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Bürger und Genie

06.02.2023

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Das künstlerische Genie muß sich in aesteticis nicht den Regeln und Konventionen des bürgerlichen Geschmacks unterwerfen, den moralischen Regeln und sittlichen Konventionen aber schon. Es muß mit ihnen wie alle sein Dasein fristen, aber hat an ihnen darüber hinaus eine Maske, hinter der es das Außeralltägliche, Unheimliche und Ungeheuerliche seiner Erfahrung, seines Glücks und seines Elends, verbergen kann.

Mephistopheles ist die Artíkulation des Außeralltäglichen, Unheimlichen und Ungeheuerlichen der Erfahrung Goethes. – Freilich trug Goethe, um diese Dimension seiner Persönlichkeit im täglichen Umgang zu verdecken, sowohl die Schelmenmaske des Bürgers als auch die blendende des Aristokraten, jener Spezies, die schon von Haus aus an Scharaden und Maskeraden gewöhnt ist.

Das Leben wurzelt im Dunkel, der Sphäre des Unheimlichen, Ungeheuren und Rätselhaften schlechthin; und gerade dort, wie der im dunklen Grund der Erde wurzelnde Baum zeigt, findet es paradoxerweise den sicheren Halt. – Es reckt sich nach dem Licht, will es denn blühen, will es Früchte hervorbringen. Aber die Frucht muß, auf daß der Baum nicht an seinem Übermaß ersticke und die Frucht mit ihren Lebenskeimen nicht verfaule, ihrerseits hinabfallen und ins Erdreich dringen.

Man könnte sagen, das künstlerische Genie leide beständig an erhöhter Seelentemperatur.

Ein Thermometer zur Messung der seelischen Temperatur steht uns nicht zur Verfügung.

Der an dieser Art Fieber Erkrankte zeigt nicht die üblichen Symptome wie eine heiße Stirn, rote Flecken und feuchte Hände, und die Virusinfektion, an der er leidet, ist nicht ansteckend. Kühlen Kopfes und wachen Auges wird er von Fieberträumen heimgesucht.

Im Verhältnis zur gemäßigten Temperatur und dem gleichmäßigen Puls des Bürgers weisen fatale Symptome am Genie auf eine krankhafte Devianz vom Normalfall; aber sie sind nur die Folge einer grundlegenderen Abnormität oder Enormität, nämlich seiner über das Gewöhnliche herausragenden Sensitivität, Feinfühligkeit, Hellsichtigkeit und Hellhörigkeit.

Freilich, wer das Gras wachsen hört, Sirenengesänge im Rauschen des Wasserfalls oder geheime Mitteilungen im Gesang der Vögel, mag im trivialen Sinne verrückt sein; erwächst seiner Hellsinnigkeit allerdings eine Dichtung im Stile und vom Rang eines Verlaine oder Trakl, scheinen wir in eine denkwürdige Dämmerzone zwischen Pathologie und Genialität entrückt, von der die nervösen Gemüter des Fin de Siècle viel Wesens machten, die heute aber als erschlossen angesehen werden kann: Der Fall Hölderlin ist dafür exemplarisch.

Wir können Hölderlins unter der psychotischen Krankheit, unter der er zweifellos litt, entstandene Turm-Gedichte als psychiatrisch aussagekräftige Dokumente eines schizophrenen Sprachzerfalls lesen, ohne uns indes in der Beurteilung ihrer künstlerischen Qualität irritieren zu lassen.

Der wahnsinnige Hölderlin hauste als wahrer Biedermann und anständiger Bürger im Tübinger Turm, stand in aller Herrgottsfrühe auf, erledigte seine Post (aber unterschrieb Widmungsgedichte mit erfundenem Namen und fingiertem Datum), machte seine regelmäßigen Spaziergänge (aber klopfte mit dem Taschentuch auf die Pfosten des Zauns), empfing überaus höflich und zeremoniell Besucher (aber sprach Hinz mit Exzellenz und Kunz mit Hochwürden an), pflegte wie in gebildeten Pastorenfamilien gang und gäbe zu musizieren (aber die Violine flehte panisch, das Klavier dröhnte dionysisch) und blickte des Abends versonnen aus dem Fenster auf die Neckarauen (aber sah auf den Hain von Kolonos, wo dem Ödipus die Nachtigallen sangen).

Die wilden Kunstgenies bemühen sich, ihr mangelndes Talent mittels der Verachtung des Bürgers und der Übertretung der Regeln und Konventionen bürgerlicher Sittlichkeit zu kaschieren. Dabei bedienen sie geschickt den Voyeurismus des Bürgers und machen einen guten Reibach.

