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Peter und der Schnee

16.08.2015

Über einige semantische und epistemische Grundlagen der Benennung von Substanzen und Personen

„Substanz“ verwenden wir hier im technischen Sinn und verstehen darunter die spezifizierte, aber nicht individualisierte Ansammlung von Elementen einer Menge, die als solche sowohl spezifiziert als auch individualisiert werden können.

Dinge sind die epistemischen Gegenstücke zu den semantischen Entitäten, die wir auch Gegenstände nennen und gewöhnlich die Subjektrolle unserer einfachen Aussagen innehaben.

Substanzen bestehen aus Dingen als ihren letzten Elementen wie Wasser aus Wassermolekülen, dagegen sind Dinge keine Substanzen, weil sie räumlich und zeitlich immer abgetrennt und identifizierbar bleiben. Wir wissen, was mit der Frage gemeint ist, wie viele Leute sich in diesem Zimmer aufhalten. Dagegen wüßten wir auf die Frage, wie viel Schnee auf den Berggipfeln liegt, außerhalb eines klimatologisch-meteorologischen Seminars nichts anzufangen.

Wir unterscheiden die Wahrnehmung und Benennung von Dingen von der Wahrnehmung und Benennung von Substanzen und gehen davon aus, daß der semantische Unterschied, der darin zum Ausdruck kommt, daß du sagst: „Dies hier ist ein Tisch“ oder: „Es schneit“, ein sprachlicher Ausdruck für den epistemischen Unterschied darstellt, der in der unterschiedlichen Art der Wahrnehmung von Einzeldingen und Substanzen begründet ist.

Einzeldinge zu benennen fällt uns nicht schwer. Doch mit der genaueren Angabe von Substanzen sprachlich zurechtzukommen, nötigt uns semantische Umstände ab: So sagen wir, wenn wir die individualisierten Mengen von Wasser bezeichnen wollen: ein Glas Wasser, ein Löffel Wasser, ein Liter Wasser, das Wasser in dieser Pfütze, das Wasser im Indischen Ozean, das Wasser auf dem Mars.

Im Französischen haben wir die Möglichkeit, mittels der Verwendung des Genitivus partitivus einen individualisierten Teil einer unbestimmten Menge von Elementen oder einer Substanz zu benennen. Wenn ich sage: „Passez moi du pain, sʼil vous plaît!“, fordere ich dich damit ja nicht auf, mir alles Brot der Welt zu reichen, sondern ein Stück oder eine Teilmenge von dieser schmackhaften Substanz.

Nehmen wir Schnee als Beispiel: Wenn wir am Fenster stehen und du mir sagst „Das ist kein Hagel, sondern Schnee“, meinst du mit dem Ausdruck Schnee eine Ansammlung von Wasserkristallen hexagonaler Struktur, deren Anzahl wir aufgrund gewisser epistemischer Schranken nicht angeben können.

Was ist der semantische Unterschied von Aussagen der Form: „Das ist Schnee“ und „Dort geht Peter“? Wir ersehen den Unterschied in der Möglichkeit und Unmöglichkeit der semantischen Umformung dieser Sätze. Wir können statt: „Das ist Schnee“ sagen: „Es schneit“, während wir statt: „Dort geht Peter“ nicht sagen können: „Dort petert es“.

Wir unterscheiden zwischen der Identifikation der Objekte unserer Umwelt mittels Eigennamen und Prädikaten. Wir sagen: „Dort geht ja dein Freund Peter!“ und wiederum: „Dieser Mensch scheint in Eile zu sein.“ „Mensch“ bezeichnet die Eigenschaft, ein Mensch zu sein, während Peter überhaupt keine Eigenschaft bezeichnet, sondern einen Gegenstand, welcher unter anderem die wesentliche Eigenschaft hat, ein Mensch zu sein.

Wir können diesen wichtigen semantischen Unterschied zwischen Eigennamen und Prädikaten erfassen, wenn es uns gelingt, den prädikativen Charakter eines Ausdrucks mittels Verbalisierung explizit zu machen. So wenn wir statt: „Dort geht ein Mensch“ sagen würden: „Dort menscht es“ oder: „Dieser Gegenstand menscht“. Der semantisch singuläre Charakter des Eigennamens kommt dadurch zur Geltung, dass wir eine solche Verbalisierung mit ihm nicht vornehmen und nicht etwa sagen können: „Dort petert es“ oder: „Dieser Gegenstand petert.“

Warum können wir den Eigennamen Peter semantisch nicht so aufschlüsseln wie den Substanznamen Regen oder Schnee?

