Der Sonnenuntergang
Unterwegs zu einer transzendentalen Semantik I
oder: Warum Roboter nichts sehen und also auch keinen Sonnenuntergang
Es kann keine Empfindung geben, die nicht jemandes Empfindung wäre. Den roten runden Fleck am tiefen Horizont siehst du und sehe ich, auch wenn wir ihn natürlich nicht zusammen, sondern in etwa gleichzeitig sehen. Doch von zwei Apparaten mit lichtempfindlichen Sensoren würden wir nicht sagen, daß sie diejenige Sehempfindung haben, die mit der auf ihren lichtempfindlichen Sensoren abgebildeten Lichteinwirkung kausal verbunden wäre. Sie sehen den roten Fleck weder zusammen noch gleichzeitig, und zwar aus dem Grund, weil sie überhaupt nichts sehen, wenn eine Farbe sehen die Empfindung einer Farbe zu sein bedeutet, die jemand hat oder jemandem zugeschrieben wird.
Oder um es in einem dermaleinst beliebten, durchaus prägnanten Jargon auszudrücken: Der rote runde Fleck dort am tiefen Horizont bildet ein Erlebnis des je eigenen Daseins in seiner Jemeinigkeit und Jedeinigkeit, während dasselbe Phänomen ein neutrales Vorkommnis nichtdaseinsförmiger Art auf dem Aufzeichnungsmedium des Apparats oder Roboters darstellt. Der rote runde Fleck ist existentiell da, als Ding oder Etwas ist er nicht da, nicht einmal zuhanden, sondern bloß vorhanden.
Wenn es keine Empfindung geben kann, die nicht jemandes Empfindung wäre, kann es nicht niemandes Empfindung geben. Deshalb ist unser Begriff der Empfindung logisch und grammatisch im Begriff des Selbst und des Selbstverhältnisses enthalten. Die Menge der Empfindungen ist eine echte Teilmenge der Menge der Selbstbezüglichkeiten. Daraus folgt, daß wir nichtmenschlichen Wesen nicht in demselben Sinne Empfindungen zuschreiben können, in dem wir sie uns zuschreiben. Wir schließen vom Dasein der Empfindung auf das Dasein dessen, der sie hat, oder auf ein Selbst. Wir schließen sogar vom Dasein eines Selbst auf das mögliche Dasein einer Empfindung. Wir schließen erstaunlicherweise sogar vom Dasein eines roten runden Flecks auf das Dasein eines Selbst, ohne den der Satz: „Dort ist ein roter runder Fleck“ weder denkbar noch sagbar wäre.
Heißt das, Sätze wie „Dort ist ein roter runder Fleck“ beziehen sich auf etwas, das sie beschreiben oder von dem ihre Aussage gilt und das wir ohne die Form dieser Aussage nicht erfassen und in den Blick nehmen könnten? In gewisser Weise, ja. Unser Empfindungserleben ist insofern mit der Form unserer Aussage kongruent, als wir die Gestaltwahrnehmung beispielsweise des Sternes Sonne als semantische Hülle auffassen, die wir mit dem Eigennamen Sonne füllen, der sich auf diese singuläre Entität in unserer Welt bezieht. Wären wir Wesen mit einem Gesichtsfeld, in dem wir die kontinuierliche Bewegung eines Seheindrucks von oben nach unten nicht auffassen und demgemäß den Vorgang nicht als Sonnenuntergang aussagen könnten (unsere Seheindrücke könnten vielleicht phasen- oder kaskadenförmig in zahllose Elemente zerfallen, ohne die Kontinuität der Bewegung in der Zeit und damit die Voraussetzung der Wahrnehmung der Dingkonstanz zu vermitteln), lebten wir gewiß nicht in einer Welt, in der Newton seine Theorie entwickeln und Forscher und Ingenieure Raketen in den Orbit schießen konnten.
