psychologischer Verknüpfungen aufspürt, die wir „Güte“, „Milde“ oder „Herzlichkeit“ zu nennen pflegen. Wir merken den Unterschied sofort, denn wir unterstellen, daß ein gütiger oder warmherziger Mensch gern eine Lächeln verschenkt, während das Lächeln, das sich der freundliche Mensch auch in heiklen Situationen und gegenüber Leuten abnötigt, die ihm herzlich gleichgültig oder gar unangenehm und verdächtig sind, kein Zeichen von Herzlichkeit darstellt.

Manche scheinen ein klares Bild von anderen Menschen zu haben. Wer so handelt, muß so sein. Die Mutter hat das Kind geschlagen, also ist sie grausam. Der Freund redet immer nur von sich und seinen beruflichen Erfolgen, also ist er ein Angeber. Die Freundin redet einem ständig in die eigenen Angelegenheiten drein oder macht sich über die eigenen Bemühungen lächerlich. Also ist sie rechthaberisch und übergriffig.

Können wir uns ein mehr oder weniger klares Bild vom Charakter oder gewissen Charakterzügen anderer Menschen und unserer selbst machen? Wie weit reichen dabei die Möglichkeiten der sprachlichen Beschreibung mittels der Verwendung von psychologischen Prädikaten und wie weit die Möglichkeiten der psychologischen Exploration?

Wir beschreiben einen Charakterzug als die Disposition, unter gewissen Umständen und in gewissen Situationen in bestimmter Weise zu handeln oder sich zu verhalten, ähnlich der Disposition von Glas, bei einem bestimmten Druck zu zerspringen, oder von Papier oder Metall, bei einer bestimmten Temperatur in Flammen aufzugehen oder zu schmelzen. Wer eine nachlässig hingeworfene Bemerkung bereits zum Anlaß nimmt, sich gekränkt oder beleidigt zu fühlen und aufzubrausen, nennen wir hochgradig sensibel, unsicher oder jähzornig. Die charakterliche Disposition des Jähzorns zeigt sich im aufbrausenden Verhalten bei besagtem Anlaß.

Wir bemerken, daß ein Gas-Sauerstoff-Gemisch mittels eines elektrischen Funkens zur Explosion gebracht wird, während nicht jeder dumme Jungenstreich und nicht jede alberne Bemerkung hinreichen, daß ein jähzorniger Mensch in die Luft geht. Der auf den Klang der Glocke konditionierte Hund Pawlows reagiert prompt mit Speichelabsonderung, wenn die Glocke anschlägt, während uns auch angesichts des leckersten Bratens und der cremigsten Torte, selbst wenn uns der Magen grummeln sollte, nicht ohne weiteres der Mund wässrig wird, insofern uns ein Anlaß zu großer Trauer das Gemüt bedrückt. Die kausale Verknüpfung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen zur Auslösung eines Ereignisses wie der Zufuhr von Sauerstoff und der Entzündung des elektrischen Funkens bei der Gasexplosion oder das Reiz-Reaktions-Schema beim Pawlowschen Hund genügen uns nicht zum Verständnis psychologischer Eigenschaften und ihrer Beschreibung mittels der Verwendung von psychologischen Prädikaten wie Freundlichkeit oder Herzlichkeit, Ängstlichkeit oder Kühnheit.

Wir können allerdings die Bereitschaft oder Neigung des jähzornigen Menschen, bei bestimmten Gelegenheiten aufbrausend zu reagieren, als eine charakterliche Disposition beschreiben, wenn wir uns vor Augen halten, daß Dispositionen kein Element einer Kausalkette oder eines Reiz-Reaktions-Schemas darstellen. Wir können demnach einen Charakterzug oder eine psychologische Eigenschaft als Verhaltensneigung beschreiben und den Begriff, den wir ihnen zuordnen, als Dispositionsbegriff definieren.

Wir haben damit ein Modell der psychologischen Beschreibung gewonnen, das wir anhand der Analogie des Modells der Beschreibung von physischen Stoffen erweitern wollen. Ähnlich wie der Stoff, den wir Wasser nennen, die Disposition hat, bei null Grad Celsius zu gefrieren, bei 100 Grad Celsius sich in Dampf aufzulösen und zwischen diesen Bereichen in einem flüssigen Zustand zu verbleiben, können wir von den Charakterzügen als Verhaltensneigungen annehmen, daß sie in bestimmten Verknüpfungen oder Verbindungen auftreten oder aufzutreten pflegen. Dem Menschen, der bei schweren Belastungen und beruflichen oder familiären Stresslagen dazu neigt, gleichsam zu gefrieren und sich apathisch, lustlos und willenlos in sein Schneckenhaus zurückzuziehen, nennen wir furchtsam und ängstlich und sprechen ihm depressive Neigungen zu. Dem Menschen, der bei einer großer Zufuhr an Aufmerksamkeit, Lob und Zuspruch dazu neigt, aus dem Häuschen zu geraten und sich übermütig oder tollkühn an die Bewältigung von Aufgaben zu machen, die seine Kräfte und sein Können überschreiten, nennen wir leicht erregbar oder exzitabel und sprechen ihm manische Neigungen zu. Einem Menschen, der unter normalen Umständen und einem bewältigbaren Maß an Anforderungen und Zumutungen ruhig, ausdauernd und kontrolliert bleibt, nennen wir ausgeglichen und sprechen ihm ein mehr oder minder gediegenes Maß an seelischer Gesundheit und Reife zu.

