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Philosophische Konzepte: Absicht

08.11.2017

Du bist bei Freunden zu Gast, willst nach der Tasse greifen und greifst daneben, sodaß sie zu Boden fällt. Du siehst, was passiert ist, und stößt einen kleinen, kaum hörbaren Fluch aus. Die Verwünschung gilt dir selbst, auch wenn du deshalb danebengegriffen hast, weil im Moment, da du zugreifen wolltest, das Fenster durch einen unvermuteten Windstoß mit einem Knall zufiel, der dich erschreckte.

Du sagst: „Mist, ich habe danebengegriffen!“ Du sagst nicht: „Meine Hand hat danebengegriffen.“ Auch wenn der Schreck dich übermannte und so die äußere Ursache für deinen Fehlgriff darstellte, entschuldigst du dich bei deinen Gastgebern, weil du die Tasse hast auf den Boden fallen lassen. Du könntest gleichsam mildernde Umstände geltend machen, indem du auf die äußere Ursache deines Verhaltens hinweist, aber du wirst, vor allem wenn es sich um eine kostbare Tasse aus edlem Porzellan handelt, dennoch deinen Gastgebern anbieten, so oder so für den Schaden geradezustehen.

Lebten wir in einem geschlossenen deterministischen Universum, würdest du nicht sagen „Ich habe danebengegriffen“, ja nicht einmal „Meine Hand hat danebengegriffen“, sondern „Diese Hand hat danebengegriffen“.

Hätte dein lebhaftes Hündchen, das du mit zu deinen Gastgebern gebracht hast, sich frech an die Tischkante gelehnt, um Krümel vom Tisch zu stibitzen, und die Tasse dabei beiseitegefegt und sie wäre auf diese Weise zu Bruch gegangen, könnten die Gastgeber dich als Hundebesitzer gleichsam für die Missetat des Tiers in Haftung nehmen, und es wäre so, als hättest du selbst die Tasse zu Fall gebracht, wenn du wie Anstand es heischt den Schaden wiedergutmachst.

Indes würden wir niemals sagen: „Du mußt für den Schaden aufkommen, dein Hund hat danebengegriffen und so ist die Tasse zu Boden gefallen.“

Der Hund hatte natürlich weder die Absicht, die Tasse zu ergreifen, und ist dabei kläglich gescheitert, noch hatte er die Absicht, die Tasse vom Tisch zu fegen, um besser die restlichen Krümel von der Tischplatte zu lecken. Hunden wie Tieren überhaupt unterstellen wir keine Absichten, sondern Motive, Wünsche, Antriebe, gewisse Bedürfnisse zu erfüllen. Und wenn sie dabei scheitern, sprechen wir nicht von Versagen oder Fehlverhalten, sondern von Unvermögen und Mißerfolg.

Absicht ist ein Konzept, das wir philosophisch aus dem trivialen Grund nennen, weil es unsere menschliche Art zu leben in wesentlicher und spezifischer Weise kennzeichnet: Würde es aus unserem alltäglichen Sprachgebrauch mutwillig getilgt oder verschwinden, wären wir nicht diejenigen, die wir zu sein vorgeben. Denn beispielsweise automatenhaft oder wie ein Automat absichtslos Worte und Sätze äußern heißt nicht leben, wie wir als Sprecher einer natürlichen Sprache leben.

Um bestimmte Absichten zu verwirklichen, bedürfen wir bestimmter Fertigkeiten und Routinen, wie zu gehen, zu greifen, Handwerkszeug oder Maschinen oder Geräte wie Fahrräder und Autos zu benutzen oder Spiele zu spielen. Aber eine Absicht zu verwirklichen ist nicht dasselbe wie eine Fertigkeit auszuüben. Wenn wir beabsichtigen, mit dem Fahrrad eine kleine Tour durch den Park zu machen oder einen Freund zu besuchen, können wir unsere Absicht freilich nicht verwirklichen, wenn wir nicht Fahrrad fahren können. Aber bloß mit dem Rad zu fahren, weil man gerne Rad fährt, ist etwas anderes als es als Mittel für einen weitergehenden Zweck zu nutzen.

