Wer zum Guten zwingt, sät das wahre Übel
Wem du zu helfen geneigt bist, ist in dein Belieben gestellt – es sei denn es handelt sich um eine Hilfeleistung im nahen Umfeld, die zu verweigern und zu unterlassen dir das Gesetz abspricht. In diesem Falle handelt es sich also nicht um eine moralisches Gebot, sondern eine gesetzliche Verpflichtung. Moralisch würdest du handeln, wäre dir das Gesetz gegen die Verweigerung persönlicher Hilfeleistung im unmittelbaren Erfahrungsumfeld unbekannt und fühltest du dich aus eigenem Antrieb verpflichtet, dem Unfallopfer oder dem Infarktopfer oder dem Opfer eines Überfalls am Straßenrand Beistand zu leisten.
Der Gesetzgeber hat also aus weiser Voraussicht die gebotene Hilfeleistung auf Hilfsbedürftige im nächsten persönlichen Erlebensumfeld beschränkt. Müssen wir uns aber nicht über den engen Horizont der Legalität moralisch aufgerufen und verpflichtet fühlen, Hilfsbedürftigen außerhalb unseres Erfahrungsumfeldes, von denen wir vom Hörensagen oder durch die Medien erfahren, Beistand und tätige Hilfe zu leisten? Entgegen aller gutgläubig-sentimentalen General-Meinung, wie sie aus Zeitungen und Gazetten, Kanzeln und Lehrstühlen widerschallt, ist dem nicht so, das heißt, es besteht in diesem Falle keine grundsätzliche moralische Verpflichtung der Hilfeleistung.
Wenn du mir 100 Euro zu festgesetzten Bedingungen von Zeitpunkt und Ort der Rückgabe geliehen hast, bin ich verpflichtet, dir das Geld pünktlich zurückzuzahlen, und du hast einen gesetzlich verbrieften Anspruch darauf, das Geld zurückzuerhalten. Wir sehen, dass im Falle von Obligationen und kontraktuellen Vereinbarungen der Verpflichtung der Rückgabe und Schuldentilgung auf der einen Seite ein Anspruch auf das durch die Obligation und den Vertrag definierte Gut oder den dadurch definierten materiellen oder nichtmateriellen Wert auf der anderen Seite entspricht.
Wir können den Sachverhalt auch so darstellen, dass wir sagen: Dadurch, dass du mir den Betrag geliehen hast, entstand zwischen dir und mir ein institutioneller Kontext, in dem du einen Anspruch gegen mich geltend machen kannst und ich dir eine Summe Geldes schulde. Wir sagen, Schuldtitel und Anspruch sind im Kontext der Kreditvergabe stets äquivalent. Du hättest mir den Betrag sicher nicht geliehen, wenn du davon hättest ausgehen können, dass ich weder willens noch in der Lage bin, dir das Geld zurückzuzahlen. Es ist deshalb dein gutes Recht, bevor du dein sauer verdientes oder leicht erspieltes Geld verleihst, dir Auskünfte über die Kreditwürdigkeit, Leistungsfähigkeit und Leistungsmoral des Kreditnehmers bei ihm selbst und bei Dritten zu verschaffen. Sollte sich herausstellen, dass ich wenig kreditwürdig bin, weil ich den langen Tag Gott einen lieben Mann sein lasse oder frech eingeheimstes Geld noch schneller zum Fenster hinauswerfe, ja nicht einmal Anstalten mache, mir eine ordentliche Arbeit zu besorgen, um meinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, wirst du dich rechtens hüten, mir Geld zu leihen. Ja, wenn sich herausstellt, dass ich dir in Bezug auf meine Kreditwürdigkeit unwahre Auskünfte erteilt habe oder erteilen ließ, verfällt der Kredit unverzüglich und ich bin das Geld zuzüglich aller anfallenden Zinsen und Zinseszinsen augenblicklich los.
