Skip to content

Die imaginäre Rose

03.06.2025

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Leben heiße nicht, ein Leben lang ums Leben bangen.

Der Edle freilich bangt auch um das Leben seiner Lieben.

Der dichterische Blick, der zuerst im Kelch der Blüte die Schönheit königlichen Daseins erblickte und zugleich das um sie schwebende Verhängnis im Glanz des Taus, der an ihr herabrinnt.

In Rätseln sprechen, als werde man von Feinden belauscht.

Es durch die Blume oder in erlesenen Bildern sagen, die nur die Erlesenen zu verstehen gewürdigt sind.

Dummheit denkt abstrakt.

Benetzt man den grauen unscheinbaren Kiesel, zeigt er wunderliche Adern und dunkel schimmernde Venen, die von einem imaginären Leben zu zeugen scheinen. Geht das auch mit jenen abgenutzten, vom Staub des Alltags grau gewordenen Worten?

Behaucht man die erstarrte, eingeschrumpfte, scheinbar tote Mücke, beginnen ihre Beine zu zittern. Geht das auch mit jenen leblos wirkenden Wort-Käfern, die uns der Wind des Ungefähr aus dem wirren Rankenwerk des Sinns geschüttelt hat?

Entwurzelte sind wie Bildhauer, die in Stein oder Holz gearbeitet haben, sich aber plötzlich der Natürlichkeit ihres Materials schämen und zu synthetischen Stoffen wie Plastik und Styropor greifen.

Was ihnen die Scham eingeflößt hat? Der scheele Blick des arroganten Intellektuellen, das eitle Geraune des avantgardistischen Kunstkritikers.

Das Gesicht aus Plastik hat nicht einmal den lebendigen Ausdruck des von einem Kind naiv-grobschlächtig geformten Tonklumpens.

Der Dichter, der sich der Natürlichkeit seines sprachlichen Materials, der Muttersprache, schämt und in ein synthetisches Kauderwelsch verfällt. Wer ihm die Scham eingeflößt hat? Der hochtönende Phrasenschinder und moralisierende Wortfuchser des Zeitgeist-Feuilletons.

Arroganz, die auf dem Kothurn hochtrabender Metaphern einherstolziert, zu abgehoben, der Kleinlebewesen zu achten, die unter den forschen theatralischen Posen und Schritten zerquetscht werden.

Hochmut – ein Symptom seelischer Anämie, geistiger Unterernährung.

Im Esperanto und dem Jargon, der alle nationalen Kulturen und Sprachen ins Unkenntliche einer gespenstischen Weltkultur zu vermischen ausersehen scheint, in diesem Karneval der Kulturen fände der Samen, der in Blüten wie Goethes „West-östlichem Divan“ oder Hölderlins „Brot und Wein“ aufgeht, keinen Nährboden.

Die individuelle und daher unnachahmliche Aura ist das Siegel künstlerischer Originalität.

Zwitter sind zeugungsunfähig.

Nach Platon ist das Schöne ein Erzeuger des Schönen.

Die Rose gebiert die Rose, die imaginäre Rose betaut die Nacht der Seele mit einem ephemer zitternden Glanz.

Pferd mit Pferd, Esel mit Esel, aber sie johlen vor dem Mann mit dem verzauberten Eselskopf, vor dem Kentaur mit dem Pferdeleib.

Zeus freilich, der sich für Leda in einen Schwan verwandelte, und sie gebar Helena, für Danae in einen goldenen Regen, und sie gebar Perseus … Doch: Quod licet Iovi, non licet bovi.

Wen wundert es, daß jene, die hochnäsig die Natürlichkeit des Geschlechts verleugnen, nur sterile Kunst oder Diskurse ohne Unterleib hervorbringen?

Was der Schoß für das Wachstum der Frucht, ist die Heimaterde mit ihrer eigentümlichen Flora und Fauna für die Sprache der Dichtung.

Freilich, das Wort „Rose“ duftet nicht, und die Rose des Gedichts ragt aus Gräsern, Büscheln von Versen, die gilben, wenn wir sie mit dem Tau der Augen nicht mehr benetzen.

Die Rose des Gedichts kann das Paradies eines Himmels bedeuten, in das wir nur als Schatten auf den Seiten der Divina Commedia gelangen.

Der Lindenbaum vor der Kirche des Heimatdorfs hatte an einem bestimmten Sommertag abzählbar viele Blätter. Doch wie viele Blätter hat der Lindenbaum im Liede Schuberts?