Wir weisen auf den eigentümlichen Umstand hin, daß unser Versagen bei dem Versuch, eine absichtsvolle Bewegung wie das Greifen nach der Tasse auszuführen, uns wie eine Quasi-Absicht zugerechnet wird, denn wir werden für den Schaden haftbar gemacht, der aus unserem Versagen folgt. Dies gilt sogar, wenn wir im Gedränge einem anderen aus Versehen auf die Füße treten, denn wir entschuldigen uns für unser Fehlverhalten, sogar wenn wir sagen: „Entschuldigung, das war nicht meine Absicht!“

Der Hund, der mittels erfolgreicher Dressur gelernt hat, die Frisbeescheibe im Flug aufzufangen, verhält sich auf seine geschickte Weise nicht, weil er die Absicht hat, seinem Herrchen seine Kunstfertigkeit zu beweisen, sondern weil das Fangen der Scheibe einen Stimulus darstellt, den adäquat zu beantworten ihm eine Belohnung wie ein Leckerli oder die Streicheleinheit seines Besitzers in Aussicht stellt. Wenn es ihm mißlingt, die Scheibe zu schnappen, unterstellen wir ihm nicht einen Mangel an Willen oder gar die Absicht, sein Herrchen zu ärgern, sondern ein Versagen, das ihn vielleicht als blutigen Anfänger in der Ausübung dieser Fertigkeit ausweist.

Natürlich können wir die Absicht, unseren Freund zu besuchen, mit dem Vergnügen an einer angeregten Unterhaltung verbinden, die das Zusammensein mit ihm in Aussicht stellt. Aber das in Aussicht gestellte Vergnügen ist nicht der Stimulus, der uns dazu antreibt, uns aufs Fahrrad zu schwingen, und bliebe es aus, weil wir unseren Freund in einer traurigen Verfassung vorfinden, würden wir deshalb nicht unverzüglich das Weite suchen und ihn seiner mißlichen Lage überlassen. Hier stoßen wir auf ein weiteres Konzept, Freundschaft und andere sittliche Institutionen, die unsere Art, zu leben und Absichten zu fassen oder absichtsvoll zu handeln, prägen.

Der Unterschied zwischen Stimulus (Reiz, Antrieb) und Absicht erschließt sich uns aus der einfachen Tatsache, daß wir als biologische Lebewesen oft und Tiere im allgemeinen genötigt sind, den Stimulus durch adäquate Reaktionen zu beantworten, wie wenn wir unseren Hunger stillen – indes auch auf die unmittelbare Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie des Hungers sind wir zu verzichten willens und in der Lage, wenn beispielsweise unser Freund uns vor aufgetischtem leckeren Kuchen vom plötzlichen Tod eines nahen Angehörigen berichtet, der ihm augenscheinlich nahegeht und uns aus Hochachtung und Höflichkeit gebietet, nicht gleich herzhaft zuzulangen.

Wir können die Verwirklichung von Absichten nicht nur aufschieben, sondern auch unterlassen. Wir hatten die Absicht, eine Reise anzutreten, unterlassen dies aber und bleiben bei unserer alten Mutter, deren Gesundheitszustand sich plötzlich verschlechtert hat und die zur Zeit auf unsere Pflege angewiesen ist.

Der Zeitraum zwischen dem Fassen einer Absicht und ihrer Verwirklichung ist unbestimmt und hat für ihren Zusammenhang keine kausale Relevanz. Wir können eine Frage wie aus der Pistole geschossen spontan und ohne zu zögern beantworten; die Spontaneität unserer verbalen Reaktion weist sie aber nicht als absichtslos aus, denn wenn wir beispielsweise als Zeuge vor Gericht auf die Frage des Untersuchungsrichters, ob wir den Diebstahl mit eigenen Augen beobachtet haben, wie aus der Pistole geschossen antworten, wir seien zur fraglichen Zeit gar nicht am Tatort gewesen (um unseren Freund und uns selbst zu decken), können wir des Meineids beschuldigt werden, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, daß wir Komplize des Täters waren.