Und doch schert sich, scheint es, die Sonne nicht darum, daß wir von ihr reden. Diese Art der Objektivität kommt unseren Aussagen zugute, wenn wir beispielsweise Abbilder vom Original unterscheiden müssen. So werden wir uns nicht durch eine noch so realistische Abbildung des Sonnenuntergangs auf einem Gemälde verleiten lassen, es mit einem unter freiem Himmel erlebten Sonnenuntergang zu verwechseln, auch wenn die ästhetischen Wirkungen, die von ihm ausgehen, denjenigen, die das wirkliche Ereignis vermittelt, in nichts nachstehen, ja sie sogar übertreffen.
Wir wüßten nicht zu sagen, weder inwiefern ein Roboter die Isomorphie der von ihm geäußerten Sätze mit den durch sie behaupteten Tatsachen in der Welt einsehen noch inwiefern er perfekt gestaltete Abbilder zum Bespiel eines Sonnenuntergangs vom Original unterscheiden könnte.
Wenn wir einen Roboter mit visuellen Sensoren ausstatten, die ihm ermöglichen, Aspekte seiner Umwelt in einem visuellen Medium aufzuzeichnen, können wir, wenn wir uns die aufgezeichneten Sequenzen anschauen, nicht behaupten, das, was wir jetzt gesehen haben, habe der Roboter gesehen. Der Roboter hat nichts gesehen und kein Roboter kann etwas sehen, er hat Lichtquanten auf seine visuelle Sensorik einwirken lassen.
Hätte der Roboter gesehen, was wir gesehen haben, müßte er uns auf die Frage, was er gesehen habe, antworten, was wir auf dieselbe Frage hin antworten: „Ich habe einen roten runden Fleck gesehen.“ Aber auch wenn die technologisch schlauen, aber logisch-semantisch dummen KI-Bastler unter Anleitung logisch-semantisch im Dunkeln stehender sogenannter Neuro- und Bewußtseinsphilosophen dem Roboter Algorithmen einspeisen, die ihn auf das Hören der Frage, was er gesehen habe, den Satz abspulen lassen: „Ich habe einen roten runden Fleck gesehen“, gehen wir selbstredend nicht davon aus, daß der Roboter die Wahrheit sagt. Warum? Weil er überhaupt nicht in der Lage ist, die Wahrheit oder wahre Aussagen zu sagen, schon gar nicht die Wahrheit des Umstands zu formulieren, daß er es notwendigerweise selbst zu sein hat, der die Behauptung, etwas gesehen zu haben, sich selbst zuschreibt.
Etwas Wahres sagen zu können impliziert die Möglichkeit, etwas Unwahres sagen oder auch die Wahrheit verheimlichen zu können. Wenn wir von unserem Abendspaziergang heimgekehrt sind, könntest du auf meine Frage, ob du den Sonnenuntergang gesehen hast, vorgeben, nicht darauf geachtet zu haben, obwohl du ihn durchaus wahrgenommen hast, um mir zu verstehen zu geben, daß du dich mir gegenüber der Zuschaustellung romantischer Gefühligkeiten entziehen willst. Könnten unsere schlauen KI-Bastler den Roboter so programmieren, daß er die Wahrheit einer seinen Zuständen zugeschriebenen Aussage sowohl einsieht als auch abstreitet, leugnet oder verheimlicht, ja, daß er die Wahrheit der Aussage leugnet, um uns mittels der Leugnung oder Verheimlichung der Wahrheit eine indirekte Gricesche Mitteilung über seinen mentalen Zustand zu machen? Gewiß nicht.
