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Erleben, Wissen, Verstehen

16.10.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Ein freundlicher Mensch weist uns den Weg, öffnet uns die Tür, hilft uns eine Last tragen. Auch wenn wir seine Motive und Absichten im Einzelfall nicht kennen, erleben wir sein Tun als freundliche Zuwendung und liebenswürdige Aufmerksamkeit.

Wir erleben den Sinn unmittelbar, ohne Reflexion.

Wir wissen um das Alter der Erde, die Bahn des Mondes um die Erde, die Bahn der Erde um den ungeheuren Feuerball der Sonne, die riesigen astronomischen Ausmaße der Sternmassen und ihrer in Lichtjahren gemessenen Entfernungen. Wir wissen von den Gräsern, Pflanzen, Bäumen, Früchten, den Tieren auf der Erde, die wild gedeihenden und lebenden und diejenigen, die wir züchten und verzehren. Doch gibt uns dies Wissen kein Maß des Erlebens vor: Wir können sowohl die Harmonie erleben, wie sie uns Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“, insbesondere in seiner Vertonung durch Robert Schumann und Johannes Brahms, einflößt, als auch das Grauen des seelisch Ausgesetzten im fremden Kosmos der Unendlichkeiten, wie es Blaise Pascal beschreibt.

Wissen und Erleben sind nicht isomorph oder deckungsgleich, sondern bilden sich schneidende und nur teilweise überlappende Kreise; in der Schnittmenge aber finden wir interne Verknüpfungen zwischen ihnen.

Auch wenn wir uns als Mann am lebendigen Beispiel von Mutter und Tanten, Schwestern, Freundinnen und Geliebten, auch mittels einschlägiger Artikel in Fachorganen der Biologie und Psychologie, durch das Lesen von Romanen wie „Madame Bovary“, „Die Sturmhöhe“ oder „Effi Briest“ dem Frauenleben bis aufs Intimste glaubten genähert zu haben, werden wir niemals verstehen, was es für das junge Mädchen bedeutet, wenn ihm die Brüste wachsen und die erste Periode einsetzt, was für die Frau, sich von ihrem Geliebten umworben und begehrt zu fühlen, und was, von ihm entjungfert zu werden, niemals, was es für sie bedeutet, schwanger zu sein und die Leibesfrucht in sich wachsen zu fühlen, noch die Wehen und die Geburt, weder das Säugen des Erstgeborenen noch die Vertrautheit und die Entfremdung von dem geliebten Kind, und gar nicht, was für die reife Frau der hormonelle und seelische Umbau ihres Daseins durch das Klimakterium bedeutet.

Die großen Dichter scheinen mit einer zweigeschlechtlichen Seele oder Intuition begabt zu sein; wie sonst erklärte sich der Ausdruck innigsten schwesterlichen Fühlens in der sophokleischen Figur der Antigone, der zu Herzen gehenden Liebesverwirrung der Margarete und der reinen fraulichen Empathie der Iphigenie in Goethes Dramen.

Aus Sermo 1, 6 des Horaz erfahren wir unter anderem, wie der geistreichste und feinsinnigste Dichter des Augusteischen Zeitalters seinen Alltag verbrachte; daß er die Rennbahn besucht und auf dem Markt herumschlendert, um zu erfahren, wie der Preis von Kohl und Mehl heute steht; daß er einige Mußestunden stiller Lektüre und dem Schreiben widmet, soweit ihm dies eine Quelle der Freude und geistiger Erquickung ist; wie er sich mit Öl einreibt, um sich auf dem Marsfeld an sportlichen Spielen wie dem Ballspiel zu vergnügen; wie er ein frugales Mahl aus Kichererbsen, Kohl und Fladenbrot zu sich nimmt; daß Becher und Schalen, Schöpflöffel und Mischkrug von schlichter regionaler Keramik ihm für die Zubereitung und den Genuß des Weines zur Hand sind.

Dem Historiker bieten solche Beschreibungen, auch wenn sie im poetischen Gewande daherkommen, reichlich Material, um das Privatleben eines Mannes vom Typus des Horaz im zeitgenössischen Rom im Vergleich mit anderen Quellen zu erforschen. Ob es sich um die Tatsache handelt, daß der Dichter hier die beschauliche und genügsame Atmosphäre des savoir vivre eines Mannes, der aus bescheidenen Verhältnissen in die Ritterklasse aufgestiegen ist, von der dünnen Luft der Macht, die den Kreis um Octavian und Maecenas umwehte, nicht verwirren läßt; ob er mit dem Kollegen aus der Kunstgeschichte der Einordnung des Hausrats und der Tonwaren im schlichten kampanischen Stil nachgeht; oder mit dem Botaniker, Ernährungsfachmann oder Önologen im Gemüse des Mittagstisches herumstochert und dem dubiosen Geschmack des Hausweines nachspürt – mit alledem vermehren wir unser historisches Wissen. Doch erst, wenn wir es in den Bezug der dichterischen Intention rücken, verstehen wir das von Horaz Gemeinte: als Verweis auf die Devise Epikurs, im Verborgenen zu leben, und als Geste der Zurückhaltung, Mäßigung und Bescheidenheit, die sich vom Prunk und Glanz, aber auch der hohlen Geschäftigkeit und Zerstreuungswut der höheren Kreise abhebt.

