Objektivität und Wahrheit IV
Grundlinien einer Kritik des erkenntnistheoretischen und kulturalistischen Relativismus
Forschung und wissenschaftliche Erklärung nennen wir die Objektivierung von Wahrnehmungen und Informationen mittels wissenschaftlicher Verfahren und Methoden.
Wenn wir uns die Arbeit des Soziologen und Ethnologen vor Augen stellen und sie in großen Zügen beschreiben, bemerken wir am Startpunkt ihres Vorgehens die vorläufige und tastende Formulierung einer Frage nach dem Muster: „Warum gibt es in menschlichen Gruppen Phänomene der Art X?“ oder „Warum verhalten sich Menschen in bestimmten Gruppen beim Eintritt eines bestimmten Ereignisses oder in einer bestimmten Situation auf die Art X?“
Methodisch wichtig ist bei allen wissenschaftlichen Verfahren die Möglichkeit der unabhängigen Prüfung sowohl der zur Beantwortung der Ausgangsfrage erhobenen Daten und Informationen als auch der als Antwort auf die Ausgangsfrage aus den Daten und Informationen abgeleiteten Schlussfolgerungen: Dazu aber bedarf es mindestens zweier Beobachter oder Forscher, die ausgehend von derselben Fragestellung unter Anwendung derselben Methoden wie Beobachtung, Beschreibung, Klassifizierung und Befragung sowie logischer Ableitung ihre Resultate veröffentlichen – also potentiell allen Wissenschaftlern zugänglich machen, unter denen hoffentlich einige geneigt und bereit sind, die Forschungsberichte kritisch unter die Lupe zu nehmen und ihre Fragen und Einwände den Autoren zukommen zu lassen. Diese sollten die vorgebrachten Fragen und Einwände nicht leichtfertig unter den Teppich kehren oder durch geschmeidige Interpretationen ihrer Daten ausklammern und neutralisieren, sondern zum Anlass nehmen, ihre Antworten zu modifizieren und gegebenenfalls zu verwerfen. Im letzteren Falle wäre zwar viel Aufwand ohne durchschlagende Ergebnisse betrieben worden – doch nicht ganz umsonst: Ein gültiges Resultat wäre immerhin, dass die verworfene Antwort aus der Liste der möglichen Antworten gestrichen werden kann.
Wir haben hervorgehoben, dass mindestens zwei unabhängig voneinander nach denselben wissenschaftlichen Verfahren arbeitende Beobachter und Forscher oder zwei Forscherteams zu Werke gehen müssen: Nur wenn beide zu denselben Ergebnissen kommen, sind wir geneigt, die Objektivität ihrer Erkenntnisse ernsthaft in Erwägung zu ziehen – denn dass beide in die Irre gegangen sind, ist bei einer sorgfältigen Beobachtung der wissenschaftlichen Standards unwahrscheinlich, wenn auch nicht ausgeschlossen. Wenn die Ergebnisse der beiden Forscher allerdings gravierend (das heißt bei Zugrundelegung derselben Daten um mehr als die Hälfte der Schlussfolgerungen) voneinander abweichen, ziehen wir die Objektivität ihrer Erkenntnisse in Zweifel, wenn wir auch anders als durch ein neues Forschungsvorhaben mit einem erhöhten Mitteleinsatz nicht beurteilen können, ob beide Forscher falsch lagen oder der eine zu wahren, der andere zu falschen Schlüssen gelangt ist.
Wir bemerken, dass es nicht genügt, unter einem Fragehorizont Daten und Informationen auf der Grundlage der Objektivierung von Wahrnehmungen zu erheben, sondern dass wir am Ende Aussagen über die beobachteten Phänomene erwarten, die ihr Zustandekommen, ihr Auftreten, ihre Wiederholung, ihr Verschwinden oder ihre typischen Verläufe erklären. Wir gelangen von den Sätzen über Beobachtungen zu erklärenden Sätzen durch Anwendung von logischen Schlussverfahren deduktiver oder hypothetischer Natur:
wenn p, dann q
wenn p, dann r
r: also q
Wenn ein naher Angehöriger stirbt, ändern Menschen ihr Verhalten.
Wenn ein naher Angehöriger stirbt, empfinden Menschen Trauer.
Menschen empfinden Trauer, also ändern sie ihr Verhalten.
Mit einer solchen Schlussfolgerung verknüpfen wir die zu erklärende Verhaltensänderung gemäß dem Muster der Ausgangsfrage „Warum verhalten sich Menschen in bestimmten Gruppen beim Eintritt eines bestimmten Ereignisses und in einer bestimmten Situation nach der Art X?“ mit einem Grund, einer psychischen Disposition oder Intention, die immer dann oder in den meisten Fällen ausgelöst wird, wenn das Ereignis des Ablebens eines nahen Angehörigen eintritt, und immer dann oder in den meisten Fällen sich in einem bestimmten Trauerverhalten ausdrückt. Wir verstehen eine Verhaltensänderung, wenn wir den psychischen Grund verstehen, der sie auslöst: Das Verhalten wird uns durchsichtig auf seinen Sinn.