Was aber, wenn es sich dabei um ein und denselben Menschen handelt, der sich einmal so und dann wieder so verhält? Dieser Fall, und er ist nicht außergewöhnlich, sondern begegnet uns täglich, zeigt die Grenze der Anwendung unseres Modells der Beschreibung von Dispositionen physischer Stoffe auf die Beschreibung von Verhaltensdispositionen an.

Wir sagen damit nicht, daß die Zuschreibung von Charakterzügen willkürlich ist, sondern daß sie nicht nach der Analogie der Eigenschaften physischer Stoffe aufgefaßt werden kann, deren Einzelzüge wie die Eigenschaften von Wasser kausal eindeutig verknüpft sind. Auf welche Weise aber sind menschliche Verhaltensdispositionen miteinander verknüpft und auf welche Weise verwenden und verknüpfen wir sinnvoll und kohärent psychologische Prädikate?

Die Verhaltensdisposition, vor akut auftretenden Gefahren zu fliehen oder geeignete Maßnahmen der Abwehr vom Aufsuchen eines Verstecks bis zur tätlichen Abwendung der Gefahr oder des feindlichen Angriffs zu ergreifen, nennen wir Furcht. In diesem Sinne ist Furcht eine Disposition, die wir mit allen Lebewesen teilen, die sich auf diese Weise verhalten können. Damit gewinnen wir ein biologisches Modell der Beschreibung von Verhaltensdispositionen, das sich fruchtbar erweist, wenn wir menschliche Charakterzüge anhand dieses Modells klarer hervortreten lassen können. So können wir sagen, daß ein Tier, das wie ein Wiesel oder ein Erdmännchen sich bei dem von ihm beobachteten Herannahen einer Gefahr für Leib und Leben wie dem Anflug eines Uhus oder Adlers in seinen Erdbau flüchtet, sich biologisch angemessen verhält, daß es aber, wenn es sich aus anhaltender Furcht stunden- oder tagelang, auch wenn die Gefahr längst außer Sichtweite ist, nicht mehr aus seinem Versteck hervortraut, sich biologisch nicht angemessen verhält. Auch würden wir von einem Tier, das bei einem Angriff durch einen Räuber sich nicht der angeborenen Fähigkeit tätlicher Gegenwehr bediente, sagen, daß es sich biologisch nicht angemessen verhält und vor lauter Furcht den Mut zum Überlebenskampf eingebüßt hat.

Mit diesem Modell nähern wir uns der psychologischen Beschreibung des Charakterzugs, den wir Furchtsamkeit, Schüchternheit und Mißtrauen nennen und an Menschen beobachten, die schon bei geringfügigen Verstörungen und leichten Stresslagen sich in den geschützten Bau ihrer Wohnung zurückziehen und womöglich tagelang daraus nicht mehr hervortrauen. Allzu furchtsam, schüchtern und sich selbst mißtrauend erscheint uns auch das Verhalten von Menschen, die trotz geringfügiger Störfälle und leichter bis mittelschwerer Anforderungen ihrer Umwelt der ihnen angeborenen oder erworbenen Fähigkeiten tätlicher Gegenwehr vergessen und gleich die Waffen strecken.

Wir bemerken, daß wir mit der psychologischen Beschreibung von Charakterzügen eine Skala möglicher und beobachtbarer Verhaltensneigungen entwerfen, die sowohl das mittlere Spektrum, in dem wir normale Züge eintragen, als auch das untere und obere Spektrum abdeckt, in dem wir abweichende oder krankhafte Züge des Verhaltens eintragen.

Wir haben gesehen, daß wir im alltäglichen Umgang immer wieder auf Menschen treffen, deren Verhalten wir sowohl auf dem mittleren wie den extremen Bereichen der Beschreibungsskala zuordnen können. Wenn jemand zu introvertiertem oder extrovertiertem Verhalten neigt, wenn jemand furchtsam, schüchtern und ängstlich oder mutig, verwegen und übermütig ist, oder jemand in der einen Situation zum Rückzug, in der anderen zu kühnen Ausfällen neigt, er aber im mittleren Skalenbereich des Verhaltens durchschnittliche Werte erreicht, ordnen wir seine Verhaltensdispositionen in der Summe dem Normbereich zu.

Damit gewinnen wir Kriterien für die Zuordnung des abweichenden oder krankhaften Verhaltens gemäß den beiden Hauptklassen der psychischen Erkrankung, der Neurose und der Psychose. Wir sprechen von Neurose, wenn die Zuordnung des Verhaltens zu den extremen Bereichen unserer Skala die Zuordnung zum mittleren oder normalen Bereich nicht überwiegt, und wir sprechen von Psychose, wenn die Zuordnung zu den extremen Bereichen die Zuordnung zum Normbereich überwiegt oder zeitweilig vollständig auslöscht.