Wir können die Absicht hegen, einmal die Uffizien in Florenz zu besichtigen, aber ihre Verwirklichung immer wieder aufschieben, bis wir sie endlich nach Jahr und Tag in die Tat umsetzen.

Betrachten wir nunmehr die semantische Form der Sätze, mit denen wir Absichten äußern, im Unterschied zu Aussagen, in denen wir uns über unsere mentale oder emotionale Befindlichkeit auslassen.

Betrachten wir folgende Aussagen:

1.1 „Ich will ins Kino gehen, um mir den neuen Film mit dem Schauspieler X anzusehen.“

1.2 „Ich habe die Absicht, ins Kino zu gehen, weil ich mir den neuen Film mit dem Schauspieler X ansehen will.“

1.3 „Ich gehe ins Kino, weil ich mir den neuen Film mit dem Schauspieler X ansehen will.“

2.1 „Ich will ins Kino gehen (und nicht spazieren gehen), weil es regnet.“

2.2 „Ich würde ins Kino gehen, wenn ich kein Kopfweh hätte.“

3.1 „Mir ist übel, weil ich Kopfweh habe.“

Die Aussagen unter 1 sind gleichbedeutend, denn sie drücken dieselbe Absicht aus, indem sie denselben Grund dafür anführen, diese Absicht zu hegen. Hier stoßen wir auf den grundlegenden oder konzeptuellen Unterschied zwischen Grund und Ursache, den der homonyme Wortgebrauch der deutsche Konjunktion „weil“ verschleiert. Der Gebrauch von „weil“ in 1.2 und 1.3 ist rein deskriptiv in Hinsicht auf den Grund und Inhalt der geäußerten Absicht, während der Gebrauch von „weil“ in 2.1 rein kausal in Hinsicht auf die Ursache der Entscheidung des Sprechers für eine bestimmte Handlungsoption und der Gebrauch von „weil“ in 3.1 rein kausal in Hinsicht auf das Befinden dessen ist, der ihn äußert.

Semantisch interessant ist die konditionale Aussage in 2.2. Sie setzt die Absicht, ins Kino zu gehen voraus, und gibt zugleich den Grund an, weshalb der Sprecher sie nicht verwirklicht. Wir können nämlich 2.2 so umformen:

2.3 „Ich habe zwar die Absicht ins Kino zu gehen, gehe aber nicht, weil ich Kopfweh habe.“

Semantisch interessant ist dieser Fall, weil die Angabe des intentionalen Grunds, die Absicht nicht zu verwirklichen, mit der Angabe einer nichtintentionalen Ursache übereinstimmt. Denn der Grund, den der Sprecher für seine Verwerfung der Absicht, ins Kino zu gehen, anführt, ist eine physische Ursache, die Tatsache, daß er Kopfweh hat.

Klar ist, daß Satz 3.1 gegenüber den vorstehenden Sätzen eine völlig andere semantische Form aufweist. Wir analysieren ihn so:

3.2 „Mir ist übel. Ich habe Kopfweh.“

Kopfweh zu haben ist eine Form des Unwohlseins. Der Satz beschreibt demnach nichts weiter als eine spezifische Form des gefühlsmäßigen Befindens oder Selbstgefühls, nämlich des Unwohlseins – eben diejenige, welche durch Kopfschmerzen hervorgerufen wird. Der Gebrauch der Konjunktion „weil“ scheint uns hier keine eigentliche kausale Rolle zu spielen, er ist semantisch redundant, denn Kopfweh zu haben ist eben eine spezifische Form des Unwohlseins. Der Satz gibt eine Beschreibung der emotionalen Verfassung des Sprechers.

