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Auf den Spuren der Vernunft VII

24.07.2014

Wir wollen den umgekehrten Weg gehen, gleichsam auf schmalen Stegen und überwachsenen Pfaden uns durch das morastige, bodenlose Gelände des Wahns auf den sicheren Grund der Vernunft vorantasten. Oder wäre dies schon ein allzu beschönigendes, utopisches Bild und entspräche es mehr unserer Lage, wenn wir sagten: Wir tasten uns auf schmalen Pfaden durch wildes, überwuchertes, sumpfiges Gelände voran, und diese schmalen Pfade, die hie und da abbrechen, da und dort zu erhabenen Aussichten führen, um sich wieder im trüben, versteppten Ödland zu verlieren­ – diese Pfade wären schon die langsam, stoßweise hervorgebrachten Sätze oder Zeilen unserer vernünftigen Rede und Schreibe?

Jemand erhält aus heiterem Himmel eine furchtbare Nachricht: Er ist fristlos entlassen worden. Seine Frau hat ihn mir nichts, dir nichts verlassen. Die Mutter liegt im Sterben oder ein naher Angehöriger ist verstorben. Der Arzt hat eine tödliche Krankheit diagnostiziert. Wir sehen, wie der Betroffene erbleicht, schlaff wird und sich aufstützen muss oder halb ohnmächtig sich auf einen Sessel zurückfallen lässt, wir sehen, wie ihm ohne dass er es merkt Tränen in den Augen stehen. Wir verstehen dieses Verhalten ohne Wenn und Aber, ohne weitere Besinnung oder Reflexion als Ausdruck seelischer Erschütterung der Trauer und Verzweiflung. Wir verstehen ebenso spontan und ohne zusätzlicher Hintergrundinformationen zu bedürfen, wenn einer einen Freudensprung macht, „Juchheißa“ ruft oder beseligt lächelt, nachdem er die freudige Nachricht erhalten hat, dass sein ihm feindlich gesonnener, querulatorischer Nachbar ausgezogen ist, er im Lotto gewonnen hat oder seine Frau von einem gesunden Kind entbunden worden ist.

Wir verstehen diese und tausend andere Reaktionen und Verhaltensweisen ohne weiteres, weil sie Lebensinhalte und Lebensthemen betreffen, die wir mit dem angemessenen Pathos als Leitthemen all der Dramen erachten, die Menschen als die Lebewesen, die sie nun einmal sind, zu durchleben und zu durchleiden haben. Die Themen betreffen Ereignisse, die das Leben des Einzelnen oder seine Gruppe fördern, stärken, erweitern (expandierende Faktoren) oder aber im Gegenteil beschädigen, schwächen, einschränken (limitierende Faktoren.) Wir finden all diese Themen leidenschaftlich präsentiert und in Fleisch und Blut übergegangen, wenn wir uns die Stücke der antiken Tragiker und Shakespeares oder Molières anschauen.

Wer ein gesundes und ausgeglichenes Naturell mitbringt, vom Glück gesegnet ist oder aus eigener Kraft dem Ziel seiner Wünsche nahekommt, findet sich leichter unter heiteren Masken wieder als der Hypochonder, der grundlos Eifersüchtige oder Misstrauische oder der Fanatiker, denen wir gerne die Schellenkappe überstülpen möchten. Dass Ressentiment und Eifersucht den Weltumgang einschnüren, während Wissensdrang und Abenteuerlust den Schrebergarten der Langeweile und des Vorurteils weit hinter sich lassen, gilt für ausgemacht.

Dass wir Ereignissen und Erlebnissen, die uns hemmen und einschnüren, uns beängstigen und verunstalten, gerne aus dem Weg gehen und schon ihre Aura uns übel in die Nase steigt, ist uns so natürlich und in Fleisch und Blut übergegangen, wie dass wir gerne nach schöneren, fruchtbareren Gefilden im materiellen und geistigen Sinne unter Inkaufnahme großer Mühen und Anstrengungen aufzubrechen geneigt sind, wenn in jenem Lande die goldenen Äpfel der Hesperiden zu leuchten scheinen. Selbst niedere Gesinnungen und faule Naturen recken sich gern nach Nachbars Äpfeln, weil sie so schön glänzen und mit einem süßen Geschmack, dem Geschmack des Verbotenen, locken, auch wenn die Gefahr besteht, eins auf die Finger zu bekommen.