Der Neurotiker gleicht dem fiktiven Erdmännchen, das sich beim leisesten Anflug einer vermeintlichen oder wirklichen Gefahr tagelang in seinen Bau zurückzöge. Der Neurotiker hat ein adäquates Realitätsbewußtsein, insofern er die Quelle möglicher Gefahren in der Umwelt verortet, er hat dagegen ein inadäquates Realitätsbewußtsein, insofern er befürchtet, die Gefahr hocke gleichsam auf der Schwelle seiner Wohnungstür, die er deshalb verschlossen läßt. Die Furcht vor dem imaginären Feind absorbiert zeitweilig die Aufmerksamkeit auf mögliche oder wirkliche Gefahren, aber sie verdrängt sie nicht vollständig, denn wenn der Magen grummelt, schleicht der Neurotiker, wenn auch verstohlen um sich blickend, wieder in den Supermarkt.

Der paranoide Psychotiker gleicht dem Maulwurf oder dem Erdtier, das Franz Kafka in seiner genialen (leider unvollendet gebliebenen) letzten Erzählung „Der Bau“ beschreibt. Das Tier hat sich ganz in das unterirdische Labyrinth seines Erdbaus aus tiefen Stollen, Fluchtgängen und Höhlen zurückgezogen, denn es ist besessen von der vermeintlichen Wahrnehmung der immer näher rückenden Geräusche seines unentrinnbaren Feindes (sind es Atemstöße, Getrippel und Getrampel, ist es ein Nagen oder Zischen?), eine Wahrnehmung, die uns wohl nicht zu Unrecht an die Wahnwahrnehmungen der Psychose erinnert. Der Bau des Tieres ist kein Zufluchtsort mehr, sondern selbst der Ort der Bedrohung geworden. Das Gleiche ließe sich von dem Psychotiker sagen, der den Feind gleichsam in sich aufgenommen oder im Bau seiner Seele beherbergt hat, der ihn leibhaft in sich spürt und vernimmt, der ihn in Form schmeichelnd-verführerischer oder häßlich-verhöhnender Stimmen hört. Wir kommen nicht umhin anzunehmen, daß die Zuordnungen zu den Extrembereichen unserer psychologischen Beschreibungsskala im Falle des akuten paranoiden Schubs den Normbereich der Skala überwiegen oder auslöschen.

Wir verwenden zur Verdeutlichung des Gemeinten ein Bild, und zwar das alte Bild für den harmonischen Ausgleich von Natur und Kultur, den Garten, einen Garten mit Rosenbüschen, Lilien, Gladiolen, Dahlien und anderen Blütenpflanzen, gewiß auch mit ordentlich gepflegten Reihen von Bohnen und Kartoffeln sowie Sträuchern und Beeten von allerlei Beeren wie Johannesbeeren und Stachelbeeren oder Erdbeeren; wir vergessen auch nicht, dem Garten am Rande eine naturbelassene Zone des Wildwuchses zu gönnen, in der aus einer Grotte oder einem Brunnen Wasser quillt.

Wir können sagen, daß dieser schöne und fruchtbare Garten sich unter den Händen des Neurotikers im Extremfall zur Monokultur einer Nutzpflanze verwandelt haben wird, wir sehen einen Kartoffelacker oder nichts als eine kurzgeschorene Rasenfläche vor uns, die Zone der Wildnis ist mitsamt der befruchtenden Quelle beseitigt. Dagegen ist unser Garten unter dem Walten des Psychotikers im Extremfall vollständig verwildert, da wachsen wilde Brombeerbüsche inmitten von Disteln, Knöterich, Ampfer und Wicken, die schönen Zierblumen sind erstickt, doch unter all dem wilden und dornigen Gestrüpp und Dickicht vernehmen wir, wenn es abends still wird, das Glucksen und Plauschen der alten Quelle.

Wir sehen, inwiefern die Rede davon sinnvoll ist, daß der Neurotiker nur teil- und streckenweise das Realitätsbewußtsein eingebüßt hat: In der Regel ist er trotz all seiner Zwänge, Hemmungen und Ängste in der Lage, sein Leben zu fristen und wenn auch auf verkümmertem Wirkungsgrad den kommunikativen Regelkreis mit seiner familiären und beruflichen Umwelt zu schließen. Dagegen ist der Psychotiker in akuten Krankheitsepisoden und ohne Einsatz medikamentöser Hilfen oft nicht mehr in der Lage, ein eigenständiges Leben zu führen, seine Vitalität ist vom Gestrüpp des Wahns, der Depression, der Apathie und der Verflachung von Sprache, Fühlen und Denken wie unterm Bann; immerhin zeigt das Bild auch den Grund zur Hoffnung, selbst bei völliger Überwucherung der Person: Die Lebensquelle ist nicht versiegt.

Wir weisen ausdrücklich darauf hin, daß der teilweise oder totale Verlust des Realitätsbewußtseins bei der Neurose und Psychose nicht den Verlust des dem Neurotiker und Psychotiker zuzuschreibenden Status der vernunftfähigen Person impliziert, denn der Kranke bleibt dieselbe Person, die er war oder wieder zu sein fähig ist, bevor er krank wurde und nachdem er geheilt sein wird.