Diese Analyse klärt uns darüber auf, daß semantisch scheinbar analoge Sätze wie 2.1 „Ich will ins Kino gehen (und nicht spazieren gehen), weil es regnet“ keine Beschreibung der emotionalen Verfassung des Sprechers liefern. Denn wir können den Satz nicht in analoger Weise ersetzen durch die Umformung:

Ich will ins Kino gehen. Es regnet.

Oder kurz: Absichten sind keine Emotionen und Sätze über Absichten kein Ausdruck und keine Beschreibung von Emotionen.

Auf diesem Fehlschluß, daß Absichten Emotionen und Sätze über Absichten Beschreibungen von Emotionen darstellen, beruht das neuropsychologische Mißverständnis, Absichten oder die mentalen Zustände, die sie verkörpern, als physische oder Hirnzustände anzusehen, die in bestimmte Reizmuster oder neuronale Stimuli analysiert werden können.

Wäre dem so, ist zu fragen, wo der neuronale Impuls desjenigen „überwintert“, der in jungen Jahren die Absicht hegt, einmal die Uffizien in Florenz zu besuchen, und seine Absicht, an die er über Jahre nicht einmal mehr gedacht hat, im hohen Alter doch noch verwirklicht.

Absichten, bemerken wir, können wie bei wohlbedachten Vorhaben und Planungen genau umrissene Gedankeninhalte sein, können aber auch vage bleiben oder völlig ungreifbar wie in allen Fällen, in denen wir gefragt, warum wir tun, was immer wir gerade tun, antworten: „Weil mir danach ist“, „Weil ich es gerne mache“ oder „Besser als sich zu langweilen“.

Echte Gründe von Absichten liegen vor, wenn wir etwas tun, um etwas anderes damit zu bezwecken oder zu bewirken. Das, was ich bezwecke, erklärt, warum ich tue, was ich tue; wenn ich den Wasserhahn aufdrehe, um die Kanne damit zu füllen; wenn ich den Schalter drücke, um das Licht anzuschalten; wenn ich die Schuhe anziehe, um nach draußen zu gehen. Diese Fälle unterscheiden wir von denjenigen, die vorliegen, wenn ich etwas unwissentlich oder versehentlich tue und damit etwas bewirke, was ich nicht gewollt und beabsichtigt habe; wenn ich versehentlich gegen den Schalter gerate und das Licht geht an; wenn ich meinen Freund anrufe, aber eine fremde Stimme meldet sich, weil ich eine falsche Nummer eingegeben habe; wenn der Attentäter zwar die Absicht hatte, den Präsidenten zu ermorden, er aber einen anderen erwischt, weil der Präsident sich an diesem Tag sich wieder einmal bei der Fahrt im offenen Wagen von einem Double vertreten ließ.

Wenn der weiße oder schwarze Attentäter den schwarzen oder weißen Präsidenten aus Haß auf die andere Rasse ermordet, sprechen wir von niederen Beweggründen, die wie Habgier oder Heimtücke zu den Merkmalen des Kapitalverbrechens zählen. Wenn der Attentäter ein gedungener Mörder ist, der die Tat im Auftrag einer fremden Regierung oder politischen Macht aus purer Geldgier ausführt, rechnen wir die eigentliche Absicht seinen Auftraggebern zu; er selbst muß natürlich die Absicht haben, die Tat auszuführen, um sich das Blutgeld abholen zu können, er muß sich somit die Absicht der anderen zur eigenen Absicht machen, auch wenn ihn die Gründe seiner Auftraggeber für die Absicht, den Präsidenten des verfeindeten Staates zu töten, nicht scheren oder er sie sogar ablehnt.