Freilich, nur wenn wir um die große Bedeutung des Klientelwesens und die ständigen Versuche der Einflußnahme mittels Geschenken und Bestechung, kurz der Korruption auch in den besseren römischen Kreisen wissen, verstehen wir, weshalb sich Horaz oder seine dichterische Maske in Sermo 1,9 der Zudringlichkeiten des Schwätzers mit dem Hinweis auf die moralische Integrität des Hauses Maecenas erwehrt, in dem die vorderen Ränge nicht nach dem Inhalt der Schatulle, sondern nach Verdienst und Würde vergeben werden. – Hier erfassen wir einen internen Zusammenhang von Wissen und Verstehen.

Für ungeheure Massen des Wissensbestandes aller Fächer von der Mathematik, der Kosmologie und Physik über die Biologie und Geologie bis zur Historiographie und Archäologie stehen uns keine Echoräume widerhallenden Erlebens offen. Die großen Systementwürfe, die von den Pythagoreern, Platonikern und Stoikern bis zu Fichte, Schelling und Hegel und seinen marxistischen Zerrbildern den Anspruch erhoben, Wissen und Verstehen, Wahrheit und Sinn unter eine integrale Einheit zu bringen, sind uns zerbrochene Glasperlenspiele.

Horaz versuchte, die von ihm erlebten und teilweise mitgetragenen historisch bedeutsamen Ereignisse von der Schlacht bei Philippi, an der er als Militärtribun teilgenommen hatte, über den Sieg des Octavian über Antonius bei Actium bis zur Eroberung Ägyptens und der Errichtung der Monarchie in Rom in den Sinnhorizont seines dichterischen Schaffens einzubringen; davon zeugen nicht nur die Römeroden oder das carmen saeculare für die von Augustus erneuerte nationale Gedenkfeier. Dennoch wäre es verfehlt, den Autor der Satiren und Epoden nur in der Rolle des Verkünders eines neuen goldenen Zeitalters unter dem durch Augustus restaurierten altrömischen Sittenkodex und der Reanimation der Kulte zu sehen.

Menschen, die vom Erlebnis der Schrecken des Bombenterrors auf Hamburg, Dresden oder Würzburg geprägt sind, wären überfordert und sogar aufs moralische Glatteis gebracht, wenn sie das Erlebte im Sinne der Ansprüche eines höheren Gewissens, die leichthin von den Nachfolgegenerationen erhoben werden, die das Grauen nicht miterleben mußten, deuten und einordnen sollen.

Was wir traumatisch am Erleben nennen, bezeichnet die Grenze zwischen dem erfahrenen Grauen und der Möglichkeit seiner sinnvollen Deutung.

Nur der Gläubige, der allerdings nicht den Anspruch auf eine allgemeingültige Methode des Verstehens erhebt, sieht in für ungläubige Augen kontingenten Ereignissen einen inneren Zusammenhang oder durchgehenden Sinngehalt. So sieht der Prophet in den Leiden Israels eine Mahnung oder Züchtigung Gottes für den Abfall in den Götzendienst. So Vergil in den Taten und Leiden des Äneas die göttliche Vorsehung und Fügung, die auf die Gründung Roms und seine glorreiche Berufung zur Herrin und Ordnungsmacht der zivilisierten Welt zielt.

Wir können nicht nur von künstlicher geistiger Kost oder vom Sekundären leben; einiges Elementare müssen wir selbst erlebt haben, um etwas verstehen, etwas mitteilen und davon erzählen zu können.

Wir können sagen, das Elementare ist dasjenige, bei dem Wissen und Verstehen unmittelbar intern zusammenhängen. Wir verstehen den traurigen Ausdruck in Mimik und Haltung oder die Tränen im Gesicht desjenigen, über dessen Verlust eines nahen Angehörigen wir in Kenntnis gesetzt werden. Wir könnten den traurigen Ausdruck eines Menschen indes auch mißverstehen, wenn es sich um einen Schauspieler handelt, der die Rolle des Hamlet einübt, oder eines Hysterikers oder Simulanten, der andere mit seinem Elendsgesicht beeindrucken will und dabei ganz behaglich und wohlgemut ist.