Die Vernunft versteht sich selbst und das, was wir als unvernünftig oder widervernünftig anhand der Beschreibung des menschlichen Verhaltens und insbesondere des Verhaltens des psychisch Kranken zu bezeichnen pflegen. Denn auch das unvernünftige Verhalten des seelisch Kranken entbehrt nicht des Sinnes, den wir verstehen und aus dem Tun und Sagen des Patienten aufschlüsseln können. Da wir wissen, was Furcht ist, können wir Modelle krankhafter und paranoider Furcht entwerfen, die uns vor den Wahngebilden der paranoiden Psychose nicht gänzlich verstummen lassen.

Wir sahen bei der Betrachtung des Beschreibungsmodells der Verhaltensdispositionen physischer Stoffe, daß ihre Verbindung kausal determiniert ist. Wir können nun sehen, daß die Verbindung und Verflechtung der menschlichen Verhaltensdispositionen nicht kausal, sondern intentional oder vom Kontext sinnhaften Tuns und Sagens bestimmt ist. Der Kontext des Tuns und Sagens eines jeden Menschen aber ist seine ganze Geschichte in der Interaktion mit der Umwelt und anderen Menschen, von der Geburt bis zum heutigen Tag. Wer wähnt, von feindlichen Mächten mittels des Fernsehers oder des Internets beobachtet oder kontrolliert zu werden, mag sich unvernünftig verhalten, aber wir verstehen den Sinn seiner Äußerungen und des ihnen entsprechenden Verhaltens, denn wir wissen um die Quellen und Ausmaße der menschlichen Furcht und können ihre Ausartung zu einer Größe verstehen, die alles Menschenmögliche übersteigt. Warum die Furcht des Kranken das Normalmaß übersteigt, verstehen wir, wenn wir die Quelle der bösen Mächte, von denen er sich heimgesucht fühlt, in seiner Lebensgeschichte aufspüren. Zumeist sind es die ihm nahe- und nächststehenden Personen, an deren vermeintlichen oder wirklichen übergriffigen oder feindseligen Interaktionen seine Fähigkeiten zu Flucht und Abwehr versagt haben. Die Therapie schließt neben dieser Aufdeckung ein, dem Patienten die rudimentären oder verkümmerten Fähigkeiten der Selbstwehr und Selbstachtung zu stärken und zu ergänzen.

Insbesondere der psychotisch Erkrankte klammert sich mit seiner Krankheit an die reale oder symbolische Instanz, deren bösartigem Wirken er seinen Zustand zuschreibt. Wenn er glaubt, daß die Mutter oder der Vater sein Leid durch ihr Fehlverhalten verursacht haben, mag ein Körnchen Wahrheit berührt sein, dennoch ist seine Position zur realen oder symbolischen Elterninstanz ein Teil der Krankheit, die es aufzulösen gilt, damit die Krankheit sich auflöst. So ist, um an dies fatale Kapitel der Psychiatriegeschichte zu erinnern, die Dämonisierung der Mutter als der schizophrenogenen Instanz par excellence recht besehen ein Teil der Krankheit und nicht ein vernünftiger Aufschluß zu ihrer Erklärung, Auflösung und Heilung.

Wenn wir dem psychotischen Patienten eine Frage stellen, kann es sein, daß er nur stockend antwortet und wir ihm die Worte aus der Nase ziehen müssen. Wir täten unrecht, ihm Schüchternheit oder Verlegenheit, Ängstlichkeit oder Scheu zu unterstellen, vielmehr leidet er unter einer organisch mitbedingten Form der Schwäche der Übertragung von Willensimpulsen, der sogenannten Abulie. Diese Erfahrung gibt uns einen ersten Hinweis auf die Notwendigkeit, bei unserer Klassifikation der Verhaltensweisen der Mitmenschen oder unseren psychologischen Beschreibungen Vorsicht walten zu lassen.

Wer uns schüchtern oder ängstlich erscheint, weil er nicht prompt und impulsiv auf unsere Interaktionen reagiert, kann durchaus schüchtern und ängstlich sein, er könnte aber auch besonnen und abgeklärt sein oder jemand, dessen Aufmerksamkeit anderweitig beschäftigt und von unserer Gegenwart abgelenkt ist. Wer uns vorlaut und lästerlich angeht, kaum daß wir seine Bekanntschaft gemacht haben, erscheint uns frech und dreist und keineswegs schüchtern und ängstlich; und dennoch lehrt uns die psychologische Erfahrung, daß manchmal ein demonstratives Verhalten vorgeschützt wird, um die Präsenz seines Gegenteils zu verbergen. Sowohl der laut und plump auftretende Mensch als auch jemand, der die ganze Zeit schwieg, an der Bar aber nach dem zweiten Glas obszöne Witze erzählt oder vom tragischen Tod seines Bruders berichtet, kann seine tief verwurzelte und quälende Schüchternheit verbergen.

