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Schuld und Scham

26.07.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Der Beschämte versteckt sich.

Scham ist eine soziale Tugend, keine individuelle Neurose.

Freuds Psychologie krankt an der Vermischung oder Verwechslung von sozialen Schamgefühlen und neurotischen Schuldgefühlen.

Homer kennt die mit der höfischen Kultur einhergehenden Formen der sozialen Scham, das unsichtbare Gitter, an dem sich die Rituale der Höflichkeit wie das Willkommens- und Abschiedsritual, die Manieren beim Festgelage und Symposium oder die Zeremonien beim Opfer und der Totenbestattung emporranken.

Ein Verstoß gegen die rituellen Formen des Umgangs führt zum Gesichtsverlust, der eigentlichen Quelle der sozialen Scham.

Tragische Schuldgefühle entspringen der Unfähigkeit, was man dem anderen schuldet, aus eigener Kraft und eigenem Vermögen zu entgelten.

König Ödipus vermochte das Unheil, das aufgrund seiner Blutschuld der Pest gleich die Polis befallen hatte, aus eigener Kraft nicht zu tilgen; er bedurfte der Entsühnung durch den Gott.

Gesichts- und Ehrverlust kann den sozialen Tod zur Folge haben.

Der Beschämte verhüllt sein Gesicht, der ehrlos und gemein Gewordene stülpt sich grinsende Masken der Anteilnahme, des Wohlwollens und des Verständnisses über.

Das monströse Bild des puritanischen Glaubens, Gott bleibe nichts, nicht einmal die geheimste Regung und die intimste Geste, verborgen, und kein Mensch könne vor ihm sein Gesicht wahren, bedeutete den ersten Schritt zum Atheismus oder zur Gleichgültigkeit des modernen Nihilismus.

Die Psychologisierung der Sünde als autonome Form individueller Schuld war ein Schritt in Richtung der Säkularisierung religiöser Begriffe.

So degenerierten die Kirchen von Stätten ritueller Gnadenspenden zu psychologisch und sozial orientierten Therapiezentren, die sich von den weltlichen nur durch den Gebrauch einer unverständlich gewordenen Sakralsprache unterscheiden.

Eine romantisch überspitzte Lektüre Rousseaus vernebelte den Geist deutscher Dichtung bis zu ihren glänzendsten Gipfeln mit dem Irrglauben von der Unschuld einer idealisierten und vergöttlichten Natur, die für ihr durch Menschenwerk gestörtes Gleichgewicht mit Sintflut und Pestilenz, Chaos und Götterdämmerung Rache an dem schuldig Gewordenen nimmt.

Die Natur existiert jenseits der menschlichen Begriffe, aber der Mensch, den man den Triebkräften und Launen seiner Natur überläßt, ist nur roh, ungebildet und gefährlich.

Sinnbild einer einzig dem Menschen erreichbaren Harmonie sind weder die Wildnis tropischer Schreie noch der graue Asphalt totenstiller Hinterhöfe, sondern der sowohl nach botanischen als auch ästhetischen Prinzipien gehegte und gepflegte Garten, in dem weder Affen kreischen noch Motoren heulen, aber sinnig geführte Wasser milde von Schale zu Schale plätschern.

Die Handlungen und Sprechakte des Menschen enthüllen uns seine auf Kultürlichkeit angelegte Kreatürlichkeit.

Der Garten, der niemandem gehört, verwildert.

Seine Artgenossen empfinden im Angesicht des verendeten Tieres, das fault und vermodert und zum Aas wird, nicht die mit Grauen vermischte Scheu, die uns den Leichnam feierlich in die Erde senken läßt.

Der große japanische Tuschmaler mußte tausende Schriftzeichen tausendfach wiederholen, bevor seine aus tiefer Versunkenheit entspringende Geste mit dem Pinsel jenen Grad von Geistesgegenwart hat annehmen können, die wir als spontan, intuitiv oder natürlich empfinden.

Die Faszination durch den nackten Wilden in der Malerei der frühen Moderne ist schon ein Ausdruck des Selbstzweifels der europäischen Kultur. In der massenhaften Selbstentblößung der zeitgenössischen Pornographie ist dieser Zweifel zur Gewißheit geworden.

Die gefeierte hysterische Entblößung auf den Jahrmärkten und bei den Festumzügen der Eitelkeit ist eine Beschämung und Entwürdigung der Intimität des Paares.

Nicht alles zu benennen und mit dem Speichel des Sagbaren zu besudeln, ist ein Gebot der Sprachethik.

Das im Gedicht hinter dem Schleier symbolischer Diskretion nur Andeutbare schamlos ins grelle Rampenlicht zu zerren, ist kein Ausdruck sprachlichen Freimuts, sondern dichterischer Verarmung und mentaler Verrohung.

Horaz senkt den Ton des öfteren, wenn der Sinngehalt des Gedichts über die Ufer der Strophenform zu treten droht.

Goethe ergötzte sich in kleinen Formen am obszönen und gewagten Ausdruck, doch in den großen wie der Elegie, der Hymne oder dem Sonett hüllte er den Körper der Geliebten in das Rankengeflecht der Minne.

Der durch asoziale und kriminelle Handlungen schuldig Gewordene kann mittels Strafe und Schuldentilgung entsühnt werden; dennoch mag er in den Augen der anderen sein Gesicht auf immer verloren haben.

Wenn Gottes Majestät die Reinheit und Heiligkeit hat, von der das Alte Testament spricht, konnte die Sünde Adams menschlich nicht entsühnt werden.

Die mythischen Götter sind in den Augen der jüdischen Propheten schuldige, verworfene Götzen, Bösewichte und Schlächter, von denen bei noch so grandiosen Opfern an Blut und Gesängen keine Entsühnung, kein neues Leben, zu erhoffen ist.

Der Paranoiker läuft von den Wassern des Lebens davon, weil er in ihrem Rauschen Verwünschungen vernimmt.

Diskretion übergeht die Blöße, die sich der andere durch Dummheit, rüdes Benehmen oder auch ein Mißgeschick gegeben hat, mit Schweigen oder verhüllt sie mit bunten Fetzen und Fragmenten, die sein besseres Ich in besseren Tagen hinterlassen hat.

Wer immerfort alles, was ihm einfällt, ungehemmt ausplaudert, hat nichts zu sagen.

Die Hölle Dantes und der alten düsteren Kirchenlehre bezieht ihre Rechtfertigung und ihren Kredit aus unserem eingewurzelten Argwohn gegen die scheinbar so versöhnliche Idee, daß am Ende allen alles vergeben wird.

Die Einsicht in die Vergeblichkeit aller menschlichen Angelegenheiten löst uns von einer Art geistigem Starrkrampf, der uns an der Hoffnung festhalten läßt, die Rechnung, die wir mit diesem oder jenem noch offen haben, könne endlich noch beglichen werden.

 

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