Wenn ich dich nach deinen gehabten oder nicht gehabten Empfindungen frage, setze ich voraus, daß du deine gegenwärtigen Erlebnisse von denen unterscheiden kannst, die du in einem beliebig herausgegriffenen Abschnitt der von dir erlebten Vergangenheit hattest, und von denen, die du in einer so oder so bestimmten zukünftigen Zeit haben könntest. Heißt denn, ein Erlebnis vergegenwärtigen, das in seiner vergangenen Fülle gegenwärtig nicht erlebbar ist, ein gleichsam verdünntes und abgeblaßtes Erlebnis haben? Nein. Es heißt, mittels sprachlicher Temporalisierung die erlebte Zeit in vergangene, gegenwärtige und zukünftige Abschnitte zergliedern und über ein vergangenes Erlebnis jetzt berichten zu können. Allerdings kannst du wahrheitsgemäß nur über dein vergangenes Erlebnis berichten, wenn du es dir als jemandem zuschreibst, der es in der Vergangenheit gehabt hat, und außerdem als jemand, der als derjenige, der jetzt über das vergangene Erlebnis berichtet, identisch ist mit demjenigen, der das Erlebnis in der Vergangenheit hatte. Können Roboter in diesem Sinne Zeit erleben oder von ihren vergangenen Erlebnissen berichten, wie von dem Erlebnis, gestern den Sonnenuntergang gesehen zu haben? Wenn sie dies sagten, müssen wir es ihnen nicht abnehmen, denn wir sehen nicht, inwiefern sie mit jemandem identisch sein können, der jetzt etwas sagt, und darüber hinaus als jemand, der jetzt etwas sagt, identisch sein können mit demjenigen in der Vergangenheit, welche die Vergangenheit desjenigen ist, der jetzt etwas sagt.
Mit der Frage, was du zu erleben dir vorstellen kannst, berühren wir nicht nur die zeitliche Dimension der Zukunft, sondern auch die kausale und die logische Modalität des Möglichen. Wenn aber des Möglichen, dann auch des Unmöglichen. Denn sicher kannst du dir auch vorstellen, etwas zu erleben, was zu erleben dir kraft natürlicher Schranken oder logischer Grenzen unmöglich ist, wie etwa zu erleben, daß du wie ein Insekt die Wand emporkrabbelst oder auf einer Stelle der Leinwand gleichzeitig einen grünen und einen roten Fleck siehst. Kann sich ein Roboter vorstellen, was ihm kraft kausaler Schranken oder logischer Grenzen zu erleben unmöglich ist? Kann er sich vorstellen, wie es wäre, kein Roboter zu sein, sondern ein Mensch, ein Mensch beispielsweise, der von einer mitmenschlichen Rührung bewegt seinen Mitmenschen mit lästigen Fragen nach seinem Befinden oder gewissen Erlebnissen verschont? Oder ein Mensch zu sein, der ihn, den Roboter, mittels Einspeisung einer logisch-semantischen Inkonsistenz in die Irre oder zum Abstürzen bringen will?
Wir bemerken, daß die biologisch fundierte Tatsache, Empfindungen haben zu können, logisch mit der nicht biologisch ableitbaren Tatsache verbunden ist, jemand oder man selbst sein zu können. Jemand oder man selbst zu sein ist nur ein anderer Ausdruck für die logisch-semantische Tatsache, jemand zu sein, der wahre Aussagen machen kann, das heißt, der der Sprache mächtig ist. Jemand, der sagt: „Ich sehe einen roten runden Fleck“, ist in der Lage, stattdessen zu sagen: „Ich sehe die rote Sonne.“ Damit zeigt er, daß er die Wahrheit der Aussage: „Dieser rote runde Fleck ist die Sonne“ begriffen hat. Oder anders ausgedrückt, daß er die logische Äquivalenz der Aussage: „Ich sehe einen roten runden Fleck“ und der Aussage: „Ich sehe die rote Sonne“ begriffen hat.