Es kommt vor, daß wir von einem hören, der es wieder von einem anderen gehört haben will, daß unser alter Bekannter Peter in eine prekäre Lage geraten ist, und wir gehen hinaus und treffen Peter, der uns heiter und aufgeräumt zu einem Champagnerfrühstück im teuersten Hotel des Viertels einlädt. – Doch vielleicht war er kürzlich noch knapp bei Kasse und ist inzwischen so oder so zu Geld gekommen. – Er selbst könnte die Legende von seiner Notlage in die Welt gesetzt haben, nur um zu zeigen, was für ein Stehaufmännchen und Tausendsassa er ist.

Eine interne Verknüpfung von Erleben, Wissen und Verstehen bemerken wir an den natürlichen Phänomenen der Sinnesempfindung und der emotionalen Betroffenheit und affektiven Gestimmtheit. Die Mittagshitze treibt unserem Weggefährten Schweißperlen auf die Stirn, läßt ihn seufzen und um eine Ruhepause bitten. Wir verstehen, was wir wahrnehmen, unmittelbar und ohne nachzudenken. – Wir treffen auf seinen ehemaligen Kommilitonen, der im Fach unseres Freundes große Erfolge vorweisen kann und dessen angeberisches, arrogantes Gebaren bei diesem ersichtlich eine Mischung von Widerwillen und Neid hervorruft. – Ein Blick genügt, um zu sehen, in welchem Maße der Vortrag der Sonate von Schubert bei unserem Freund eine wehmütig-melancholische Stimmung erzeugt hat.

Wir können Ereignisse der Vergangenheit nicht mit letzter Sicherheit wissen: Wenn wir die Mitteilung des Horaz, er habe an diesem und jenem Tag ein Mittagsmahl aus Kichererbsen, Kohl und Fladenbrot zu sich genommen, als historische Aussage lesen, könnte er auch einem Irrtum erlegen sein, wenn es keine Kichererbsen, sondern Bohnen waren, die er verspeiste. Mangelnde Einsichten und Wissenslücken dieser Art sind unvermeidlich, sie hindern uns aber nicht an einem Verständnis des Gemeinten, denn ob Erbsen oder Bohnen, wir verstehen, was Horaz mit dem Hinweis auf seine frugale Küche sagen will: daß er kein Prasser und Schlemmer war.

Nur dasjenige, wofür wir eine angemessene sprachliche Darstellung finden oder erfinden können, ist für uns bedeutsam und mehr oder weniger sinnvoll. Wir beobachten, wie Peter seinen Freund Hans im Park trifft und ein Buch überreicht; entweder wissen wir, daß Hans ihm vor einiger Zeit ein Buch ausgeliehen hat, dann erschließt sich uns die Bedeutsamkeit dieser Geste durch die plausible Annahme, er habe es ihm verabredungsgemäß zurückgegeben. Wissen wir nichts von einem Hintergrund des Geschehens, können wir uns Geschichten ausmalen, die uns seinen Sinn nahelegen, wie daß Hans heute Geburtstag hat und es sich um ein Geschenk handelt, oder daß Peter seinem Freund ein Buch ausleiht. Immer ist das Verstehen darauf angewiesen, den Handelnden oder Redenden Absichten, Wünsche, Intentionen zu unterstellen, die ein Licht auf ihr Tun und Reden werfen und die wir in beschreibenden Sätzen erfassen können.

Natürliche Vorgänge, die unser Erleben nicht berühren, sind für uns insofern bedeutungslos, als sie sich jenseits der von uns gezogenen Grenzen von Sinn und Unsinn abspielen. So, wenn Wasser gefriert oder sich in Dampf auflöst; dies können wir beschreiben, aber die eigentlich erhellende Darstellung für solche Vorgänge gibt uns die Physik, und deren Sprache ist die der Zahlen und Formeln, die ihre Erklärungskraft gerade der Tatsache verdanken, daß sie von allen Absichten und Zwecken absieht.

Wir können die Lücke zwischen Erleben und Verstehen, Verstehen und Wissen bisweilen mittels der Fiktion oder fiktiver Annahmen, ja bloßer Floskeln und Gemeinplätzen auffüllen. Unser Gesprächspartner ist heute wortkarg, mißlaunig, verdruckst. Ihm ist eine Laus über die Leber gelaufen. – Der Schauspieler spricht ohne Schwung. Wieder Ärger mit der Geliebten. – Dein kahlköpfiger, aufgedunsener Gesprächspartner äußert sich hinter ihrem Rücken abfällig über die attraktive Blondine in deiner Begleitung. Trauben, die zu hoch hängen, gelten ihm als sauer.