Ist denn physikalisch gesprochen Peter nicht auch eine Ansammlung spezifischer Elemente, nennen wir sie Moleküle, genauso wie das Wasser in diesem Topf auf dem Herd eine Ansammlung spezifischer Elemente ist, eben von H2O-Molekülen?

Nun, wir können den semantischen Unterschied der Verwendung des Eigennamens Peter und des Substanznamens Wasser wiederum auf folgende Weise bestimmen: Wenn du aus dem Topf eine kleine Menge Wasser in ein Glas gießt, nennst du die Substanz, die jetzt in dem Glase schwappt, ebenfalls Wasser. Du kannst sagen: „Das hier ist Wasser und kein Schnee“. Wenn wir aber von der riesigen Anzahl von Molekülen, als deren Ansammlung wir Peter zu betrachten beschlossen haben, eine kleinere Menge, sagen wir diejenige, die den rechten Fuß ausfüllt, (gleichsam durch semantische Amputation) wegnehmen und in einem Glaskolben isolieren könnten, würdest du dann sagen: „Genauso wie ich die aus dem Topf entnommene kleinere Menge Wasser nicht anders denn als Wasser bezeichne, so heißt mir auch die von der ganzen Ansammlung von Molekülen namens Peter abgezweigte Teilmenge in diesem Glaskolben nicht anders denn Peter“? Könntest du etwa auf den Inhalt des Kolbens deutend sagen: „Das hier ist Peter und nicht Maria“?

Wir erhalten hiermit einen semantischen Nachweis des epistemischen Unterschieds in der Wahrnehmung und Identifizierung von Substanzen und Personen. Substanzen können wir in beliebig viele Teilmengen auflösen und wir sind epistemisch darin gerechtfertigt, jede einzelne Teilmenge der Struktur und Zusammensetzung nach wie die ganze Menge zu behandeln und dementsprechend zu benennen. Wasser bleibt Wasser, gleichgültig in welcher Größenordnung die Ansammlung der Wassermoleküle vorliegt. Dagegen können wir die vermeintlichen Teilmengen einer Person nicht auf dieselbe Weise behandeln, aus dem einfachen Grund, weil Personen keine Teile haben und nicht in Teilmengen auflösbar sind. Kurz: weil Personen keine Substanzen sind.

Natürlich sind wir berechtigt, die Person Peter unter gewissen Umständen als unbestimmte Ansammlung von individualisierbaren Teilen oder Elementen zu betrachten und zu behandeln. Der Chirurg, der leider den Fuß Peters amputieren muss, ist darin gerechtfertigt, den Fuß als Teil des Körpers von Peter zu betrachten und zu behandeln. Aber würde der Chirurg den abgetrennten Fuß als vermeintlichen Teil der Person betrachten können und ihn mit dem Namen Peter ansprechen?

Der Fuß, stellte sich heraus, ist demnach ein Teil des Körpers von Peter, nicht aber der Person Peter. Körper wie dein und mein Körper sind also Substanzen und damit unbestimmte Ansammlungen von Teilen und Elementen. Es ist unseren methodischen Ambitionen anheimgestellt, wie wir die Schnitte und Grenzen ziehen, um die gewünschten Teilmengen zu erhalten, es ist unseren wissenschaftlichen Ambitionen überlassen, wie wir die individualisierbaren Elemente auswählen. Sind es Zellen, treiben wir Biologie und Medizin, sind es Moleküle, treiben wir Chemie, sind es subatomare Teilchen treiben wir Physik.

Glauben wir allerdings, es mit subpersonalen Teilchen wie Seelenfunken oder Atomen des Unbewussten zu tun zu haben, treiben wir Unsinn. Denn wie gesehen: Der Begriff der Person schließt die Existenz subpersonaler Teile aus.

Wenn der Begriff der Person eine semantische Einheit ist, der Begriff des Körpers aber eine semantische Menge, können wir daraus schließen, daß kein Teil des Körpers von Peter identisch mit der Person Peter ist. Wenn kein Teil des Körpers, so auch nicht das Gehirn. Wenn das Gehirn Peters nicht Peter ist, dann sind augenscheinlich alle geläufigen Redeweisen davon, daß Peters Gehirn das und das gedacht oder gewollt hat, obskur und ohne jeden Sinn. Denn wir sprechen intentionale Akte wie „denken“ und „beabsichtigen“ nicht Gehirnen, sondern ausschließlich Personen zu.

Aber sind nicht das Denken und Wollen, das Sprechen und Handeln Teile der Person Peter wie die Wassermoleküle Teile des Wassers im Topf?

