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German Wings

27.03.2015

Eine philosophische Betrachtung anlässlich des Absturzes der Maschine Germanwings 4U9525 am 24. März 2015

Wir haben den Stimmenrekorder der abgestürzten Maschine nicht abgehört; auch der französische Staatsanwalt, der der Öffentlichkeit Auskunft über das gab, was seine Mitarbeiter angeblich gehört haben, hat all dies selbst nicht mit eigenen Ohren vernommen. Er musste sich auf Berichte anderer verlassen. Wir können demnach nicht wissen, ob seine Schlussfolgerung, der Co-Pilot habe das Flugzeug absichtlich in den Sinkflug gebracht und somit den Tod aller 150 Passagiere wissentlich, bewusst und absichtlich herbeigeführt, der Wahrheit entspricht oder zumindest die plausibelste Hypothese darstellt, um zu erklären, was geschehen ist.

Um zu wissen, dass der Co-Pilot in selbstmörderischer und mörderischer Absicht gehandelt hat, müssten wir verifizieren können, dass er den Piloten, nachdem das Flugzeug seine Reisehöhe erreicht und die programmierte Route Richtung Düsseldorf eingeschlagen und er den Cockpit verlassen hatte, absichtlich aus der Kabine ausgeschlossen hatte. Wir müssten darüber hinaus wissen und also verifizieren können, dass er die Zeit, als er allein im Cockpit saß, absichtlich nutzte, um die Route der Maschine planvoll auf einen rapiden Sinkflug umzuprogrammieren.

Der Schluss des Staatsanwalts auf das bewusste intentionale Verhalten des Co-Piloten ist eine Ableitung von als gültig vorausgesetzten Annahmen q, r … also p. Wenn p, das bewusste intentionale Handeln der Person, wahr sein soll, muss auch q, die Annahme, die Person sei zur Tatzeit bei Bewusstsein gewesen, wahr sein. Aber auch q ist eine abgeleitete Aussage: Der Staatsanwalt behauptet als Prämisse für q die Annahme s: Der Co-Pilot habe geatmet, denn seine Atemgeräusche seien auf dem Voice-Recorder verzeichnet. Aber dies ist kein gültiger Schluss: Auch Personen, die bewusstlos sind, atmen. Wenn demnach s nicht als wahr angenommen werden kann, dann auch nicht q; wenn aber nicht q, dann auch nicht p. Also ist der ganze Schluss keine wahre Ableitung. Wenn sie keine wahre Ableitung ist, müssen wir die Äußerung als das hinstellen, was sie ist: eine bloße Vermutung.

Wir kämen der Wahrheit der Annahme, der Co-Pilot habe absichtsvoll gehandelt, so scheint es näher, wenn die Kriminalpolizei in seinen beiden Wohnungen in Montabaur und Düsseldorf bei der Suche nach Indizien und Beweismaterial auf ein Bekennerschreiben gestoßen wäre, aus dem die Absicht des Co-Piloten, auf solch spektakuläre und grausame Weise das Zeitliche segnen zu wollen, unzweideutig hervorginge. Aber wäre dies eine echte Verifikation der Hypothese, er habe das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht? Wenn wir das Herbeiführen von Ereignissen ohne bewusste Absicht und ohne Absehen der durch sie ausgelösten Folgeereignisse, aber auch das Eintreten von Ereignissen, die einer Absicht entsprechen, indes nicht aktuell mit dieser Absicht erfolgt, sondern wider Willen eingetreten sind, Unfälle oder Unglücksfälle nennen, könnte das Geschehen an Bord des Flugzeugs ein Unfall oder Unglücksfall gewesen sein, trotz der Tatsache, dass die Polizei ein Bekennerschreiben der genannten Art aufgefunden haben würde.

Ich kann ja zum Beispiel eine Mordtat ankündigen und die betreffende Person stirbt tatsächlich eines unnatürlichen Todes, obwohl ich meine Absicht NICHT ausgeführt habe – denn der Betroffene starb in Wahrheit durch einen Unfall. Ich hätte andererseits mein böses Vorhaben angekündigt und wirklich dem Betroffenen die Pistole auf die Brust gedrückt, doch noch bevor ich abdrücke, stirbt er vor Schreck an einem Herzinfarkt und also eines natürlichen Todes. Habe ich dann man böse Absicht verwirklicht?

Macht die Tatsache, dass der Co-Pilot laut aufgefundener ärztlicher Gutachten und mutwillig vernichteter Krankschreibungen unter starken seelischen Störungen, Depressionen, ja vielleicht sogar unter psychotischen Anfällen gelitten hat, die Ableitung der Annahme, er habe den Absturz absichtlich herbeigeführt, zwingend? Keineswegs. Er könnte tatsächlich schwer krank gewesen sein und sogar die fatale Absicht gehegt haben, und dennoch könnte das Ereignis ein Unfall gewesen sein.