Kafkas bürgerliches Dasein wurde durch sein Büro in der Versicherungsanstalt zu Prag bestimmt; doch wuchsen hinter seinem Rücken, während er sorgfältig Formulare und Policen ausfüllte und neue Versicherungsfälle bearbeitete, die Korridore zu dunklen, unentrinnbaren Gängen im Labyrinth des menschenfressenden Minotaurus, und aus dem Zimmer nebenan hörte er Wimmern, als würde ein Verhör unter Anwendung einer albtraumhaften Folter durchgeführt.

Was wir weinen nennen, ist nicht die Absonderung einer Drüsenflüssigkeit.

Der Roboter-Mediziner und der Roboter-Chemiker können die Absonderung und chemische Zusammensetzung der Tränenflüssigkeit feststellen, aber nicht sagen: „Der Mensch hat geweint.“

Die Anamnese ergibt das Gerüst der Krankengeschichte; die Erinnerung die Etappen und Wendemarken auf dem Lebensweg. – Die Untersuchung des Patienten resultiert im aktuellen Befund als vorerst letzter Station seiner Krankengeschichte; die Betrachtung der gegenwärtigen Situation wirft ein erhellendes Licht auf die Lebensstadien, die zu ihr geführt haben.

Ein Teppich wird in Handarbeit gewebt; scheinbar wiederholen sich Reihe für Reihe dieselben Muster, dieselben Farbtöne; doch dann gewahrt man gewisse Abweichungen, Nuancen, Variationen.

Ein Geschichte wird von Mund zu Mund, von Genration zu Generation weitererzählt; scheinbar wiederholen sich der Plot, dieselben Ereignisse und Charaktere; doch dann gewahrt man Abweichungen und Variationen, neue Begebenheiten und Figuren tauchen auf, die Atmosphäre der Erzählung nimmt aufgrund unverhofft einfließender Nuancen andere Farben und Töne an.

Das dichterische Genie erfindet weder die Webkunst – die Sprache – noch das Geschichtenerzählen: Die von Mund zu Mund und Generation zu Generation überlieferten Erzählungen vom Kampf der Griechen um Troja und den Abenteuern des Seefahrers Odysseus sind älter als Homer. Das Genie erfindet allerdings neue Muster und florale Motive für den Teppich der Sprache. – Ein Volksgeist im Sinne Herders kann es aber nur sein, wenn er sich in einem genialen Einzelnen inkarniert.

Das mimisch und gestisch mehr oder weniger bewußt ausgestrahlte Gefühl, etwas Besonderes zu sein, kann achtungsgebietend oder lächerlich, selbstbildnerisch oder deformierend sein.

Philosophie oder sinnvoll denken zu lehren ist eigentlich, wie Wittgenstein wußte und aussprach, obwohl er es zu seiner Zeit in Cambridge selber tat, lächerlich.

Die meisten Dozenten an philosophischen Instituten käuen geistlos wider, was die Klassiker meist in luziderer Diktion von sich gegeben haben. Andere, die eigentlich nichts zu sagen haben, verbergen dies hinter einem grellen Flickenteppich gestelzter Wendungen, enigmatischer Metaphern und geschraubter Manierismen.

Das Interessante bei den männlichen Dichtern ist ihre Fähigkeit, in weibliche Masken zu schlüpfen.

Das betuliche, stirnrunzelnde oder clowneske Bemühen, sein Stigma zu verbergen, enthüllt es.

Die sich mit Rätseln und Mysterien schmücken, dem Rätsel des Bewußtseins, dem Rätsel der Zahlen, dem Mysterium der Existenz, kassieren ihre Tantiemen auf Kosten der Verblüffung und Verhöhnung des gesunden Menschenverstands.

„Philosophen“ rühmen sich einer unerhörten Einsicht, wenn sie weitläufig und langatmig erklären, die Neuronen seien von ganz anderer Beschaffenheit als die Bewußtseinsinhalte, denen sie korrelieren; ja, sie gerieren sich als Conférenciers im Schauerkabinett pseudoradikalen Denkens und tun so, als führten sie den Hörer oder Leser an einen schwindelerregenden Abgrund, den Abgrund zwischen Gehirn und Bewußtsein, Physischem und Mentalem, Natur und Geist.

Freilich, es sind keine Philosophen, sondern Philosoph:innen.

Aber der Zusammenhang zwischen Welt und Bewußtsein, Natur und Geist zeigt sich in der Darstellungsfunktion der menschlichen Sprache: Tropfen fallen, es regnet; ob ich es sehe oder nicht. Doch die Tatsache, daß es regnet, hat, ungeachtet der Tropfen, die niederfallen, eine interne semantische Beziehung zu dem Satz, der sie konstatiert. Der Satz konstituiert die Tatsache, freilich nicht die Regentropfen, nicht die Dinge der Welt.