Das ist bei moralischen Verpflichtungen anders: Wenn ich weiß, dass dir 100 Euro fehlen, sei es dazu, dir die zum Überleben notwendigen Lebensmittel zu besorgen, geschweige denn dazu, eine Nacht im Rotlichtmilieu zu vergeuden, bin ich allein aufgrund meines Wissens um deine Notlage oder deinen Wunsch nicht verpflichtet, dir das Geld zu leihen oder gar zu schenken, noch hast du einen irgend legitimen Anspruch darauf, dass ich eben diese Verpflichtung mir zu eigen machte. Ob ich dir helfe, ist ganz in mein Belieben gestellt – eine Sache der Freiwilligkeit und des freien Willens. Es könnte ja sein, dass ich oder ein mir näher als du Stehender des Geldes ebenso nötig bedürfte wie du, dann würde ich auch bei einiger Geneigtheit, dir zu helfen, aufgrund des moralischen Vorrangs der Eigenliebe oder der echten Nächstenliebe (die ja meinen mir Nahe- und Nächststehenden betrifft) in meiner Entscheidung präokkupiert. Dieser moralische Sachverhalt gilt naturgemäß a fortiori in allen Fällen, in denen ich mit einem Hilfsbedürftigen nicht wie mit dir in unmittelbarer Bekanntschaft oder gar Freundschaft verbunden bin.
Zu glauben, dass meine moralische Verpflichtung zur Hilfsbedürftigkeit dadurch einsetzt und aktualisiert wird, dass ich von der Tatsache, dass es da und dort Hilfsbedürftige gibt, zum Beispiel durch das Fernsehen oder die Presse oder vom Hörensagen erfahre, ist absurd. Wäre dies der Fall, müsste meine moralische Verpflichtung in dem Maße wachsen, in dem ich Nachrichten über relevante Vorkommnisse vernehme, oder völlig leer und unaktualisiert bleiben, wenn ich durch Zufall von gar keinem Vorkommnis dieser Art durch die Medien erfahren hätte.
Wir können allerdings eine moderate Form des Gleichgewichts von Anspruch und Erfüllung auf dem Gebiet moralischer Handlungen definieren: Dabei bezieht sich der Anspruch nicht auf die Verpflichtung, einen Wunsch (und sei er aus Not gezeugt) zu befriedigen, sondern darauf, dem Bedürftigen die Möglichkeit anzubieten oder offen zu halten, seine Wünsche aus eigener Kraft befriedigen zu können. Kein Wohnungsloser oder Wohnsitzloser hat den unmittelbaren Anspruch auf ein Recht auf Wohnung oder Wohneigentum, dem er sich dann legitimerweise durch die Vertreibung des Wohnungsinhabers oder Eigentümers und die Okkupation seines Wohnraumes Geltung verschaffen dürfte. Diese gesetzeswidrige Extremlösung wäre indes eine pseudomoralische Konsequenz der gutgläubigen Annahme, jeder vermeintliche moralische Anspruch erzwinge die Aktualisierung einer moralischen Verpflichtung, Anspruch und Erfüllung hielten sich in der idealen Welt der Gerechtigkeit stets die Waage. Der Wohneigentümer kann aber, wenn er moralisch gesinnt oder nicht unmoralisch gesinnt ist, also aus freien Stücken, und wenn er davon ausgehen kann, dass er auf diese Weise sein Einkommen verbessert, zumindest nicht vermindert, dafür sorgen, dass genügend günstiger Wohnraum geschaffen wird, der auch dem Wohnungssuchenden zur Verfügung gestellt werden kann, falls dieser sich anschickt, aus eigener Kraft für sein Auskommen zu sorgen.
Wir halten fest, dass die Moralität einer Hilfeleistung weder durch die Erfüllung legitimer Ansprüche noch durch die erzwungene oder (moralisch) erpresste Erfüllung von Ansprüchen an den Leistungserfüller, sondern durch die Freiwilligkeit der Hilfeleistung definiert ist. Eine erzwungene Hilfeleistung ist überhaupt keine moralische Handlung, sondern eine Zwangsmaßnahme oder eine Zwangsabgabe. Das ist der moralische Unterschied zwischen einer freiwilligen Spende und einer vom Staat oder einer Institution eingezogenen Steuer oder Abgabe.