Beeinträchtigungen, Limitationen und ihre Gefahren und ihr Gegenteil, expandierende und fördernde Faktoren, betreffen Leib und Leben, die Verfügung über nahrhafte beziehungsweise keimfreie Nahrung und Flüssigkeit, die Sicherheit und Unversehrtheit des eigenen Körpers, die Funktionstüchtigkeit der Organe, allen voran von Hirn und Sinnesorganen, den Schutzraum der Behausung und seine Reinlichkeit, aber auch die Integrität und Sicherheit der Familie, der Verwandten, Angehörigen und Nahestehenden.

Natürlich gelten für Intensität und Quantität der expandierenden und limitierenden Lebensinhalte und Lebensereignisse Grade und Gradabstufungen: Wir sind nun einmal mehr oder weniger gesund oder krank, reich oder arm, mit Familienanhang gesegnet oder vereinsamt, von Freunden umgeben oder von Feinden umlauert. Auf der zugigen Bühne all solcher Eventualitäten und Fragilitäten spielt sich das menschliche Drama nun einmal ab.

Es ist nur allzu plausibel, dass wir uns eher an unschöne, beeinträchtigende und limitierende Ereignisse erinnern oder von solchen in Träumen heimgesucht werden, als dass wir unentwegt von den Lustbarkeiten des Gartens Eden träumen. Wachsamkeit und Vorsicht, Vorsorge und Voraussicht sind nun einmal Haltungen und Einstellungen, die uns für die Bewältigung unseres Lebensalltags gut anstehen. Ein Fehltritt kann endgültig sein, während ein überhörter Scherz, eine verpasste kleine Lust nicht einmal den Schatten eines Schmerzes hinterlassen. Den Genuss auch der sublimen Dinge zu gewinnen wie das Kosen des Windes auf der Haut oder die visuellen Ekstasen beim Gang durch die herbstlich verglühende Landschaft bedarf es eines besonderen Talents oder einer verfeinerten ästhetischen Kultur, während uns der Schauer der Angst vor dem Abgrund und das Misstrauen im Dunkeln oder vor dem Unbekannten angeboren sind.

Jemandem freilich, der angesichts furchtbarer Nachrichten wie der vom Tode seiner Mutter oder eines nahen Angehörigen feixt und kichert, einem, der eine schlimme Diagnose vom Arzt erhält oder der erfährt, dass die Firma ihm fristlos gekündigt hat oder seine Frau ihn betrogen hat und der sodann nichts Besseres weiß, als sich ins Fäustchen zu lachen und diabolisch zu grinsen, würden wir rechtens ein abnormes, paradoxes, paramimisches Verhalten und die es bedingende psychotische Erkrankung unterstellen, wenn wir die Nebenbedingungen erfolgreich ausgeräumt haben, dass ihn seine Mutter oder der Verwandte in der Kindheit nicht bis aufs Blut gequält hat, er nicht schon vor einiger Zeit beschlossen hatte, aus dem Leben zu scheiden, er sich nicht längst von der öden Arbeitsstelle verbschieden wollte oder er die innere Bindung zu seiner Frau nicht schon lange verloren hatte.

Wir huldigen vernünftigerweise nicht den zweifelhaften Entzückungen eines surrealistischen schwarzen Humors und kennzeichnen pedantisch und humorlos als psychotisch und seelisch-abnorm solche Reaktionen, die den offenkundigen Ernst der Lage nicht nur ignorieren und verkennen, sondern ins Gegenteil verzeichnen. Aber auch die Überzeichnung und Verzerrung der normalen Lage infolge krankhaft paranoid übersteigerter Ängste wie der Angst, verfolgt, vergiftet, entführt, vergewaltigt, bestohlen, abgehört oder ermordet zu werden, wenn weit und breit niemand im Hinterhalt liegt, um solch wüste Absichten in die Tat umzusetzen, tragen wir keine Bedenken, als Symptome einer psychotischen Erkrankung einzustufen.

Wir bemerken, dass nicht die elementaren Inhalte wahnhafter Ideen Indikatoren für das Vorliegen einer Psychose bilden: Diese Inhalte wie die Angst um das leibliche Wohlbefinden oder die Sorge um das Wohlergehen der Anverwandten, der Neid auf den Präferierten und Bessergestellten, die Eifersucht des betrogenen Partners, der Hass auf den Eindringling und den Ehrabschneider oder die Liebe zu den Kindern und allem, was die Spuren der eigenen leib-seelischen Entäußerung trägt, gehören zum emotionalen Fundus und zur biologisch-sozialen Grundausstattung des Menschen. Es ist die Unangemessenheit der Reaktion zur gegebenen Situation, die uns zum Indiz oder Verdachtsmoment krankhaften Erlebens wird.

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