Wie das künstlerische ist auch das kriminelle Talent angeboren, und manchmal sind sie genötigt, unter einem Dach, unter einer Schädeldecke zu hausen; da gibt es Streit, doch kann das eine Talent das andere nicht vor die Tür setzen.

Friseusen können sich bevorzugt der Vertiefung ihrer Menschenkenntnis widmen, begegnen sie doch täglich den unterschiedlichsten Charakteren, Menschentypen, Schicksalen, normalen, außergewöhnlichen, tragischen, grotesken; nicht unähnlich dem Priestermönch Sossima in den „Brüdern Karamasow“ von Dostojewski, der nach Jahren seelsorgerischen Umgangs mit verstörten, bedrängten, kranken Seelen ihre Gebrechen, ihre Stigmata und ihre noch so schwachen Hoffnungsschimmer von der Mimik ihrer Gesichter und dem Ausdruck ihrer Gesten abzulesen vermochte.

Wir könnten manche Träume so deuten, als kämen in ihnen die spitzfindigen, dialektischen Unterredungen zwischen einzelnen von Krankheit befallenen Organen wie dem Herzen und der Lunge, der Lunge und der Leber , der Leber und dem Magen zur Sprache.

Wer liebt, muß im selben Maße, wie er es tut, hassen können. Wie könnte er sonst Feinde, die was er liebt angreifen und vernichten wollen, seinerseits angreifen und vernichten wollen, ohne sie zu hassen?

Elementare Wahrheiten, die bereits Heraklit und Empedokles in lapidaren Wendungen niedergeschrieben hatten, wurden, wie Nietzsche diagnostiziert, von einem rousseauistisch-romantischen, christlich-sozialistischen Menschenbild überkleistert und zugunsten sentimentaler Lügen verdrängt.

Das künstlerische Talent kann man nicht einpflanzen oder aufpfropfen, aber mit nährendem Humus versorgen und mit weckenden, neckenden Tropfen beträufeln und zum Blühen bringen.

Die Anlagen aller im Namen angeblich universaler Menschenrechte gleichsinnig zu fördern, also auch die Neigung zur Rücksichtslosigkeit, Gemeinheit und Kriminalität, ist die Losung der Ignoranz und der Bosheit, die sich hinter humanitären Phrasen verstecken.

Kein Stern des Übermenschen schwebt leuchtend empor, wenn wir allen die Fesseln der bürgerlichen Moral und des biederen Anstandes lockern, sondern, wie gesehen, die finstere Fratze des Untermenschen.

Ernst Jünger suchte das Feuer des Ersten Weltkriegs aus Abenteuerlust, Wittgenstein mit dem Wunsch, sich in der Nähe des Todes zu bewähren oder rechtens darin umzukommen.

Die Sitte des Grüßens hüllt nicht feindselige Antriebe in die Maske der Höflichkeit und Freundlichkeit, die Zusage, das geliehene Gut zurückzuerstatten, nicht den Wunsch, es ohne Gegenleistung einzusacken, in die Zwangsjacke einer lügnerischen Konvention.

Die Dramatis personae des Götz, des Tasso, der Iphigenie und des Faust veritable Masken des dichterischen Genies. Die konventionellen Gesten und Sprachhandlungen des Bürgers summieren sich zur Sittlichkeit der bürgerlichen Welt; die Maskeraden des Dichters indes ergeben nicht die Quintessenz seiner wahren Überzeugung oder religiösen und politischen Weltanschauung; Goethe ist weder Faust noch Mephistopheles, schon gar nicht die Mißgestalt ihrer Hybridisierung.

Das Eheversprechen, der Treueid, der Vertragsabschluß sind, unter den adäquaten Umständen vollzogen, verbindlich; das Jawort des Bräutigams wird nicht brüchig oder ungültig, wenn er post festum deklariert, er habe es ironisch gemeint oder höhere Mächte hätten es ihm souffliert.

Dagegen ist Goethes Spiel mit allegorischen Masken und urtümlichen Symbolen a priori von der heiteren oder salzhaltigen Luft der Ironie umweht.

Der bürgerliche Geist ist frei von Ironie und tragischem Zwang; das zugesagte Wort gilt, und sein Bruch wird durch Ehrverlust oder Schadensersatz sanktioniert; doch hätte es auch ungesagt bleiben können.

Die Figuren des Liebesspiels und der erotischen Metamorphose in Goethes „Wahlverwandtschaften“ gehorchen einem schicksalhaften Chemismus und Mesmerismus der Leidenschaften.