Mit solchen Beispielen komplexer oder komplementär verwobener Gemütsregungen werden wir davor gewarnt, angesichts einer bestimmten Situation oder aufgrund eines Berichts über eine bestimmte Situation von dem betreffenden Menschen zu urteilen, weil er so gehandelt und sich so verhalten hat, sei er so.

Wir brauchen demnach eine zeitlich lange und im Umgang intensive Kommunikation mit einem anderen Menschen, um allmählich seine Charakterzüge und Verhaltensdispositionen kennenzulernen. Dabei mag es uns passieren, daß wir am ersten starken Eindruck haften bleiben und unsere psychologische Beschreibung ziemlich eingleisig und einsinnig ausfällt, wie wenn wir einem Menschen aufgrund eines lärmenden und berauschten Auftritts Eigenschaften zuschreiben, die das Gegenteil von schüchtern, scheu oder ängstlich sind, bis wir eines Tages angesichts einer Konfrontation des Menschen mit seinem cholerischen Vermieter oder seiner spöttischen Schwester feststellen müssen, wie wenig kühn und selbstbewußt er auftritt und zu sein scheint. Wir erkennen die Komplementarität psychologischer Prädikate, wenn wir sehen, daß der schüchterne, scheue und ängstliche Mensch durchaus laut, plump und arrogant auftreten oder sich beherzt zeigen kann, so wie der arrogante Schnösel bei passender Gelegenheit sein Hasenherz zu offenbaren vermag.

Wir betrachten und erkunden im Folgenden die Eigenart psychologischer Prädikate und die Reichweite psychologischer Beschreibungen im Vergleich mit der Eigenart deskriptiver und kognitiver Prädikate.

Wenn der Ball das Fenster und das zerbrechliche Glas getroffen hat, ist das Glas zerbrochen. Wenn dem jähzornigen Kerl die Hutschnur platzt, bekommt er einen Wutanfall und ist zornig. Wenn das schüchterne Kind dem Fremden die Hand geben soll, versteckt es sich hinter der Mutter und schämt sich oder ist beschämt. Wenn vor der ängstlichen Frau auf dem einsamen Pfad ein Schatten auftaucht, hat sie Angst oder ist erschrocken.

Wir sehen anhand der Beispielsätze, daß deskriptive Prädikate wie „zerbrochen“, „zornig“, „beschämt“ und „erschrocken“ den Zustand als Faktum beschreiben, den die zugehörigen Dispositionsprädikate „zerbrechlich“, „jähzornig“, „schüchtern“ und „ängstlich“ als Möglichkeit bezeichnen. Die Disposition betrifft einen mehr oder weniger lang anhaltenden Zustand, das Faktum ist ein Ereignis. Wir gehen davon aus, daß dieses Glas zerbrechlich ist, weil wir wissen, daß es eine wesentliche Eigenschaft von Gläsern ist, zerbrechlich zu sein, oder daß alles Glas zerbrechlich ist. Definitiv wissen wir, daß dieses Glas zerbrechlich war, wenn es zerbrochen ist.

Wir nehmen an, daß ein Mensch schüchtern ist, wenn wir beobachtet haben, daß er sich in Situationen, die auf die meisten nicht beschämend wirken, geschämt hat, ebenso wie wir annehmen, einer sei kühn oder mutig oder tapfer, wenn wir beobachtet haben, daß er mehrfach Herausforderungen wie die Besteigung eines hohen Berggipfels oder die Rettung eines Kindes aus einem brennenden Haus oder die Pflege seiner demenzkranken Mutter angenommen und bewältigt hat, vor der die meisten versagen oder die Flinte ins Korn werfen.

Wir bemerken, daß in einigen Fällen der Eintritt der Möglichkeit, den der Dispositionsbegriff enthält, den Stoff oder Gegenstand irreversibel modifiziert wie das zerbrochene Glas oder der in Wasser aufgelöste Zucker oder der verstorbene Mensch, eine Zustandsveränderung, die unter hier herrschenden normalen Bedingungen nicht rückgängig zu machen ist. Dagegen bezeichnen psychologische Prädikate wie schüchtern oder dreist Dispositionen, die den Menschen, der die entsprechende Eigenschaft exemplifiziert, indem er verlegen oder unverschämt wird, nicht grundlegend modifizieren, sondern im Gegenteil charakterisieren.

Betrachten und vergleichen wir die Eigenart deskriptiver Prädikate im Vergleich zu dispositionellen Prädikaten und psychologischen Eigenschaften. Wenn die Sonne scheint, ist der Himmel blau. Wenn es regnet, wird die Straße naß. Wenn das Kind ein Überraschungsei bekommt, freut es sich und ist fröhlich. Wenn dem Kind ein Geschwister das Ei stiehlt, ist es traurig. Wer unfähig ist, ein Buch ohne Zuhilfenahme einer Brille zu lesen, ist fehlsichtig. Wer ständig „Wie bitte?“ fragt, auch wenn wir ihm den Satz immer wieder ins Ohr geschrien haben, ist schwerhörig.