Der Auftragskiller kann aufgrund seiner kriminellen Vorgeschichte oder seiner kriminellen Verstrickungen ein willenloses Instrument in den Händen seiner Auftraggeber sein, die ihn zur Ausführung der Tat unter Androhung schwerwiegender bis tödlicher Strafen bei Nichtbefolgung nötigen. Auch in diesem Falle muß der Killer die Absicht hegen, die Tat auszuführen, um sie überhaupt ausführen zu können, denn er wird einen Mordplan schmieden, Waffen besorgen oder den als Tatort geeigneten Aussichtspunkt an der Straße ausfindig machen. Auch wenn der Täter den Mord als willfähriges Werkzeug in den Händen seiner Dienstherren begangen hat, wird er durch die Tat moralisch und rechtlich schuldig, denn er handelte nicht ohne eigene Absicht oder eigenen Vorsatz. Dieser Fall führt uns zu der wichtigen Unterscheidung zwischen absichtlich und freiwillig, denn wie gesehen, können wir etwas absichtlich, aber unfreiwillig tun. Unfreiwillig bedeutet dabei nicht unwillentlich, denn auch der gedungene und unter Zwang handelnde Killer agiert nicht wie ein Roboter, der sein eingespeistes Programm abspult.

Der Roboter weiß im Gegensatz zu dem Killer nicht, was er tut. Wissen, in einem schwachen Sinne von Gewahrsein oder Bemerken, ist ein internes Merkmal von Absichten und absichtsvollem Handeln. Deshalb werden mildernde Umstände vor Gericht geltend gemacht, wenn das Bewußtsein oder die Fähigkeit der Selbstwahrnehmung beim Täter aufgrund von Hirnschädigung oder drogeninduzierter Bewußtseinstrübung eingeschränkt oder zeitweise ausgeschaltet ist.

Absichten können kohärent sein und gleichsam logisch konzentrische Kreise bilden, wie die Absicht nach dem Vortrag im intimen Freundeskreis noch einen gemeinsamen Umtrunk zu nehmen. Die Absicht, sich den Vortrag anzuhören, und die Absicht, mit den Freunden einen trinken zu gehen, sind kohärent und gleichsam logisch konjunktiv verknüpft, sie bedingen oder begründen einander aber nicht, sind also gleichsam logisch nicht implikativ. Denn sich den Vortrag anzuhören ist nicht notwendig die Bedingung dafür, sich anschließend mit den Freunden zu treffen (man könnte auch nachträglich zu ihnen stoßen), und die Absicht, mit den Freunden einen trinken zu gehen, ist – von Ausnahmefällen abgesehen – nicht der hinreichende Grund für die Absicht, sich den Vortrag anzuhören.

Man könnte sagen, ein großer Teil dessen, was wir das menschliche Drama nennen dürfen (und seine literarische Verdichtung und Zuspitzung im Schauspiel und zwar sowohl in der Komödie als auch in der Tragödie, am überzeugendsten in beider Verschmelzung, der Tragikomödie) besteht in der Larvierung und Verschleierung unserer wahren Absichten – ob nun vor den anderen oder vor uns selbst. Denn wir sind nicht nur fähig, etwas zu beabsichtigen und absichtsvoll zu tun, sondern auch unsere wahren Absichten vor anderen und vor uns selbst zu verbergen. Im ersten Fall sprechen wir von Tücke, Heuchelei, Betrug oder Scharlatanerie, im zweiten Fall von Selbsttäuschung, Bigotterie, uneigentlicher Existenz (Heidegger) oder Unaufrichtigkeit (mauvaise foi, Sartre).

Der Betrüger, der Hochstapler, der professionelle Don Juan und der Heiratsschwindler sind die bekanntesten Typen, die von unserer Fähigkeit profitieren, unsere eigentlichen und das heißt zumeist schäbigen, egoistischen oder destruktiven Absichten hinter dem Schleier der Menschenfreundlichkeit, Zuneigung und Liebe zu verhüllen. Betrüger sind oft überdurchschnittlich intelligente, feinfühlige und zugleich gerissene und hinterlistige Exemplare der Gattung, sie haben umso leichteres Spiel, als sie mit den intimsten und empfindlichsten Gefühlen ihrer Opfer spielen.

