Objektivität und Wahrheit I
Grundlinien einer Kritik des erkenntnistheoretischen und kulturalistischen Relativismus
Dass ich nicht hören kann, wie du das Musikstück hörst, das wir beide gleichzeitig hören, und umgekehrt, hindert uns nicht im mindestens daran, uns über das Gehörte zu verständigen, etwa zu fragen, wie es dem anderen gefallen hat oder ob er den Fehlgriff des Pianisten mitbekommen hat. Feststellungen dieser Art gelten für alle Sinneswahrnehmungen.
Wenn ich dich auf die Reproduktion des Gemäldes „Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ von Vermeer hinweise, gehe ich selbstverständlich davon aus, dass du ein Bild siehst, das dem von mir gesehenen zumindest ziemlich ähnlich ist. Ich kann dies ohne weiteres voraussetzen und muss nicht in der Tiefe unseres gemeinsamen lebensweltlichen Hintergrundes graben, um etwa festzustellen, dass die uns gemeinsame biologische Ausstattung dafür Sorge trägt, dass unsere sensorischen Fähigkeiten nicht fundamental voneinander abweichen.
Wir können uns einen Spaß daraus machen, das gemeinsam betrachtete Bild zu beschreiben: Du beginnst mit der Beschreibung der Körper- und Kopfhaltung des Mädchens, ich ergänze dies um die Beschaffenheit des Umhangs mit dem schmalen weißen Kragen und den Farben und kontrastreichen Formen des Kopftuchs, wir gehen so weit in der detaillierten Beschreibung, dass wir den Ausdruck der Augen und des leicht geöffneten Munds erfassen. Nach diesem und vielem anderen mehr händigen wir unseren Bechreibungstext an eine Gruppe von Freunden aus, die aus einer willkürlich zusammengestellten Reihe von gemalten und fotografierten Porträts von jungen Mädchen (in der sich natürlich auch der Vermeer befindet), die sich alle in großen Zügen ähnlich sehen, anhand unserer Beschreibung dasjenige Bild heraussuchen sollen, dem die Beschreibung in ihren Augen am nächsten kommt.
Was immer bei diesem kleinen Experiment herauskommen mag – wenn wir gute Beschreiber sind, lenken wir die Freunde vielleicht wirklich auf das richtige Bild –, wir haben dadurch bewiesen, dass wir sowohl über das Medium der sensorischen Wahrnehmung als auch das Medium der Sprache eine gemeinsame Lebenswelt teilen.
Der erkenntnistheoretische Skeptiker will mit uns das Hase-Igel-Spiel spielen: Er ist der Schlaumeier, der uns immer eine Nasenlänge voraus zu sein vorgibt. Wenn wir ihn darauf hinweisen, dass seine skeptische Annahme, wir seien in die Camera Obscura unserer inneren sensorisch-imaginativen Welt (oder unserer begrifflich-kulturellen Welt) eingeschlossen, durch den Hinweis darauf relativiert wird, dass uns der Freund mit seiner Wahrnehmung beispringt und wir gemeinsam Beschreibungen unserer Wahrnehmungsbilder anfertigen, die von neutralen Zeugen auf ihr Original hin befragt und bewertet werden können, dann ruft er wie der Igel: „Ich bin schon da!“ Und kommt uns mit der Zumutung, wir könnten ja nicht wissen, wie sich das wahre Aussehen des Mädchens und sein visuelles Abbild (in unserer visuellen Wahrnehmung oder auf Fotos) unterscheiden, denn wir könnten nur Bilder (und wir er sich ausdrückt: Vorstellungsbilder) miteinander vergleichen, der nicht abgebildete oder nicht vorgestellte Gegenstand in der Wirklichkeit, wenn es diesen denn gebe, sei gleichsam eine Tabula occulta.
Doch wir fragen: Was könnte das wohl sein, das wahre Aussehen des Gegenstandes, im Gegensatz zu dem von uns wahrgenommenen? Könnte denn das Mädchen in Wahrheit ganz anders aussehen als so, wie ich und du es sehen? Das scheint barer Unsinn zu sein. Demnach sieht das Mädchen so aus, wie du und ich es sehen, wenn auch nicht immer gleich, sondern je nach Licht und Schatten anders, anders je nach seiner Gemütsverfassung (wenn es lächelt oder griesgrämig dreinblickt) oder nach deiner und meiner Gemütsverfassung.
Worauf es ankommt, ist nicht nur unser Vermögen etwas zu sehen, sondern etwas sehend (oder hörend) wiederzuerkennen. Wir sehen den Freund von weitem und erkennen ihn am Gang, an seiner Haltung, seinem Hut, und wenn er näher kommt, an den Gesichtszügen. Dass wir den Freund unter verschiedenen atmosphärischen Bedingungen wie Licht und Schatten in vielen Nuancen anders sehen, stellt keinen prinzipiellen Einwand gegen die Tatsache dar, dass wir ihn schon aus der Ferne wiedererkennen können.
Der skeptische Relativist möchte uns befangen machen und um den Gewinn unserer freien, objektiven Erkenntnis bringen: Wir seien Gefangene der Bedingungen unseres Daseins, und zu den unsichtbaren Mauern, die wir nicht übersteigen können, oder den farbigen Fenstern oder Brillen, die unsere Sicht auf die Welt in nicht kontrollierbarer Weise verzerren, gehöre auch unsere begriffliche Ausstattung, die sich von Kultur zu Kultur, von Epoche zu Epoche, von Zeitalter zu Zeitalter so grundlegend unterscheiden würden, dass der Bewohner der einen Epoche oder Kultur nur glaubt, den Bewohner der anderen Epoche oder Kultur zu verstehen, in Wahrheit aber aufgrund der fundamentalen Differenz der Begriffssysteme oder Bezugssystem die Nachrichten aus solch exotisch-fremden Welten notwendigerweise missverstehen müsse. Es ist evident, dass man auf diesem Hintergrund schnurstracks weitergehen und auch den Begriff der Kultur relativieren und seinen Nachbarn hinfort als rätselhaften Exoten betrachten kann.