Wir sagen leichthin, weil der und der seelisch gestört war, hat er sich getötet und bei seinem Suizid den Tod so und so vieler Mitmenschen in Kauf genommen. Aber richtiger wäre es zu sagen: Der und der hat sich getötet und dabei den Tod vieler Mitmenschen in Kauf genommen – daraus folgern wir, dass er seelisch krank war. Denn damit sehen wir unseren Begriff seelischer Krankheit erfüllt, der ein intentionales Verhalten impliziert, das von dem normalen Verhalten abweicht. MEHR können wir nicht sagen.

Wir können Wissen nur durch eindeutige Verfahren der Verifikation ableiten, zum Beispiel durch Augenzeugenschaft, die durch kritische Testverfahren nicht falsifiziert werden konnte. Weil es nun keine Augenzeugen gegeben zu haben scheint, und wenn es welche gegeben hätte, sie bei dem Absturz ums Leben gekommen wären, können wir über diese Quelle des Wissens ein für allemal nicht verfügen.

Wir können also in Wahrheit nicht WISSEN, was geschehen ist. Wir können mehr oder weniger gute Hypothesen bilden, die auf unseren allgemeinen Annahmen über das normale und abweichende Verhalten von Menschen beruhen, die ihre Handlungen absichtsvoll ausführen, so dass wir ihnen eine Verantwortung für diese Handlungen zusprechen dürfen. Doch in den meisten Fällen verfügen wir gar nicht über ein präzises Verfahren, die Gültigkeit unserer Hypothese im Einzelfall zu bestätigen.

Wenn nun der Co-Pilot die fatale Absicht gehegt und wirklich böswillig den Piloten aus der Kabine ausgeschlossen hat, um sie zu verwirklichen, dann aber in Wahrheit mit Erstaunen und Entsetzen feststellen musste, dass das Flugzeug aufgrund eines technischen Versagens zufällig gerade in diesem Moment in den Sinkflug abdriftete, und er infolge seiner Wahrnehmung in eine Panik geriet, die so groß war, dass sie seine Ohnmacht zur Folge hatte, würden wir dann noch sagen können, er habe seine schlimme Absicht verwirklicht?

Wenn einer mittels der Ausführung seines Suizids 149 Menschen mit in den Tod reißt, ist er dann ein Massenmörder? Wir wüssten dies nur auf Grundlage der Anwendbarkeit der Kriterien für Mord wie planmäßiger Vollzug und niedere Beweggründe auch in diesem Einzelfall. Doch die Anwendbarkeit dieser Kriterien müsste durch kriminaltechnische Verfahren des Verhörs, der Indizien und anderer Beweismittel erwiesen werden. Der Tote kann nicht verhört werden, die Indizien sind nicht eindeutig, Beweismittel wie schriftliche oder mündliche Ankündigungen der Tat scheinen zu fehlen. Also können wir die Opfer des Geschehens nicht als Mordopfer ansprechen, sondern als Menschen, die einem Schicksalsschlag anheimgefallen sind. Schicksal ist eine Kategorie, die uns angesichts der letzten Dinge durch den Kopf geht.

Wir erfahren von den Reaktionen der Umwelt und greifen die spezifische Reaktion der Trauer der Angehörigen und Betroffenen heraus. Hier gewahren wir das Lokalkolorit dieser menschlich tief verwurzelten Gefühlserregung: Die Erregung pflanzt sich in konzentrischen Kreisen vom innersten Kreis der Familie und Anverwandten über den Kreis der Freunde und Nahestehenden bis zu den allmählich sich überlappenden und verfließenden Kreisen der Nachbarn, der Menschen der Heimatregion und des Heimatlandes fort. Das Kondolenzbuch lag in einer Stadt diesseits des Rheins aus, nicht in einer Stadt jenseits des Rheins. Die natürliche Reaktion auf den Verlust naher Angehöriger kann konventionalisiert werden, wenn es sich um ein kollektives Ereignis handelt: Der Nachrichtensprecher setzt eine Betroffenheitsmiene auf und trägt eine schwarze Krawatte. Die Mitglieder des Bundestages erheben sich zu einer Gedenkminute. Dies geschieht freilich nur in dem Land, dessen Nationalität die Toten angehören.

Die natürlichen Affekte wie Trauer, Wut, Neid, Liebe und Hass sind der Rohstoff, aus dem sich das kommunikative Leben der Gruppen von der Familie, der Liebes- und Freundesgemeinschaft bis zur Nation mit Energien und Antrieben speist. Geht der Rohstoff aus, erstirbt das Leben der Gruppe, erlischt ihre Kommunikation. Es rettet sie keine Konvention und keine künstlich konstruierte Identität. Wenn den Liebenden die Liebe dahinschwindet, kann kein noch so heftiges Gestikulieren mit konventionellen Liebeszeichen die Bindung wieder erwärmen.

Wir aber sind nicht bestürzt über das, was geschah. Auch nicht, wenn es die Folge eines bösen Willens gewesen sein sollte, was zu wissen uns vielleicht für immer verwehrt ist. Denn wenn wir etwas wissen, dann ist es die tragische Tatsache, die Sophokles im Chorlied der Antigone ausspricht, dass es wohl viel Schreckliches auf Erden gibt, aber nichts, was schrecklicher ist als der Mensch.

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