Warum können Roboter keinen Sonnenuntergang sehen, das heißt überhaupt nicht sehen? Weil sie nicht sprechen können, das heißt nicht in der Lage sind, den Satz: „Ich sehe einen roten runden Fleck und dieser Fleck ist die Sonne“ zu bilden und zu verstehen. Sie könnten aber doch so programmiert sein, daß sie beliebige Sätze dieser Art ausspucken könnten? Gewiß. In diesem Fall müssen wir unterstellen, daß sie nicht wissen und nicht wissen können, was sie sagen. Was heißt, zu wissen, was man sagt? Es heißt einzusehen, was der Fall ist, wenn die Aussage wahr ist oder auch nicht wahr ist. Wenn uns der Roboter mit der eingespeisten Aussage narrt: „Ich sehe einen roten runden Fleck und dieser Fleck ist die Sonne“, setzen wir ihn ganz einfach mit der Entgegnung der falschen Aussage matt oder bringen ihn mit der falschen Aussage zum Schweigen oder zum Abstürzen: „Dieser rote runde Fleck ist nicht die Sonne.“
Wir können den Roboter in die Irre führen oder zum Schweigen oder zum Abstürzen bringen, indem wir außer dem Algorithmus, der ihn anweist, auf die Frage, was er sieht, wenn seine visuelle Sensorik einen roten runden Fleck aufzeichnet, mit dem Satz zu reagieren: „Ich sehe die rote Sonne“, einen Algorithmus eingeben, der die Negation des ersten Algorithmus enthält, sodaß der Roboter an der Inkonsistenz der beiden Aussagen, er sehe und er sehe nicht die rote Sonne, hängenbleibt. Doch er weiß nicht, warum er auf der Stelle tritt oder sich im wohlbekannten Kreis des Circulus vitiosus dreht. Wir dagegen wissen es, weil wissen notwendig impliziert, das Wahre einsehen und das Mögliche vom Unmöglichen unterscheiden zu können, und dies wiederum impliziert zu wissen, daß von zwei kontradiktorischen Aussagen nur eine wahr sein kann, und daß wenn eine wahr ist, die andere falsch sein muß.
Mit der Entdeckung der logischen Inkonsistenz finden wir uns auf der Grenze des Sagbaren und Unsagbaren wieder, auf dem wir als sprachliche Wesen gleichsam wohnen. Denn etwas sagen heißt, gleichzeitig das logische Gegenteil des Gesagten verwerfen. Wir wissen um uns selbst, wenn wir dies wissen, denn dies nicht zu wissen, öffnete die Grenze des sinnvollen Redens zum unbegrenzten Bereich des sinnlosen Redens. Diese Grenze zu öffnen wäre aber gleichbedeutend damit zu schweigen. Und prinzipiell zum Schweigen verurteilt zu sein wäre gleichbedeutend damit, nicht jemand oder man selbst zu sein. So können wir sagen, daß Roboter etwas sind, das prinzipiell zum Schweigen verurteil ist, weil sie die Grenze zwischen dem Sagbaren und Unsagbaren, zwischen Sinn und Unsinn niemals zu erreichen vermögen.
Um etwas Wahres zu sagen, muß ich einen Gegenstand identifizieren oder diskriminieren und ihm eine Eigenschaft zuschreiben, die er hat, oder eine Eigenschaft absprechen, die er nicht hat. Ich muß aus der Menge aller Gegenstände, die ich benennen kann, denjenigen Gegenstand herausgreifen, dem ich eine Eigenschaft zusprechen oder absprechen will: die Sonne, wenn ich ihr die Eigenschaft, jetzt rot zu sein, zuspreche, oder die Eigenschaft, jetzt grün zu sein, abspreche. Wir nennen kurz und bündig Welt den Bereich der möglichen Gegenstände, aus denen wir denjenigen diskriminieren, dem wir jetzt eine Eigenschaft zusprechen wollen. Welt ist der logisch-semantische Gegenbegriff zum Begriff dessen, der eine Welt sprachlich gesehen vor Augen hat. Wir können nur jemand oder wir selbst sein, wenn wir in einer so gearteten Welt wohnen.
Roboter wohnen nirgends, denn sie haben keine Welt. Welt aber können sie nicht haben, weil sie nicht in der Weise existieren, daß sie jemand oder sie selbst sind. Jemand oder sie selbst können sie nicht sein, weil sie die Bedingungen des Wahrseins der Sätze, die sie vorprogrammiert ausspucken, nicht einsehen können. Können Roboter aber die Bedingungen des Wahrseins der von ihnen ausgegebenen Sätze nicht einsehen, können wir ihnen die Eigenschaft, über Sprache in unserem Sinne zu verfügen, nicht zuschreiben. Können wir indes Robotern die Eigenschaft, sprachliche Lebewesen wie wir selbst zu sein, nicht zuschreiben, müssen wir ihnen wiederum die Eigenschaft, in einer Welt wie der unseren zu wohnen, absprechen.