Deskriptive Prädikate wie „blau“, „naß, „fröhlich“, „traurig“, „fehlsichtig“ und „schwerhörig“ verwenden wir aufgrund von Wahrnehmungen und Beobachtungen, die den Kontext ihres korrekten Gebrauchs eindeutig festlegen. Im Gegensatz zu psychologischen Prädikaten wie schüchtern und ängstlich, kühn und dreist sind deskriptive Prädikate wie fröhlich, traurig, fehlsichtig oder schwerhörig in ihrem Gebrauch klar definiert und eindeutig anwendbar. Denn der unbeschwert lachende Mensch verbirgt hinter seinem Lachen keine Trauer und der vor Verzweiflung weinende Mensch hinter seinen Tränen keine Freude. Der Fehlsichtige wird uns nicht mit der Nachricht überraschen, Meister im Bogenschießen geworden zu sein, und der Schwerhörige nicht mit der Nachricht, das Gras wachsen gehört zu haben. Während wir bei dem vorlaut, plump und dreist aufgetretenen Menschen endlich dahinterkommen können, daß er eigentlich schüchtern und ängstlich ist. Wir haben diese Eigentümlichkeit psychologischer Prädikate bereits als ihre Komplementarität kennengelernt.

Kurzsichtige oder schwerhörige Menschen können freundlich oder grantig, furchtsam oder kühn, schüchtern oder dreist sein, was uns darauf hinweist, daß es keinen kausalen oder intentionalen Zusammenhang zwischen deskriptiven und psychologischen Eigenschaften gib oder daß wir uns bei der psychologischen Beschreibung nicht an der Beschreibung mittels deskriptiver Begriffe orientieren können. Insbesondere ermangelt die Verwendung deskriptiver Prädikate der Eigenart der Komplementarität, wie wir sie von der Verwendung psychologischer Prädikate kennen. Die gleichzeitige Zuschreibung widersprüchlicher deskriptiver Prädikate zu demselben Gegenstand ist nicht korrekt, weil logisch inkonsistent, denn anzunehmen, der Himmel sei nicht blau, wenn die Sonne scheint, oder die Straße werde nicht naß, wenn es regnet, ist Unsinn.

Auch kognitive Prädikate beschreiben Verhaltensdispositionen, doch anders als psychologische Prädikate wie schüchtern oder ängstlich beziehen sie sich nicht auf einen psychischen Modus des Erlebens und Gebarens oder auf einen Charakterzug, sondern auf eine Fähigkeit oder ein Können. So halten wir einen Menschen, der nicht einsieht, daß Sokrates sterblich ist, wenn gilt, daß alle Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch ist, für begriffsstutzig. Ein kluger oder intelligenter Mensch ist in der Lage, die bessere unter mehreren Optionen zu wählen oder vor einem Hindernis einen Umweg einzuleiten oder vor dem zweiten Schritt den ersten zu tun. Aber kann er, indem er so tut, als ob er die bessere unter mehreren Optionen wählt, vortäuschen, intelligent zu sein, wie ein eigentlich schüchterner Mensch vortäuschen kann, ein Draufgänger zu sein, oder ein vorlaut und arrogant auftretender Schnösel verbergen kann, daß er innerlich vor Angst zergeht oder schlicht die Hosen voll hat? Der Dumme kann nicht vortäuschen, klug zu sein, denn um dies tun zu können, müßte er es sein. Der begriffsstutzige Mensch wird uns nicht mit der Nachricht überraschen, Weltmeister im Schach geworden zu sein oder die Fields-Medaille verliehen bekommen zu haben. Doch der großsprecherische Schnösel verblüfft uns, wenn wir erfahren, er habe schüchtern und sanft die Hand seiner im Sterben liegenden Mutter gehalten und geküßt.

Der dumme Mensch versagt bei der Lösung einfacher mathematischer Aufgaben oder der Einsicht in die logische Form des Modus ponens. Wir können den Menschen, der die Verhaltensdisposition aufweist, bei störenden oder hemmenden Umweltereignissen aufbrausend und aggressiv zu reagieren, in seiner Neigung bestärken, wenn wir ihn nötigen, täglich mehrere Stunden Videospiele mit Tötungssimulationen zu spielen. Ebenso könnten wir bei unserer begriffsstutzigen Versuchsperson mittels der täglichen hochdosierten Verabreichung des Intelligenzpulvers namens „Gnosoformin“ die Neigung erwecken oder einpflanzen, Schach zu spielen oder den Satz des Pythagoras korrekt zu beweisen. Schach zu spielen oder den Satz des Pythagoras zu beweisen, setzt aber ein Können oder eine Fähigkeit voraus, während freundlich oder aggressiv, ängstlich oder kühn zu sein, kein Können und keine Fähigkeit darstellt, sondern auf ein psychologisches Muster oder einen Charakterzug verweist. Es wäre seltsam zu sagen, die Frau ermangelte in der Situation, als ein fremder Schatten ihr über den einsamen Weg trat, der Fähigkeit, ängstlich oder kühn zu sein. Dagegen ist es sinnvoll zu sagen, der Mann hatte die Fähigkeit, mit mehreren Teilnehmern des Turniers gleichzeitig Schach zu spielen, und es ist ebenso sinnvoll zu sagen, der Mann wurde trotz seiner wuchtigen Physis und großen Lebenserfahrung schüchtern und verlegen, als er der Frau, in die er sich verliebt hatte, beim ersten Rendezvous zum Abschied die Hand reichte, ja es ist sinnvoll zu sagen, daß der selbstbewußte, kühne und keineswegs ängstliche Mann schüchtern wurde, als er sich zum ersten Mal mit der Frau traf, in die er sich verliebt hatte.