Nehmen wir das Sprechen: Es ist evidentermaßen eine Handlung, die nur mittels Betätigung von Teilen des Körpers von Peter funktioniert. Peter muss seine Zunge bewegen, seinen Kehlkopf positionieren, seinen Atem artikulationsgerecht verteilen, seinen Mund öffnen und schließen, seine Lippen runden und spitzen. Aber wenn du Peter von hinten heftig in den Armen zwickst, und er schreit: „Aua!“, hat er all das oder vieles davon getan, nämlich den Atem ausgestoßen und die Zunge gestreckt und den Mund geöffnet, aber hat er auch gesprochen? Wir unterscheiden zwischen unwillkürlichen Interjektionen und willkürlichen Sprachhandlungen. Nur die letzteren weisen wir der handelnden Person zu.

Du schaust aus dem Fenster und stellst fest: „Es hat aufgehört zu schneien.“ Wenn Peter in dem Gespräch, das wir auf anregende Weise mit ihm geführt haben, plötzlich verstummt, hat er nicht bloß aufgehört zu reden, sondern gibt mit seinem Verstummen zu verstehen, daß ein wunder Punkt berührt worden ist.

Das physikalische Ereignis, das darin besteht, daß aufgrund eines plötzlichen Temperaturanstiegs keine Schneeflocken mehr aus dem Himmel niederfallen, gibt uns nichts zu verstehen, wogegen das physikalische Ereignis, das darin besteht, daß Peter seinen Mund verschließt und keinen Ton mehr von sich gibt, uns zu verstehen gibt, daß Peter sich schämt oder daß Peter verlegen ist.

Die epistemische Basis unserer Einsicht in den kausalen Zusammenhang zwischen Temperaturanstieg und Schneefall ist der Struktur nach gänzlich verschieden von der epistemischen Basis unserer Einsicht in den intentionalen Zusammenhang einer körperlichen Reaktion und ihrer seelischen Motivation. Wir sprechen auf der Grundlage unserer Wahrnehmung seiner körperlichen Veränderungen davon, daß Peters Verhalten sich geändert hat. Dagegen gibt uns die Einsicht in die kausalen Vorgänge und Veränderungen bei den Wetterphänomenen keinen Aufschluss über bestimmte Motivationen und Veränderungen des Verhaltens bestimmter Substanzen wie Wasser und Schnee.

Es ist eine Eigentümlichkeit des religiösen Ingeniums der antiken Völker, die Wetterphänomene als Verhaltensweisen von Personen, nämlich der Götter, betrachtet zu haben. Blitz und Regen, Sturm und Schnee sind demgemäß Willensbekundungen des Zeus oder Jupiter, des Poseidon oder Neptun. Sollen wir annehmen, daß die Römer den Auguren eine Form des Wissens und der Einsicht in den Willen Jupiters zugeschrieben haben, wenn sie aus dem Gesang und Flug gewisser prophetischer Vögel die Zustimmung der höchsten Gottheit in Hinsicht auf den Beschluß des Senats, gegen die Punier zu Felde zu ziehen, enträtselt haben wollten?

Wir bemerken, daß wir im Bereich der Wahrnehmung auf die Person Peter nicht anders als dadurch Bezug nehmen können, daß wir uns auf die körperliche Präsenz und ihre Modifikationen wie das Reden und Verstummen Peters beziehen. Dabei müssen wir die epistemische Basis, gemäß der wir die Dinge oder Substanzen und ihre körperlichen Modifikationen wahrnehmen und sie als Ereignisse oder kausale Vorgänge interpretieren, umstellen auf die epistemische Basis, gemäß der wir beobachtete Ereignisse und körperliche Veränderungen als das Verhalten von Personen interpretieren. Infolge dieser Umstellung können wir unsere Beobachtungen nicht auf körperliche Veränderungen an Teilen eines Ganzen oder einer Substanz reduzieren, wie wir dies tun, wenn wir sagen: „Es hat aufgehört zu schneien.“

So gesehen leben wir in einer Welt, deren fundamentale Erfahrungsinhalte uns semantisch und epistemisch mit den Begriffen von Personen, Dingen und Substanzen gegeben sind. Wegen der grammatischen Ähnlichkeit dieser Begriffe unserer Alltagssprache sind wir immer wieder verführt, ihre logisch-semantischen Unterschiede zu verkennen. Aber diese Verkennung führt nicht nur zu begrifflicher Verwirrung, sondern zum Verlust fundamentaler Lebensorientierungen: Substanzen wie Personen zu betrachten heißt, in mythische Denkweisen zurückzufallen. Dinge wie Substanzen zu betrachten heißt, sich um die Möglichkeit alltäglicher Orientierungen in der raumzeitlich strukturierten Lebenswelt zu bringen. Personen wie Substanzen zu behandeln heißt, sich um die Eigenart menschlichen Daseins zu betrügen.

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