Wenn Ethnologen eine Gruppe schriftloser Insulaner beobachten, deren Sprache ihnen unbekannt ist, müssen sie unabhängig voneinander ihre Wahrnehmungen über das Verhalten der Gruppenmitglieder objektivieren: Das können sie zum Beispiel dadurch, dass sie Daten ihrer Beobachtungen mittels Kameras festhalten und speichern. Hier ist zu bemerken, dass in nicht wenigen Fällen sichergestellt werden muss, dass die Beobachteten aufgrund ihrer eigenen Beobachtung, dass sie beobachtet werden, und aufgrund der Tatsache, dass sie diese Beobachtung irritiert, provoziert oder stimuliert, ihr Verhalten nicht auf unvorhersehbare Weise abwandeln und gleichsam verfälschen. Mittels geschickten Einsatzes intelligenter Beobachtungstechniken können solche Verfremdungseffekte gezielt ausgeschlossen werden.
Wenn unsere Forscher beobachten, dass ein Trauerfall in einer Familie eine wiederkehrende Verhaltensmodifikation und ein bestimmtes Verhaltensritual auslöst, können sie davon ausgehen, dass die Verhaltensmodifikation und das rituelle Verhalten Muster zum Ausdruck bringen, die nicht der Zufall diktiert, sondern von der Absicht der Betroffenen ins Werk gesetzt werden, ihren Verlust zu bewältigen. Hier gilt demnach die oben aufgestellte Schlussfolgerung. Und hier dürfen wir davon ausgehen, dass beide Beobachter zu derselben Schlussfolgerung gelangen.
Wir bemerken aber ausdrücklich, dass diese Schlussfolgerung nur gilt, wenn wir die Intention und das Motiv des zu erklärenden sozialen Handelns mit dem Begriff „Trauer“ richtig erfasst und zurecht in unsere Ableitung eingesetzt haben. Dass können wir, wenn wir Trauer und die Rituale, mit denen der Verlust naher Angehöriger ausgedrückt und bewältigt wird, als universellen Ausdruck der Gemütsbewegungen verstehen und die Übersetzung der sprachlichen Ausdrücke für Trauer und für das relevante Verhalten aus der Sprache der Indigenen in das Deutsche für wahrheitsbewahrend halten: Die Sätze, mit denen jene ausdrücken, dass sie traurig sind, bedeuten auf Deutsch, dass wir traurig sind.
Freilich können wir dies erst empirisch überprüfen, wenn wir die Sprache der Insulaner verstehen und uns über ihre Handlungsabsichten schlau machen können, indem wir sie in typischen Situationen wie beim Tode eines nahen Angehörigen nach ihrem Befinden fragen und danach, ob ihr Verhalten ihre Trauer zum Ausdruck bringt.
Konstruieren wir indes folgenden Fall, den unsere Forscher bei exotischen Inselbewohnern vorfinden, deren Sprache sie nicht verstehen: Wenn ein naher Angehöriger stirbt, beobachten sie bei Kindern das uns natürliche Trauerverhalten, während sie die Erwachsenen gesteuerte Verhaltensmodifikationen vornehmen und Rituale vollziehen sehen, die unseren Trauerritualen zu entsprechen scheinen. Doch in diesem Falle könnten die beiden unabhängig voneinander operierenden Beobachter zu verschiedenen oder entgegengesetzten Schlussfolgerungen kommen: Der eine interpretiert seine Daten in der gewohnten Manier und versteht das Verhalten der Fremden in der Weise, wie wir unser eigenes Verhalten verstehen. Der andere erweitert seine Daten um genauere Beobachtungen und findet, dass die rituellen Verhaltensweise Elemente enthalten, die wir als Ausdruck der Freude oder des Jubels verstehen würden. So kleiden sich die Betroffenen in Weiß, schenken sich Blumen, bekränzen den Verstorbenen und stimmen Lieder an, die einen freudig-psalmodierenden Ausdruck offenbaren.
Unser sorgfältiger Beobachter hat dazu seine Theorie um die erklärende Annahme erweitert, dass die Inselbewohner einem uns zwar fremden, aber nicht unzugänglichen mythischen Glauben anhängen, wonach der Tod eine Erlösung von einem Leben bedeutet, welches sie als Strafe oder Zustand beängstigender Verlorenheit empfinden. Der Ethnologe bedient sich zur Unterfütterung seiner Annahme dabei der Analogie zu den Glaubenssystemen gewisser gnostischer Sekten der Antike oder des europäischen Mittelalters.
Hier kommen wir zu dem unerfreulichen Ausgang eines Forschungsprogramms, bei dem die Schlussfolgerungen der beiden Experten nicht übereinstimmen, was bedeutet, dass entweder die eine Schlussfolgerung wahr, die andere falsch oder beide Schlüsse falsch sind. Eine echte Aufklärung ist hier nur von einer Erweiterung des Forschungsprogramms zu erwarten, die wahrscheinlich die Entschlüsselung der Sprache der Inselbewohner einzuschließen hätte: So könnte beispielsweise anhand der Übersetzung der aus rituellem Anlass abgesungenen Lieder die wahre Bedeutung des Verhaltens entschlüsselt werden.