Ein simples Modell der doppelten Absichten haben wir am Heiratsschwindler, der sein Opfer mit falschen Versprechen ködert, um seinen eigentlichen Zweck zu verwirklichen, nämlich es um seine Barschaft und sein Vermögen zu erleichtern. Der Schwindler ist Schauspieler in nuce, denn er spiegelt der Frau echte Gefühle von Zuneigung und Liebe vor, auch wenn er innerlich kalt bleibt. Das bis zur Genialität sich erheben könnende Talent zur Mimikry falscher Absichten beruht auf der intimen Kenntnis jener wahren Absichten, die der wahrhaft Verliebte oder Liebende seiner Angebeteten entgegenbringt.

Uns zeigt der Fall, daß die Äußerung von Absichten in einer gewissen sozialen Situation, beispielsweise das Heiratsversprechen, einen sittlichen Wert annimmt, der rechtlich geltend gemacht werden kann, denn ein Heiratsversprechen in unsittlicher Absicht gilt vor dem Gesetz für strafwürdig. Der Heiratsschwindler trägt die Maske einer Rolle, die er nicht ausfüllt und zu erfüllen nicht willens ist. Wir stoßen demnach auf Äußerungskontexte von Absichten sittlich-sozialer Natur, die den Sprecher mehr oder weniger mit der Aufgabe oder Pflicht behaften, für ihre Erfüllung Sorge zu tragen. Dieser Charakter der Verbindlichkeit ist nur solchen Absichtserklärungen eigentümlich, die das soziale Dasein des Angesprochenen treffen und verändern. Ansonsten gilt nämlich für unsere Absichten und ihre Verlautbarungen, daß wir sie aufgeben und in den Wind schlagen können, wie es uns beliebt, wir vergessen sie meist, werden ihrer müde und überdrüssig, und lächeln süffisant oder selbstironisch über ihre Vereitelung wie über die vor der ganzen Freundesschar geäußerte Absicht, im nächsten Jahr das Rauchen ganz bestimmt aufzugeben.

Als simples Modell für die Selbsttäuschung bietet sich uns die zeitgemäße Form der Bigotterie in der Gestalt des Aufgeklärten an, der alles glaubt, was in seinem Tageblatt steht und in den „Tagesthemen“ kommentiert wird. Er erkennt sich und erkennt sich nur in jenen anderen wieder, die dasselbe auf dieselbe Weise daherreden wie er. Diejenigen, die sträflich von seinem Glauben und seiner Diktion abweichen, hält er für gefährliche Unruhegeister und Querulanten, die er mit dem alten Haß des religiösen Eiferers und politischen Denunzianten verfolgt. Er führt ständig religiös-moralisch angehauchte oder aufgeladene Begriffe wie „kritisch“, „modern“, „postmodern“, „tabulos“, „fragmentiert“, „dekonstruiert“, „grenzüberschreitend“, „homophob“, „xenophob“, „postkolonial“, „antikapitalistisch“, „frauenfeindlich“, „fremdenfeindlich“, „antisemitisch“ und tausend andere Vokabeln aus dem Wörterbuch des Zeitgeistes im Mund, all dies in der aufrichtigen Absicht, mithilfe dieses abgestandenen und ranzigen Jargons seine Zugehörigkeit zur geistigen Elite und künstlerischen Avantgarde zu demonstrieren. Daß hinter der Maske dieser marktschreierischen Absichtsbekundungen der alte deutsche Michel leibt und lebt, wie es sein gutes Recht ist, zeigt sich daran, daß der Aufgeklärte beim Gruppenzwang, atonaler Musik zu lauschen, ein Gähnen kaum unterdrücken kann, er vorgeblich die Dichtung Stefan Georges wegen ihrer autoritären Pose diskreditiert, in Wahrheit aber, weil sie ihm einen homophilen Schwindel erregt, er in der Dämmerung wie jeder vernünftige Mensch die Türen fest verriegelt und womöglich in ein ausländerfreies, piekfeines Stadtquartier umsiedelt, damit seine Kinder eine von Radau und pädagogischen Frivolitäten möglichst noch nicht heimgesuchte oder noch nicht ganz zerrüttete Schule besuchen können.

