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Wunde, die im Traume klopft

02.08.2025

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Sentimentalität und Kitsch sind hilflose, aussichtslose Versuche, den anthropologischen Riß zu kitten.

Heilsversprechen, mögen sie noch so aberwitzig und obskur sein, wirken, weil die angeborene Wunde, alias Erbsünde, unverheilt in uns weiterschwärt.

Wer wie alle die Versuchung in sich trägt, doch drängender, schmerzlicher fühlt, rennt dagegen an und gerät immer weiter in dürres, verkarstetes Gelände.

Beim späten Schubert, aber vor allem in Mahlers Symphonien scheinen wir der Versuchung der Heilung durch Kitsch erstmals in Werken bedeutender Komponisten zu begegnen.

Die Wunde ist nur scheinbar verheilt; sie hat eine zarte Kruste gebildet, die bei der leisesten Berührung wieder aufbricht.

Die das Moment des tremendum aus dem Bilde Gottes streichen oder abdrängen, können der Versuchung nicht widerstehen, das Gegen-Moment, das fascinosum, zu sentimentalisieren, zu verniedlichen, zu versüßen.

Die Verkitschung der Figur des Armen, von den Barfüßern bis zu den Bolschewiken.

Die Verkennung der Grausamkeit der Natur, vom Sonnentau bis zur Gottesanbeterin, findet sich naturgemäß in kitschigen Idyllen; doch die frühen Stilleben der Holländer und Franzosen sind davon noch frei.

Freilich, Grausamkeit ist unsere Projektion; die Natur bietet unserem Maßstab keinen festen Halt.

Poetische Schönheit und metaphysische Dummheit gehen manchmal wie Zwillingsgeschwister Hand in Hand, Wange an Wange, wie im Sonnengesang des Franz von Assisi.

Negativitäts- oder saurer Kitsch: Adornos selbstquälerische Beschwörung des Nichtidentischen, das „Warten auf Godot“.

Erst kommt der heiter-fidele Taugenichts Eichendorffs, dann der einsam-düstere Wanderer Schuberts und Caspar David Friedrichs, schließlich die Vagabunden und Abfalleimerbewohner Becketts.

Der ästhetisch unsichere Kitsch-Künstler formt Gebilde, die uns auffordernd, schmeichelnd und Beifall heischend zublinzeln.

Die großen Werke sind gleichsam muschelartig in sich und vor den brausenden Fluten der Umwelt geschlossen; sie aufzubrechen, um die Perle echter Bedeutung darin zu entdecken, heißt sie zerstören.

Das Kleine, Feine, Anmutige schützt klassischer Formwille vor sentimentaler Verniedlichung; so der Knabe Dionysos auf dem Arm der Hermesstatue des Praxiteles.

Falsche Liebe äfft die wahre, bis sie vor dem verlangten Liebesopfer die Maske fallen läßt.

Gesetz von der Inflation des künstlerischen Werts: Wenn man mit billigeren Mitteln, die weniger Mühe und Hingabe verlangen, den gleichen Effekt erzielen kann, den Beifall der Menge, sinkt die Kunst nach und nach im Wert.

Bestimmt einzig noch die Quote den Wert des Dargebotenen und Mitgeteilten, ist man in der medialen Gegenwart angelangt.

Der kalte Verführer ruft die gleichen Gefühle hervor wie der heiße Liebhaber, bis eine falsche Träne ihren Argwohn erweckt.

Post coitum triste – ein kaum bewußter Nachhall der Erbsünde.

Der gefallene Mensch liest im Leben wie im Boulevardblatt nur die sensationellen Schlagzeilen.

Wie Touristen des Lebens sammeln wir nur Eindrücke, die uns schon im Werbekatalog als ikonisch angepriesen wurden.

Unsere Erinnerungen sind wie Schatten, die im Labyrinth der Seele blind aneinander vorbeihasten.

Wir sehnen uns nach dem Schmerz der wiederaufgeplatzten Wunde, daß sie uns die Wirklichkeit echten Empfindens zurückgebe.

Die seelisch Kranken, die sich stechen und quälen, martern und an die Grenzen des Erträglichen anrennen, verdienen unsere Bewunderung im Gegensatz zu den Schneeflockenexistenzen in ihren gut von aller äußeren Unbill abgedichteten Blasen.

Wo die Ursünde sich schicksalhaft in Leib und Leben des Einzelnen manifestiert, vollzieht sich wohl ein uns nicht einsehbarer lebensgeschichtlicher Plan, den fromme Einfalt an den Kehren und Wegwendungen der Vorsehung glaubte dingfest machen zu können.

Das Ende der göttlichen Funktion der Vorsehung vollzieht sich in der Allmacht der mehr und mehr unsere Lebensregungen bestimmenden KI-Systeme.

Wie klingt der Gesang des Nachtigallenmännchen im Ohr des nachbarlichen Weibchens, wie im Ohr des lauernden Konkurrenten? – Aber, es ist dieselbe Melodie.

Dasselbe Wort kann Gegensätzliches meinen, wie wir anhand der Zweideutigkeit gewisser Urworte belehrt wurden.

Wir neigen eitel, hochmütig oder selbstvergessen dazu, den echten Schmerz mittels eines fingierten, vorgespiegelten zu übertünchen.

Die gegenderte Sprache mutet wie die entstellenden Flecken auf der Haut des Geschlechtskranken an.

Knipst du das Licht in der Küche an, flüchten die gemeinen Schaben jählings in ihren Unterschlupf, nicht so das Ungeziefer gemeiner Wortverdrehungen in der ideologisch verseuchten Sprache.

Nur der begnadete Asket, den es in der Wüste der Sprache nach reinem Wasser verlangt, hat die Kraft, das ihm vom Dämon dargereichte faulige zu verschmähen.

Was sie als Manna anpreisen, sind vergiftete Baisers aus der Küche Satans.

Die Augiasställe der Sprache stinken zum Himmel; kein Herakles weit und breit.

Wunde, die im Traume klopft; unerhörte Rhythmen dichterischer Sprache.

Der Boden ob nun der Moral oder der Anti-Moral ist schlammig, sodaß der Versfuß gleich einbricht.

Der Aufstand der Avantgarde ist im neuen Spießertum steriler Verweigerung erstickt.

Aus Angst vor dem schönen Klang und dem reinen Ton begannen sie zu krächzen und zu würgen.

Auf daß nicht unverhofft eine Knospe aus der Leinwand breche, versiegelt man sie mit einem monochromen Lack.

Vom Tode läßt sich nichts sagen, außer daß er alle Kriterien des Sagbaren tilgt.

Mit dem feingesponnenen Netz der Chorlyrik eines Sophokles oder der horazischen Ode lassen sich selbst kleine, unscheinbare Falter des Gefühls einfangen.

Zerknüllte Laken – Zeugnis sexueller Ekstase oder der Krämpfe eines Sterbenden. Wer vermag es zu unterscheiden?

Geknebelter Mund ist ihnen Stille, Würgen des Überdrusses Gesang.

Arme Schlucker, die im Abfall wühlen, sollen wir bedauern; Schreiberlinge, die im Müll der öffentlichen Meinung nach Verwertbarem suchen, dürfen wir verachten.

 

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