Die Begriffe Jemand sein, Sprache, Wahrheit und Welt sind, wie wir sehen, logisch-semantisch durch vollständige Implikation miteinander verknüpft: Jemand oder man selbst zu sein impliziert die Eigenschaft, sprechen zu können; sprechen zu können impliziert die Eigenschaft, die Bedingungen des Wahrseins von Aussagen einsehen oder konsistent denken zu können; konsistent denken zu können impliziert die Fähigkeit, bestimmten Gegenstände bestimmte Attribute zusprechen und deren Nichtvorhandensein ihnen gleichzeitig absprechen zu können; aus einer gegebenen Menge von Gegenständen diejenigen auszuwählen, die Aussagen über das Vorhandensein von Eigenschaften wahr oder falsch machen, impliziert die Eigenschaft, in einer sprachlich verfaßten Welt zu wohnen; in einer so gearteten Welt zu wohnen impliziert wiederum die Eigenschaft, sprechen zu können.
Wenn der Begriff der Empfindung semantisch mit dem Begriff dessen, der empfindet, du oder ich, verknüpft ist, müssen wir folgern, daß unsere Art zu empfinden notwendig mit der Eigenschaft verbunden ist, als sprachliches Lebewesen zu existieren. Da aber die Art, wie Tiere oder Roboter ihre sensorischen Eindrücke aufzeichnen und verarbeiten, nicht notwendig mit der Eigenschaft verbunden ist, als sprachliche Lebewesen zu existieren, können wir ihnen nicht die Art der Empfindung zuschreiben, die wir uns zuschreiben.
Wenn wir am Abend am Strand spazieren gehen, sagst du zu mir nicht: „Siehst du dort den roten Fleck im Meer versinken?“, sondern du sagst: „Siehst du dort die Sonne im Meer versinken?“ Natürlich kannst du sagen: „Schau mal, wie rot die Sonne aussieht!“ Allemal beziehen wir unsere Farbwahrnehmung auf ein Objekt, das wir mittels der semantischen Funktion der Bezeichnung oder Benennung aus der Menge möglicher Bezeichnungen und Eigennamen herausgreifen, und es ist dieses Objekt, dem wir die Farbeigenschaft zuschreiben.
Die Menge möglicher Benennungen ist keine natürliche Tatsache einer physikalisch definierbaren Umwelt, sondern das Ergebnis einer sprachlichen Konvention, die wir jederzeit modifizieren und erweitern können. Tiere und Roboter verfügen nicht über die sprachliche Fähigkeit, spontan den Bereich möglicher Objekte für Eigennamen auszuwählen, festzulegen und zu modifizieren.
Wir reden vom Sonnenuntergang freilich im Wissen, daß die Sonne, physikalisch und astronomisch gesehen, nicht im Meer versinkt, sondern daß es nur so ausschaut, als wäre dem so. Wir sagen dies auch nicht in der Absicht, dem anderen eine Botschaft über einen physikalisch interessanten Vorgang in der Welt zukommen zu lassen, sondern um ihn an der Art und Weise teilnehmen zu lassen, wie uns zumute ist, wenn wir den Sonnenuntergang betrachten. Die rote Sonne untergehen zu sehen ist ein andere Art der Wahrnehmung, als zu sehen, daß die Ampel auf Rot umgeschaltet hat und wir unserem Begleiter warnend zurufen: „Vorsicht, die Ampel ist rot!“ Wir können dies so ausdrücken, daß wir sagen: Die Wahrnehmung des Sonnenuntergangs hat für uns eine ästhetische Qualität, während die Wahrnehmung der roten Ampel eine appellative Qualität hat, die uns anweist, unser Verhalten zu ändern.