Beachten wir auch den Zusammenhang von Physiognomie und Psychologie. Ein dicker, runder, wuchtiger, wülstiger Kerl wie Falstaff mit tiefer Baßstimme und kleinen verschmitzten Augen wird sich schwerlich schüchtern und ängstlich ducken oder verkriechen, wenn das Weib lockt, der Wein aus den Krügen schäumt und der Geiger seine Sangeslust kitzelt. Wenn wir erfahren, daß Falstaff depressiv geworden ist, wissen wir, daß wir mit unseren psychologischen Beschreibungen keinen Blumentopf mehr gewinnen können. Von einem schmalköpfigen, kurzsichtigen Schlaks mit Geheimratsecken und storchenstaksendem Gang können wir annehmen, daß er beim zweiten Bier tiefsinnig ins Glas schaut und sich lieber in den Ranken der Syntax als in den Haaren einer Frau verstrickt.

Eine gute Übung finden wir anhand der Charakterisierung der homerischen Helden, deren physiognomische Realität durchaus mit der Zuordnung psychologischer Eigenschaften übereinstimmt. Der tapfere und heroische Achilleus ist der strahlend blonde, helläugige, musisch begabte Athlet, der verschmitzte, clevere und grausame Odysseus ist stark und zäh, aber auch hellhörig, feinnervig und hellsichtig. Der tumbe Hau-drauf-Aias ist zwar bärenstark, aber auch schwerfällig und dickfellig. Weitere Beschreibungsübungen finden sich zuhauf bei den alten Griechen, so bei der vielsagenden Typologie ihrer Götter und Göttinnen, nebst Heroen, Nymphen, Najaden und Silenen. Man beäuge scharf die heroische Reihe der Büsten und Porträts der athenischen Staatslenker, Philosophen und Dichter und vergleiche sie mit dem, was ihre und die Schriften anderer zu ihrer Psychologie beitragen!

Der antike Feinsinn hat die Komplementarität psychologischer Eigenschaften zum Stilmittel zu erheben gewußt. So wird der düpierte Muskel-Heros der Ilias von Homer als zartfühlender Musensohn und Sänger trauriger Weisen geschildert, der tumbe Aias von Sophokles als großer Dulder eines harten Fatums ins Zentrum einer Tragödie gerückt. Horaz besingt die Quelle des Lebens, die rot wird von Opferblut und weiß schäumt von den der Muse hingestreuten Blüten.

Wenn Hänschen laufen gelernt oder seine erste gute Note in Mathe von der Schule eingeheimst hat, ist er zu Recht stolz auf die erbrachte Leistung. Wenn allerdings der schöne Hannes, der mit dem getönten Haar und dem wehenden Schal, mit dem Sportcoupé vor seine Stammkneipe fährt und dreimal hupt, zum Zeichen, daß die busenschöne Bardame schon einmal beginnen möge, seinen Lieblingscocktail zu mixen, stehen wir nicht an, sein Gebaren für arrogant und ihn selbst für einen eitlen Schnösel zu halten. Denn besondere Verdienste, die seinen spektakulären Auftritt rechtfertigten, kann er nicht vorweisen – es sei denn den Scheck, den sein alter Herr ihm jeden Monat rüberschiebt.

Stolz und Demut, Arroganz und Bescheidenheit, aber auch Hochmut und Verzweiflung sind Haltungen, die sich aus der Urtatsache der menschlichen Existenz, ein Selbstwissen zu haben und ein Selbst zu sein, herleiten. Denn diese Haltungen drücken in eigentümlicher Beziehungsschleife sowohl ein Verhältnis zu sich selbst wie ein entsprechendes Verhältnis zu anderen Menschen aus, die sich auf reziproke Weise als Lebewesen zu sich selbst und zu den anderen verhalten.

Exemplifizieren wir dies an der arroganten Haltung unseres eitlen Schnösels, der den unterlegenen und verkümmerten Teil seiner selbst hinter der Fassade scheinbarer Größe, die in Wahrheit Großtuerei ist, verbirgt. Mit seiner Großsprecherei und Selbstgefälligkeit reizt er die Mitmenschen, gegen ihn Stellung zu beziehen, was wiederum seine Eitelkeit ankratzt und ihn zu neuen Aufschwüngen prahlerischer Selbstüberhöhung anstachelt. Diese Schleife fataler Selbstbezüglichkeiten schraubt sich immer weiter, bis das falsche Selbstbild unseres Hannes eines Tages wie ein praller Luftballon platzt, es braucht nur eine spitze Bemerkung der erwähnten busenschönen Bardame, in die er sich verliebt hat, ohne es ihr oder sogar sich selbst eingestehen zu können.