Wir fragen: Wenn unser Schlaumeier vorgibt zu wissen, dass die Zurufe zweier Leute über einen Fluss durch die aufsteigenden Dünste so sehr verzerrt werden, dass sie die eigentliche Botschaft nicht verstehen, sondern das, was sie zu verstehen meinen, mit der wahren Nachricht nicht übereinstimmt – müsste es unserem Skeptiker dann nicht ebenso ergehen und er könnte nur die ganz verzerrte Nachricht vernehmen? Aber wenn dem so wäre und er nicht die wahre, sondern immer nur die verzerrte Nachricht vernähme, woher wüsste er denn von der Differenz einer unverzerrten und einer verzerrten Nachricht? Wie könnte er davon ausgehen, dass uns objektive Erkenntnis nicht gegeben, die Wahrheit auf immer verschlossen sei, weil die Bedeutungen unserer sprachlichen Kommunikation fundamental durch das Begriffs- und Bezugssystem unserer Kultur eingeschränkt sind? Woher weiß er, was er den eigenen Voraussetzungen gemäß gar nicht wissen kann?
Wenn der Skeptiker den Grund dieser Differenz aus selber eingestandenem epistemischen Unvermögen gar nicht angeben kann, dann kehrt sich plötzlich wie im Märchen alles um und die Wahrheit tritt zutage: Denn beim Wegfall der angenommenen fiktiven Differenz hört auch unser Skeptiker den Zuruf des Nachbarn ganz gut und versteht ohne weiteres, was sein Opponent meint, wenn er ihn bittet, ihm aus der Sonne zu gehen oder ihn nicht weiter mit dem Hase-Igel-Spiel zu nerven.
Der Glaube an die Befangenheit all unserer Annahmen aufgrund der Tatsache, dass es keine Tatsachen an sich, sondern nur Interpretationen davon gebe, führt zur erkenntnistheoretischen Position des Solipsismus. Der Solipsist glaubt, die Bedeutungen der Begriffe seien bloß Sache der Interpretation und jeweils relativ auf das viel beschworene Bezugssystem, das sich unter der Hand wandelt oder auch durch revolutionäre Taten und Entwürfe radikal umgebaut werden kann. Wenn die Bedeutungen der verwendeten Begriffe aber ständig neuen Interpretationen ausgesetzt wären, könnte der Skeptiker in keinem Augenblick irgend etwas, geschweige denn sich selbst verstehen – wüsste er doch nicht zu sagen, ob das jetzt Verstandene nicht soeben einer neuen Interpretation ausgesetzt worden ist.
Der Skeptiker kann konstruktiv durch den Hinweis darauf widerlegt werden, dass wir bei unseren Wahrnehmungen oder unseren Kommunikationen keineswegs ständig im Nebel tappen, sondern durch die gemeinsame Sprache (nicht die lokale Sprache wie das Deutsche, sondern die Sprache als universelle Eigenschaft, deren akustische Variante eine neben anderen ist) uns mehr oder weniger starke Gewissheiten weiterreichen, die wir durch Kritik und Korrekturverfahren immer wieder zur Disposition stellen. Wer etwas Wahres sagt, mag auch mal danebenhauen: Dann identifizierst du vielleicht das Ding da hinten als einen Hund und weist mich darauf hin: „Schau mal, der ulkige Hund dort!“ Beim Näherkommen korrigiere ich dich und weise dich darauf hin, dass dort ein Hase im Gras kauert. Als eingefleischter Relativist wärest du freilich unbelehrbar (und es gibt merkwürdigerweise oder sogar paradoxerweise in der Tat neben fundamentalistischen Hitzköpfen kaum fanatischere Zeitgenossen als radikale Skeptiker und Relativisten, vor allem Kulturrelativisten) und würdest kontern: „Was immer es in deinen Augen sein mag, in meinen Augen ist das ein Hund, wenn auch ein sehr komischer Hund!“
Wenn aufgrund einer fundamental skeptischen und relativistischen Einstellung Verfahren der Kritik und Korrektur nicht zur Anwendung kommen können und a priori ausgeschlossen sind (denn der Relativist kann jede seiner Behauptungen durch geschickte Anpassung an ein geeignetes Interpretations- und Bezugssystem unwiderlegbar oder unanfechtbar machen), dann wäre auch der Unterschied zwischen richtig und unrichtig, wahr und falsch belanglos und irrelevant geworden. Aber was kann der Skeptiker und Relativist noch behaupten, wenn es gleichgültig ist, was er behauptet?
Der skeptische Relativist ist wie einer, der glaubt und verkündet, jemand würde in seiner Subjektivität dadurch wesentlich geprägt oder affiziert, dass man ihn Adam oder Eva tauft, dadurch, dass jemand Deutsch oder Japanisch gelernt hat, jemand arm oder reich, glücklich oder unglücklich ist. Aber mit der Subjektivität ist es wie mit dem Geld: Wir können es als Münze oder Schein greifen oder es kann sich in bloße Ziffern und Algorithmen verwandeln und unsichtbar werden – keine äußere Manipulation kann es, solange es existiert, in seinem Wesen verändern. Dass du der bist, der dies liest, kann durch keinen Begriff und keine Wahrheit, durch keine Tat und keinen Traum relativiert werden.
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