Die Selbsttäuschung des Aufgeklärten ist die typische Haltung des traditionslosen Nihilisten, der eigentlich an gar nichts glaubt, aber im nachträglich umso erbitterter bekämpften Dritten Reich und all seinen Dämonen oder in der Verteidigung der allein selig machenden Vulgokratie und all ihrer bunten Putten einen dicken Stöpsel für das Loch im Selbstwertgefühl gefunden zu haben wähnt.

Die Absichten, Absichtserklärungen und absichtsvollen Handlungen des Heiratsschwindlers können in einer logisch ziemlich konsistenten, rational verzweigten Hierarchie von Gründen aufgegliedert werden, doch ist der basale Grund, der das ganze Gebäude stützt, irrational: das lumpige, schmutzige, von nichts als lauter Angst vor der Vernichtung besessene Ego. Vor ihm, dem letzten Grund aller wahren Absichten und lügnerischen Absichtserklärungen, gilt die Welt für nichts, gilt vor allem das auserwählte Opfer für nichts. Der Schwindler ist deshalb auch eine tragische Figur: Abgetrennt zu sein von der Welt (und all seine Intrigen, Schleichwege und Komplotte verheimlichen zu müssen) verdammt ihn zur Einsamkeit. Zugleich ist seine Art, die Hände voller Blumen sentimentalen Schmonzes zu verzapfen und dabei zynisch den Wert seines Reibachs zu taxieren, von unfreiwilliger bizarrer Komik.

Dagegen ist der Selbstverblendete von so geringer Größe, daß wir ihm schlechterdings tragische Züge nicht zusprechen möchten. Doch seine Großmäuligkeit bei der Absicht, zu verbergen, daß er nichts Eigenes zu sagen hat, sein Wahrheitsfanatismus bei der Absicht, zu verbergen, daß er innerlich hohl und aller Wurzeln in tiefere Wahrheitsgründe bar ist, machen ihn immerhin zu einer grotesken Parodie auf den Ritter von der traurigen Gestalt, der man sich nur durch Lachen erwehren kann.

Wenn es dem Heiratsschwindler gelingt, durch Schmeichelei, erotische Zukost und leere Versprechen sein Opfer zu der ersten Luxusreise (auf ihre Kosten versteht sich) zu bewegen, stoßen wir auf die bedeutsame Tatsache, daß wir in der Lage sind, unsere Absichten mit den Absichten anderer abzustimmen, zu koordinieren und zu synchronisieren, um einen Zweck zu erreichen, der in unserem Falle nur scheinbar den Interessen aller Beteiligten, in Wahrheit dem Eigennutz des Intriganten dient.

In der Regel treffen wir auf vernünftige und gesunde Formen der Vergemeinschaftung von Absichten. Wir einigen uns in der Absicht, das längst brüchig gewordene Sofa aus der Wohnung zu schaffen und packen gemeinsam an; die Konzertbesucher kongruieren durch ihr aufmerksames und zurückhaltendes Gebaren in der gemeinsamen Absicht, die musikalische Darbietung zu goutieren; auf das bekannte Klingelzeichen hin eröffnet der Vereinsvorsitzende die aktuelle Sitzung des Taubenzüchtervereins; der Offizier gibt die ersten Töne vor, und das Bataillon setzt sich in Bewegung und singt im Marschrhythmus das Lied.

Wir bemerken abschließend, daß Absichten einer beliebig großen Masse von Individuen aufgrund autoritativer Funktionen oder mittels formal definierter Ein- und Ausschließungskriterien koordiniert werden können. Das Ergebnis bildet das, was wir eine soziale Institution nennen, sei es der Verein, die Schule, die Firma, die Behörde, die Armee, der Staat oder die Kirche.

 

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