Diese selbstbezüglichen Haltungen sind gewiß mit den schon bekannten Charakterzügen und Verhaltensdispositionen verknüpft, wie der Neigung des Arroganten, schon bei geringfügigen Einschränkungen und Hemmungen seiner Selbstdarstellung aufzubrausen, oder der Neigung des Bescheidenen und Demütigen, selbst über eklatante Behinderungen seiner Lebensbahn oder über Beleidigungen seiner Person still und ohne Gegenwehr hinwegzusehen, oder mit der Neigung des Verzweifelten und Verbitterten, sogar Enttäuschungen seiner Mitmenschen oder tragische Ereignisse des Weltlaufs als Negativposten auf seiner Lebensbilanz zu verzeichnen und darüber sein Lamento anzustimmen. Aber diese Haltungen sind auf solche Verhaltensdispositionen nicht reduzierbar.

Wie Schüchternheit und Dreistigkeit, Furcht und Kühnheit sind selbstbezügliche Haltungen gleichsam komplementär verschränkt. Die eine kann der Schatten der anderen sein, die eine kann auf dem Grund der anderen üppig gedeihen oder an ihrem Stamm parasitär blühen. Der arrogante Schnösel ist innerlich ausgebrannt und leer, er hat seinen Lebenstraum aufgrund einer versagenden und sein Selbstgefühl verletzenden erotischen Erfahrung, einer Demütigung vor dem Auditorium der universitären Examinatoren oder vor den Schranken des Gerichts weggeworfen, jetzt mimt er kompensatorisch den großmäuligen Weiberhelden, den Alleswisser oder den wilden Abenteuer, der keine Grenzen kennt. Der scheinbar Demütige ist in Wahrheit vom Gefühl der Ohnmacht besessen und zerfressen; daß er keine echte Selbstüberwindung errungen hat, zeigt sich darin, daß er bei jeder Gelegenheit, wenn Rivalen und Konkurrenten ihre Nase vorstrecken, über die Unbotmäßigkeit der Jugend herzieht oder die Ambitionierten mit Moralpredigten kleinhalten will.

Natürlich gibt es stolze und selbstbewußte Menschen, die frei von Ressentiments sind und neben sich anderen den Weg zu ihrer Lebensfülle und Lebenserfüllung gönnen. Natürlich gibt es bescheidene und demütige Menschen, die sich aus Einsicht in ihre Schuldverstrickungen diejenigen zu begütigen verstehen, die sie zunächst mit Spott und Hohn überschüttet haben.

Ähnlich wie bei den psychischen Eigenschaften der Ängstlichkeit und Furchtsamkeit bedarf es eines intensiven Austausches und gehöriger Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, um die Spreu vom Weizen trennen und echte und authentische selbstbezügliche Haltungen von unechten und hybriden unterscheiden zu können.

Wir finden in Haltungen wie der Ehrfurcht und der Andacht Haltungstypen, die wie der Stolz und die Demut, der Hochmut und die Verzweiflung einen unmittelbaren Bezug zur Tatsache haben, daß Menschen ihrer selbst bewußte Lebewesen sind. Bei der Ehrfurcht und der Andacht und ähnlichen religiösen Haltungen kommt zum Selbstbezug allerdings der Bezug zu einer als transzendent geglaubten Instanz hinzu, die wir das Heilige oder Göttliche nennen. Auch religiöse Haltungen verwurzeln sich in Verhaltensweisen und gefühlsgetragenen Handlungen, den Riten und Zeremonien. Natürlich kann man rituelle Verhaltensweisen wie das Niederknien vor dem heiligen Bild oder die Gebetshaltung ohne innere Teilnahme nachäffen, sodaß wir Frömmigkeit und religiöse Überzeugung nicht durch einfache Beobachtung konstatieren können, wie wir dies in den alltäglichen Erscheinungen gefühlsgetragener Handlungen tun: Denn in unseren alltäglichen Interaktionen wirken rein mimetische Farcen wie falsche Tränen oder ein geheucheltes Beben und Zittern vor Furcht nicht einmal bei trainierten Schauspielern überzeugend.

Religiöse Haltungen sind auch nicht wie Stolz und Demut komplementär ineinander zu spiegeln und zu verschränken. Wer sich zur Andacht nicht versteht, ist schlicht nicht fromm oder religiös, er kann dadurch, daß er nicht andächtig ist, wenn er in einem Gottesdienst gähnt, nicht einen komplementären Gegensinn zur Andacht zur Geltung bringen.

Wenn wir religiöse Haltungen nicht mittels der Beobachtung von Verhaltensdispositionen beschreiben können, denn nicht jeder Mensch ist in der Lage, Ehrfurcht oder Andacht in der Umgebung des Heiligen oder vor einem heiligen Bild zu empfinden, es sei denn er ist ein gläubiger und also zur Ehrfurcht und Andacht williger Mensch, müssen wir eingestehen, daß wir beim Verständnis religiöser Haltungen an die Grenzen der psychologischen Beschreibung geraten.

Comments are closed.

Top