Die Forscher könnten aufgrund zusätzlicher Informationen zu anderen Annahmen und neuen Schlussfolgerungen kommen: Wenn sich mehrere Gruppen ein örtlich und von den Ressourcen her beschränktes Territorium teilen, kann es zu verhaltensprägenden Dynamiken der Konkurrenz und Rivalität kommen, mittels deren Ressourcen wie Nahrungsquellen oder Fortpflanzungsmöglichkeiten aufgeteilt werden. Allemal tendiert das Spannungsverhältnis zu den geschätzten und gefürchteten Nachbarn dazu, sich in Absetzbewegungen, Umformungen, Umkehrungen, ja Parodien des kunsthandwerklichen, rituellen und kommunikativen Ausdrucksgebarens zu entladen. Wenn die einen aus traurigem Anlass sich in dunkle Stoffe oder Schleier hüllen, bevorzugen die anderen helle Stoffe, wenn die einen schleppenden Ganges Klagelieder singen, hüpfen die anderen auf und ab und psalmodieren Jubelchöre. Nennen die einen sich Gog, so die anderen Magog. Nicht zu vergessen das Bedürfnis, die Teil- und Untergruppen einer Gruppe zeichenhaft voneinander abzusetzen und beispielsweise Altersgruppen, Krieger, Schamanen und Priester nach Tracht und Gebaren, bisweilen sogar nach Sondersprachen und Dialekten prägnant auftreten zu lassen. Warum sollten einfache Leute mit denselben aufwendigen rituellen Ehren zu Grabe gebracht werden wie vornehme, die durch Prestige und Reichtum hervorstechen? In solchen Fällen erübrigt sich bisweilen die zusätzliche Annahme eines exquisiten Mythos, der das abweichende Ausdrucksverhalten einer Gruppe gegenüber einer anderen Gruppe künstlich beleuchten und erklären soll.
Wenn unsere Forscher das exotische Verhalten der Insulaner mit Hilfe der zusätzlichen Annahme über die verhaltensprägende Wirkung der Gruppendynamiken von Rivalität und Konkurrenz erklären, machen sie diese Annahme auf dem Hintergrund von allgemeinen Annahmen über die Struktur des menschlichen Geistes oder der menschlichen Natur, in der Rivalität und Konkurrenz eines von vielen universellen Mustern bilden. Sollten sie damit zu übereinstimmenden Schlussfolgerungen kommen, befeuert dies die Gemeinschaft der Forschenden in ihrem Bemühen, der transkulturellen mentalen Struktur des Menschen mit der Erforschung der lokalen Kulturen ihrer Verkörperung nachzuspüren.
Könnten die Forscher bei ihrer Untersuchung exotischer menschlicher Kulturen zu Schlussfolgerungen kommen, die widersprüchlich sind oder falsch, weil die von den erwähnten Inselbewohnern bei ihren Handlungen anlässlich des Todes naher Angehöriger vorausgesetzten Begriffe von Leben und Tod von unseren Begriffen fundamental abwichen?
Wenn die Forscher auf eine Gruppe träfen, die angesichts des Todes eines nahen Angehörigen nicht die uns typisch scheinenden Verhaltensmuster der Trauer und Trauerbewältigung zeigten, sondern ihre Toten achtlos am Wegesrand liegen ließen, zum Fraß für das wilde Vieh? Wenn sie beobachteten, dass dieses Verhalten nicht einer Ausnahmesituation wie einer exemplarische Bestrafung geschuldet wäre (die Ausgangssituation der Tragödie Antigone des Sophokles) oder dem Chaos von Krieg und Zerstörung (die Ausgangssituation der Ilias des Homer – Prooimion: Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus/Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte/Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs/Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden/Und dem Gevögel umher.). Sondern wenn sie beobachteten, dass solch ein außergewöhnliches Verhalten systematisch vom Ereignis des Ablebens von Angehörigen ausgelöst würde – sprächen wir dann von einer uns sehr fremden, exotischen Kultur, die wir mit unserem Begriffssystem nicht darstellen können, oder täten wir nicht Recht darin, jener Gemeinschaft allen Anspruch auf die Klassifikation als menschliche Kultur zu bestreiten?
Wenn unsere Forscher solch befremdliche Beobachtungen machen müssten, was aller Wahrscheinlichkeit widerspricht, hieße das also nicht, dass jene Exoten das Leben und den Tod und andere oder alle anderen fundamentalen Begriffe der menschlichen Existenz im begrifflichen Rahmen einer Kultur definierten, die für uns unzugänglich und unverständlich wäre, sondern es hieße, dass wir sie nicht als Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft würden identifizieren können. Damit retten wir die Objektivität unseres Verstehens und die Wahrheit der Aussagen, mit denen wir erklären, was wir überhaupt zu erklären in der Lage sind.
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