Um genau diese Form einer Zwangsabgabe aber handelt es sich, wenn du nicht um einen freiwilligen Beitrag zu einem Hilfsfonds ersucht wirst (und hier ist es immer noch dein gutes Recht, deine Hilfe zu verweigern und nein zu sagen), sondern über staatliche Institutionen wie die Finanzämter um diesen Beitrag widerrechtlich (im Sinne seiner von dir nicht gutgeheißenen oder nicht abgesegneten Verausgabung) und gegen den Sinn des Bürgerlichen Gesetzes erleichtert wirst.
Die Propaganda der Gutgläubigen arbeitet mit Vorliebe mit Mitteln moralischer Erpressung: Dabei werden die Begriffe und Bilder aus dem institutionellen Kontext des Bürgerlichen Gesetzes auf freie moralische Verhältnisse übertragen. Es heißt dann zum Beispiel, die Hilfsbedürftigen hätten ein Recht oder einen Anspruch auf unsere Hilfe oder wir schuldeten ihnen Hilfe oder wir seien moralisch ins Unrecht gesetzt oder schuldig aufgrund der Tatsache, dass nicht wir, sondern jene hilfsbedürftig sind. Wenn dem so wäre, und wir den Hilfsbedürftigen etwas schuldeten, könnten sie den Anspruch auf Erstattung unserer Schuld nur geltend machen, wenn sie uns vorher einen entsprechenden materiellen oder nichtmateriellen Wert hätten zukommen lassen, den wir ihnen wiederzuerstatten hätten. Aber das ist absurd. Und wenn die Tatsache, dass wir nicht leiden, uns schuldig machte gegenüber denjenigen, die leiden, wären wir schuldig gegenüber denjenigen, die im Sterben liegen, weil wir jetzt noch nicht im Sterben liegen. Aber das ist absurd.
Wie wäre es aber umgekehrt und die unfreiwillig herangezogenen Geldgeber für großzügige Hilfeleistungen öffentlicher Institutionen mäßen mit einerlei Maß und forderten rechtens, die an die Hilfsbedürftigen verausgabten Gelder sollten als Kredite deklariert werden? Dann müssten die für kontraktuelle Vereinbarungen geltenden Regeln grosso modo auch in diesem Falle gelten: Zum Beispiel müssten die Kreditnehmer auf ihre Kreditwürdigkeit hin befragt und darauf eingeschätzt werden, ob sie willens und in der Lage sind, die ihnen großzügig gewährten materiellen und nichtmateriellen Werte binnen gewisser Fristen an den Geldgeber zurückzuerstatten. Wir müssen diesen Faden nicht weiterspinnen und können gleich bei der Einsicht resignieren, dass der Großteil der Bedienten weder willens noch in der Lage sein wird, in einem ihnen fremden kulturellen und ökonomisch-technischen Umfeld durch produktive Leistungen die entstandenen Kosten zu begleichen.
Wenn allerdings Staaten oder öffentliche Institutionen wie Kirchen und Verbände ihre Bürger und Mitglieder über das Zwangsinstrument der Steuern und Abgaben zu großzügigen Hilfeleistungen zwingen, verlieren diese nicht nur eo ipso ihren moralischen Wert, sondern sie schüren mit einem vorgeblichen Gut ein wahres Übel: den Widerwillen und das Ressentiment gegen den Staat und die Kirchen bei denjenigen, die moralisch motivierte Leistungen als spontan, freiwillig und autonom definieren, und bei denjenigen, die aus freien Stücken den Hilfsbedürftigen durch freiwillige Leistungen und Spenden über Hilfsfonds beispringen möchten, nicht aber dazu staatlicherseits oder durch öffentliche Einrichtungen gezwungen werden möchten, und schließlich bei denjenigen, die weder bereit sind noch sich moralisch dazu verpflichtet fühlen (auch nicht fühlen müssen) und sich nicht moralisch dazu erpressen lassen, in solchen Fällen freiwillige Leistungen oder Spenden zu erbringen.
Wenn wir abschließend in theologischen Begriffen über den geistlichen Schaden sprechen, den das erzwungene Gute an der Bereitschaft, Gutes freiwillig zu tun, verübt, dann sehen wir den reichen Jüngling des Evangeliums, der seine Reichtümer den Armen verschenkt, wenn er es nicht tut, um frei zu sein für ein Höheres, sondern weil es das Gesetz so befahl, in all seiner Lächerlichkeit und trostlosen Gottverlassenheit.
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