Die bürgerliche Moral ist das Geranke und Geflecht, das aus dem Mutterboden der Verpflichtung sprießt und sich schattenhaft-unfühlbar um die gestischen und sprachlichen Formen des zivilen Umganges schmiegt.

Die Dichtung und ihre Symbolik sind das Geranke, das Goethe ein Geflecht der Minne nennt; es sprießt aus dem dunklen Erdreich der Leidenschaft und kann gleich sanften Schatten den Trost einer durchsummten Dämmerung vor dem allzu blendenden Strahl der Sonne spenden, aber auch wie die Schlangen des Laokoon würgen und ins Verstummen ziehen.

Die höchste Form moralischen Handelns ist die Rettung fremden Lebens unter Einsatz des eigenen; der Vater rettet das Kind aus den Flammen, der Mutter beugt sich über das Kind zum Schutz vor feindlichen Salven; der Patriot fällt im Schützengraben, weil er sein Leben zur Bergung eines verwundeten Kameraden in die Waagschale geworfen hat..

Das Selbstopfer ist freilich die heroische Ausnahme des moralischen Genies von der untragischen Alltagsroutine der bürgerlichen Moral; es aus Selbstliebe oder Angst zu verschmähen, mag Mißachtung und Verachtung hervorrufen, aber kann nicht geahndet oder rechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

Das Genie des Denkens bahnt Wege ins Unbekannte, ins Zwielicht, ins Dunkel; eine Zone des Unheimlichen und Ungeheuren, die das saturierte oder ängstliche Gemüt des Bürgers scheut. Doch es zeigt, daß unser Dasein ähnlich dem Baum, der seine Wurzeln ins Dunkel der Erde streckt, um darin sicheren Halt zu finden, gerade im Dunkel seiner Herkunft verwurzelt ist.

Das Triviale, daß alles ist, wie es ist, wird durchsichtig auf den unheimlichen Grund und Hintergrund, daß alles auch hätte anders sein oder nicht sein können.

Diese Einsicht kann den Bürger nicht seiner Verpflichtungen entheben; ebensowenig das Genie, denn es lebt mit dem Bürger Tür an Tür; ja unter einem Dach, ja, als ein und dieselbe Person.

Geniale Denker und Dichter geben Versuchsanleitungen, das Gewöhnliche als ungewöhnlich zu betrachten, das Nahe als fern, den seltsamen Glanz und Schimmer auf der abgegriffenen Münze des Wortes zu sehen.

Der Aspekt des Gesehenen springt um; eben war es eine Ente, jetzt ist es ein Hase; die Idylle des abendlichen Gangs durch die heimatlichen Auen verwandelt sich beim Aufgang eines glühenden Monds in das Urnen- und Gräberfeld einer tragischen Hymne.

Der Bürger mag an seinem Weltaspekt haften bleiben, mag die Idylle der Hymne vorziehen; das Genie verschmäht es, pädagogisch oder missionarisch auf ihn einzuwirken. Ihm genügt es, die kleine Schar von Seelenverwandten um sich zu wissen oder sie in einer vagen Zukunft zu antizipieren.

Der Bürger hat alles Recht, sich zu Hause vor den Unbilden der Witterung und des Weltgeschehens zu verschanzen und am Kamin zu wärmen, während das Genie, wie heimatlos und entwurzelt, im Schneesturm herumtappt; freilich, der eine, von fetten Würsten und schwerem Wein betäubt, hört noch wie aus weiter Ferne das Prasseln und Knistern der Scheite und nickt ein, während der andere im Heulen des Sturms das Ächzen und Krachen der Weltenesche vernimmt.

Freilich, brächte der Dichter seine apokalyptische Vision im Odenton zu Papier und würde sie im Feuilleton der Zeitung abgedruckt, die der Bürger abonniert hat, blätterte dieser darüber hinweg und läse im Börsenteil zu seiner Zufriedenheit, daß seine Aktien trotz der kürzlichen Turbulenzen nicht ins Wanken geraten sind; und er täte recht daran.

Am Ende schleifen sich die Unterschiede ab, Bürger und Genie sehen sich zum Verwechseln ähnlich: So beschied Wittgenstein seine nicht wenig verblüffte Zuhörerschaft im ehrwürdigen Cambridge, er wolle von nun an Philosophie geschäftsmäßig, als eine Art Business, betreiben; als gelte es, nur die wirklich tragenden Gedanken, nicht den rhetorischen Zierrat und die ornamentalen Schnörkel, die gedanklichen Bewegungsimpulse, nicht die leerlaufenden Begriffsrädchen und metaphorischen Schleifen ins Haupt- und Tagebuch der philosophischen Untersuchungen von Sprachspielen und Denkmodellen einzutragen.

 

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