Schwarze Rosen sind Erzeugnisse einer extremen genetischen Auslese. Die schwarze Rose des Gedichts ist das Erzeugnis eines extrem dem Paradoxen zugewandten Geistes.

Die Rose im Garten mag uns an die Schönheit und ihre unausbleibliche Vergänglichkeit erinnern. Von der mystischen Rose aber kündet Angelus Silesius: „Sie blühet, weil sie blühet. Sie achtet nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.“

Den Gesang des Orpheus können wir nicht hören, es sei denn, wir erahnen ihn in den wellensanft schaukelnden Rhythmen und dem knisternden Reimschaum der Sonette Rilkes.

Wer nie eine Rose wahrgenommen hätte, könnte er mit der Art und dem Typ dieses Lebewesens anhand der Stilleben eines Chardin oder Monet bekannt werden?

Die Rose des botanischen Lehrbuchs wartet mit spezifischen Eigenschaften auf, die von der ersten bis zur jüngsten Edition nur unwesentlich variieren. Dagegen mutet uns die Rose des Walterschen Liebeslieds gänzlich anders an als die Rose des Marienlieds.

Du gehst nach der stürmischen Herbstnacht am Garten vorbei und siehst die Rosenblüten hingestreut. Die Rose im Grabspruch Rilkes „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern“ bleibt ihrem Sommer treu und fürchtet keinen Herbst.

Grabspruch, den eine Rose zum Widerspruch werden läßt.

Rilke, von dem der Grabspruch stammt, liegt unter ihm begraben, sein Sinn aber verwest nicht.

Je abstrakter der Sinn, je unsinnlicher der Gedanke, je kärglicher der Ausdruck der Empfindung, umso leichter läßt sich der Text beispielsweise mittels KI von einer in andere Sprachen übersetzen. Das paradoxe Ideal des im Konkreten, Individuellen und Eigentümlichen verwurzelten Gedichts ist seine Unübersetzbarkeit.

Die Herstellung des Rosengedichts ist eine poetische Form von Ikebana.

Die mystische Rose, ein Phantasma poetischer Alchemie.

Die imaginäre Rose des Gedichts, die nicht duftet, könnte eine Klage über die leidige Tatsache anstimmen, daß sie nicht dufte.

Selbst der Entwurzelte, dem die Erinnerung an die eigene Herkunft nur ein hochmütiges Naserümpfen entlockt, schenkt seiner Geliebten keine Plastikrosen und stellt keine auf das Grab seiner Mutter.

Das Phantasma der klagenden Rose ist undenkbar ohne unsere Bekanntschaft mit wirklichen Rosen und echten Klagen.

Die imaginäre Rose ist eine Existenz zweiter Ordnung, der Scheinexistenz eines intentionalen Objekts nicht unähnlich.

Die imaginäre Rose glüht geisterhaft im Dunst einer Dämmerung, die daher rührt, daß die Vorhänge am Fenster des hellen Tagessinns von der Schwermut des Dichters zugezogen worden sind.

Die Rose lockt die Biene und den Falter mit einem heimatlichen Duft, aus der lebendigen Blütenschale zu trinken und dabei unbewußt die Bestäubung zu bewirken. Diese geheimnisvolle Symbiose zwischen Blume und Tier gleicht jener zwischen Phantasie und menschlicher Seele; diese trinkt den Tau des Sinns und jene vermehrt sich in geheimen Wünschen und Träumen.

Die am Morgen auf dem weißen Tischtuch liegen, die Blütenblätter, als hätte des Nachts die Rose ein Hauch deiner Träume gekränkt, du zählst sie nicht, du sammelst sie nicht auf.

Horaz zieht die schlichte Myrte der üppigen Rose vor, um die herabgeminderte Glut seines Verlangens und die kühle Aura des sanft ergriffenen Augenblicks zum Ausdruck zu bringen:

Persicos odi, puer, apparatus,
displicent nexae philyra coronae,
mitte sectari, rosa quo locorum
sera moretur.

Simplici myrto nihil adlabores
sedulus, curo: neque te ministrum
dedecet myrtus neque me sub arta
vite bibentem.

 

Mich stößt ab Perserprotz und zuwider, Knabe,
sind die Kränze mir, die mit Bast verzwirnten.
Such nicht mehr, wo unter Schatten späte
Rosen verglühen.

Lass die Myrte schlicht, das Gekünstel trübt den
Eindruck. So du dann mir die Schale spendest
und ich leere sie unter Weinlaubs Dämmer,
schmückt uns die Myrte.

Horaz, Oden, Buch I, 38

 

Comments are closed.

Top