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Von Sinn und Gegensinn der Zeichen

08.02.2016

Mit dem Muskeltonus erlangen und halten wir das fragile Gleichgewicht des Stehens und Gehens gegen die Kraft der Gravitation.

Die Kinder erproben auf der Schaukel die Möglichkeiten, das Gleichgewicht zu gewinnen und durch Verschiebung des jeweiligen Schwerpunktes spielerisch zu variieren.

Wenn ich dir den Ball zuwerfe, kannst du ihn fangen, zurückwerfen, weiterreichen oder das Spiel abbrechen.

Wenn du mich zu etwas aufforderst oder etwas fragst, kann ich dir entsprechen und antworten oder die Antwort verweigern. Ich muß dazu deine Äußerung als Aufforderung oder Frage verstanden haben. Ich kann eine Äußerung als Aufforderung oder Frage nur identifizieren, wenn ich selbst fähig bin, dich meinerseits zu etwas aufzufordern oder etwas zu fragen.

Sprechakte wie auffordern und der Aufforderung entsprechen, fragen und antworten, behaupten und in Frage stellen stehen in einem symmetrischen und polaren Verhältnis.

Etwas zu behaupten oder auszusagen impliziert die Möglichkeit, die Behauptung oder die Aussage zurückzunehmen und zu suspendieren oder das Gegenteil zu behaupten und auszusagen.

Einen Text als Gedicht oder eine Klangfolge als Melodie zu bestimmen und anzuerkennen impliziert die Möglichkeit, einem anderen Text den Anspruch auf den Status eines Gedichtes oder einer anderen Klangfolge den Anspruch auf den Status einer Melodie zu verwehren.

Jemanden als Gast zu Tisch zu laden impliziert die Möglichkeit, einem anderen das Gastrecht zu verweigern. Müßtest du jedem, der an deine Türe klopft, Gastrecht gewähren, verlöre es mehr und mehr an Gewicht und schließlich verflüchtigte sich seine Bedeutung vollends.

Wenn du einen farbigen Fleck auf der Leinwand positionierst, induzierst du dem ausgesparten leeren Feld eine eigentümliche Spannung, die du durch das Setzen neuer Farbflecken lösen oder steigern kannst.

Gruppen entstehen und wachsen in Folge ihrer Selbstmarkierung durch kollektive Zeichen. Dies verweist auf den Ursprung des Mythos und der genealogischen Erzählungen, aus denen die Lieder und das Epos von den Ahnen entspringen.

Anfängliche Zeichen der Zugehörigkeit sind mit den Umwelten der Gruppen gleichsam verwachsen und verwoben. So werden sich Jäger am Bild des gejagten Tieres, Nomaden am Bild der Herde, Bauern am Bild der Feldfrucht die Zeichen der Zugehörigkeit aufrichten.

Wenn Gruppen unterschiedlicher Zeichenregime feindlich aufeinandertreffen, werden die ursprünglichen Zeichen zu Wappen und Feldzeichen erhoben.

Der Krieg ist die Steigerung des Kampfes unterschiedlicher Zeichenregime zum Überlebenskampf der Zeichen kollektiver Zugehörigkeit, die nunmehr als Identitätsmarken fungieren. Wehe dem Soldaten, der den Schild mit dem eigenen Zeichen wegwirft, oder dem Fahnenträger, der den Legionsadler sinken läßt.

Dichtung gewinnt aus dem psychischen Tonus das fragile Gleichgewicht des Sagens gegen die Schwerkraft des Schweigens, des Chaos und der Leere.

Dichtung verteilt auf dem Waagebalken des Verses die Worte derart, daß er für den Augenblick des Rhythmus in der Schwebe und im Gleichgewicht bleibt.

Jedes Gedicht behauptet seine Zeichen, indem es sie gegen das Schweigen oder das Zeichenlose als die äußerste Möglichkeit seiner Negation setzt.

Die Möglichkeit der Selbstbehauptung, die das Gedicht beansprucht, ist die Möglichkeit, im Geist des Hörers und Lesers als je eigene Möglichkeit der Selbstbehauptung zu entstehen und ihn für den Augenblick des Rhythmus in die Schwebe und ins Gleichgewicht zu versetzen.

Das Gedicht kann als Zeichen der Zugehörigkeit fungieren und den Hörer für den Augenblick der Selbstbehauptung ins Gleichgewicht mit den Identitätsmarken seiner Gruppe versetzen. Wir ersehen dies aus der Geschichte des Lieds, denken wir an das Kriegslied, das Arbeitslied, den Gesang der Matrosen und der Sklaven, aber auch an die liturgischen Gesänge der Gemeinde oder der Mönche.

Vergleichen wir die Stille des Kirchenschiffs mit dem Schweigen der Welt oder der anfänglichen Zeichenlosigkeit des menschlichen Daseins. Wenn das „Lumen Christi“ in der Liturgie der Osternacht feierlich angestimmt wird, erfüllt sich das Schweigen der Welt, der Gegensinn, mit dem äußersten Sinn.

Das Gebet ist das vollendete dichterische Zeichen.

Dichtung, die sich aus dem Schweigen wie die Quelle aus dem Fels löst, ist vollkommen, wenn sie unter dem Segen eines Göttlichen spricht, was sie aus eigener Quelle zu sagen nicht vermöchte. Es ist wie mit dem Quellwasser, das ringsum Moos, Gras und Blumen zum Grünen bringt, und hat doch ihren Samen nicht gesät.

Wenn ein gutes Wort dich aus den Fragen und Zweifeln erweckt, in die du versunken bist, wenn eines dir den Ball des Gedichts zuwirft, wirst du wach für den Augenblick der Selbstgegenwart und kannst das Gleichgewicht erlangen, dessen du bedarfst, um ihn aufzufangen und weiterzuspielen.

Auch das gute Wort ist tot und das beste Gedicht unfruchtbar, wenn du es nicht beatmest und behauchst. Es muß von deinen Lippen geküßt werden und auf deiner Zunge zergehen. Es muß wie ein stärkendes Medikament in dein Blut aufgenommen werden und in deinen Adern schwimmen.

Nur das heilige Liebeswort aber, das auf deiner Zunge zergeht, kann vom Tod erlösen und wahrhaft lebendig machen.

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