Daß Farbempfindungen eine rein ästhetische Qualität für uns annehmen können, entspringt der begrifflichen Beziehung unserer Empfindungen zu unserem Selbstgefühl, das wir auf eine ästhetische Anmutung ausrichten können. Wir gehen davon aus, daß Tieren und Robotern rein ästhetische Anmutungsqualitäten der Farbempfindung verschlossen sind, weil ihnen die begriffliche Beziehung der Empfindungen zu einem Selbstverhältnis mangelt, das sie auf eine rein ästhetische Anmutung ausrichten könnten.
Wir können die Eigenart der ästhetischen Anmutung, die wir mit Farbempfindungen verbinden, auch so ausdrücken, daß wir sagen, wir erleben uns als empfindende Wesen im Raum der farblich ausgezeichneten Gestalten, ohne unsere Empfindungen einem lebenspraktischen Zweck unterzuordnen, wie im Beispiel der Farbwahrnehmung der roten Ampel dem lebenspraktischen Zweck, einer Gefahr auszuweichen. Wenn wir uns angewöhnt haben, die Evolution der Tiere und ihres Verhaltensrepertoires unter dem darwinistischen Konzept der Maximierung und Optimierung ihrer Überlebensvorteile zu betrachten, haben wir sie per definitionem von der Dimension unserer Existenz ausgeschlossen, in der wir unsere Wahrnehmung und unser Verhalten nicht dem Zwang einer übergeordneten Instanz der Maximierung und Optimierung von Überlebensvorteilen unterordnen, sprich der ästhetischen Dimension.
Natürlich kommen uns Naturalisten und Neodarwinisten daher und wollen uns nachweisen, daß auch unsere ästhetischen Empfindungen letztlich der Evolution von Überlebensvorteilen funktionell untergeordnet seien, ohne zu merken, daß sie sich widersprechen. Hauptsache, wir merken es und weisen den Einwand deshalb zurück. Denn wenn wir annehmen, Schönheit sei ein Begriff für den freien ästhetischen Bezug unserer Empfindungen zu unserem Selbstgefühl, und gleichzeitig annehmen, Schönheit sei dies nicht, sondern diene letztlich dem Zweck, unter dem ästhetischen Schleier darwinistische Zwecke zu verfolgen, widersprechen wir uns und reden Unsinn.
Von uns selbst zu wissen hat nicht den Charakter des Wissens, der sich darin kundgibt, daß wir sagen: „Die Sonne sieht rot aus“, auch wenn die Aussage „Die Sonne sieht rot aus“ ohne die Voraussetzung, daß wir von uns selbst wissen, nicht möglich wäre.
Von uns selbst zu wissen drückt sich in dem Wissen davon aus, daß wir sagen: „Die Sonne sieht rot aus“, oder in dem Wissen davon, daß wir es sind, die sagen: „Die Sonne sieht rot aus.“
Wir können unser Wissen um uns oder unser Selbstverhältnis nicht unmittelbar ausdrücken, sondern nur vermittelt, wie wenn wir feststellen, daß wir ohne von uns selbst zu wissen oder davon, daß wir es sind, die sprechen, nicht sagen könnten: „Die Sonne sieht rot aus.“
Die Sonne sieht nur in der Welt rot aus, in der wir wissen, daß wir es sind, die sagen: „Die Sonne sieht rot aus.“
So hat recht, wer behauptet, daß die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt sind, obwohl dies zu sagen nur möglich ist, wenn wir die Grenze der sprachlich vermittelten Welt oder der weltgebenden Sprache mittels des Wissens davon, daß wir es sind, die sprechen, gleichsam berühren oder ziehen.
Roboter sehen keinen Sonnenuntergang, weil es in ihrer Welt keinen Sonnenuntergang gibt und geben kann. Und dies nicht etwa deshalb, weil ihre Programmierer unfähig wären, sie mit den Algorithmen für das Konzept „Sonnenuntergang“ zu füttern, sondern weil sie prinzipiell nicht über den Begriff einer Welt verfügen können. Über den Begriff einer Welt zu verfügen impliziert, sprechen zu können in dem Sinn, daß derjenige, der spricht, weiß, daß er spricht und mit der Sprache die Grenze des Sagbaren und des Unsagbaren berührt oder zieht.
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