Doch ist es sinnvoll, die mögliche Konvergenz oder Diskrepanz von Erleben, Wissen und Verstehen auf uns selbst anzuwenden? In der Regel ist uns, was wir empfinden und fühlen, tun und sagen wollen, ja nicht verborgen und in einem Maße auf den Leib geschrieben, daß wir uns schlecht Situationen ausdenken können, in denen wir nicht wüßten und verstünden, was wir unmittelbar erleben.

Wir können annehmen, daß eine tiefgehende Diskrepanz zwischen Erleben, Wissen und Verstehen, insofern sie das betreffen, was wir selbst empfinden und fühlen, tun und sagen wollen, als Anzeichen mehr oder weniger schwerer geistiger Erkrankung betrachtet werden kann; so wenn einer Sinnesempfindungen und Emotionen erlebt, aber nicht glaubt, daß es seine eigenen sind; wenn einer nicht wirklich versteht, was die Leute am Nachbartisch im Café reden, aber zu wissen meint, sie würden sich abschätzig und verächtlich über ihn äußern oder sich über ihn lustig machen; wenn einer die Gesten und Äußerungen der Ablehnung durch die von ihm begehrte Person als listige, doppelbödige und verfängliche Formen der Bezauberung und Verführung versteht.

Wir können die Begriffe des Wissens und Verstehens nur cum grano salis oder metaphorisch auf unser Erleben anwenden; denn etwas wissen heißt oft, gute Gründe für einen Wissensanspruch angeben zu können. Doch für das, was wir empfinden, fühlen, sehen oder hören, führen wir keine Gründe an, und somit ist das von uns selbst Empfundene, Gefühlte, Gesehene oder Gehörte kein Gegenstand des Wissens. – Wir verstehen die Äußerung unseres Gesprächspartners „Du hast ja mal wieder die Weisheit mit Löffeln gefressen“ ganz richtig als ironische Volte, weil uns klar ist, daß wir gerade etwas ziemlich Triviales oder Dummes gesagt haben. – Und wenn uns bei einem Rendezvous der Schweiß ausbricht und das Herz schneller schlägt, vermuten wir nicht aufgrund dieser Symptome, daß wir aufgeregt oder gar verliebt sind, sondern wir verstehen unmittelbar und ohne nach Gründen Auschau halten zu müssen, was mit uns los ist.

Die elementaren Dinge und Vorgänge verstehen wir, ohne sie erklären zu können, erklären zu wollen oder erklären zu müssen.

Oft gleichen philosophische Erklärungsversuche dem Knoten im Taschentuch, den wir knüpften, um uns an etwas zu erinnern, doch leider haben wir vergessen, woran er uns erinnern sollte.

Für das, was wir Erinnern nennen, gibt es kein allgemeingültiges Erklärungsschema.

Nach unserem Namen gefragt, antworten wir spontan und ohne nachzudenken, wir müssen uns offenbar an gar nichts erinnern, obwohl wir uns einmal unseren Namen eingeprägt haben müssen.

Den Vorgang des Erinnerns mittels neuronaler Abläufe zu erklären ist eine Form der Kategorienverwechslung, denn in keiner physischen Eigenschaft können wir ausmachen, was wir Erinnern nennen.

Erinnerungen haben keinen Ort; daher können sie nicht in einem Komplex von Neuronen und neuronalen Abläufen verkörpert sein, auch wenn wir nicht in Abrede stellen, daß ihre Ursache in einem Komplex von Neuronen und neuronalen Abläufen verkörpert ist.

Haben wir eine Telefonnummer oder Adresse vergessen, versuchen wir uns daran zu erinnern, wo wir sie aufgeschrieben haben. Vermissen wir unsere Geldbörse, daran, wo wir sie zuletzt aus der Tasche genommen haben.

Erinnerungen fallen einem manchmal ungefragt wie vom Baum gefallene Früchte vor die Füße; doch die Versuche, die wir anstellen, unseren Erinnerungen auf die Spur zu kommen oder ihnen Beine zu machen, zeigen, daß sich an etwas zu erinnern auch eine Form von Aktivität sein kann.

Wir erinnern uns nicht an die Dinge, sondern den Eindruck, den sie auf uns machten, nicht an die Blume, sondern ihren Duft, nicht an den alten Lehrer, sondern seine schnarrende Stimme und seine triefende Nase, nicht an den alten Hund, sondern an sein Winseln und Hecheln.

Wir erinnern uns nicht an das Gemüse und das Fladenbrot im Gedicht des Horaz, sondern an die Geste der Genügsamkeit und Bescheidenheit, die der Dichter mittels ihres sinnlichen Eindrucks vollführt.

Wie kann uns das Unwirkliche bewegen, beeindrucken, rühren? Der erinnerte Duft dringt uns ja nicht in die Nase, und das Winseln und Hecheln des sterbenden Hundes ist lange verstummt. Wie eine Geste, die gleich einer Fata Morgana in der Wüste der Zeiten flimmert?

 

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