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Ja und nein

20.04.2015

Ja und nein sind Urzeichen und Urworte des Menschen. Die Zeichen begegnen uns in Gesten wie dem Nicken oder Schütteln des Kopfs oder dem Herwinken oder Abwinken der Hand. Zeichen und Worte stehen für die mentalen Aktivitäten der Bejahung und Verneinung, mittels derer wir sowohl das Wertsein und Unwertsein als auch das Bestehen und Nichtbestehen eines Sachverhalts ausdrücken.

Man hat die sprachgeschichtliche Tatsache des sogenannten Gegensinns der Urworte in vielen alten Sprachen wie dem Ägyptischen, Semitischen, Altgriechischen und Lateinischen als Beleg für das frühe Bewusstsein für relative Gegensätze (Karl Abel) oder als Analogie der ambivalenten Inhalte des Traums (Sigmund Freud) aufgefasst.

So bedeutet lateinisch altus hoch und tief, sacer heilig und verflucht. Doch wenn wir auf einem Berg stehen, schauen wir tief unten die kleinen Häuser, und wenn wir vor dem Berg stehen, erblicken wir hoch oben den Gipfelschnee. Derselbe Gott ist sowohl die Quelle der Heiligung, wenn er Opfer und Gebet annimmt, wie Quelle der Verfluchung, wenn er Opfer und Gebet verwirft.

Wenn ich die eine Perspektive einnehme, rede ich von Höhe, wenn ich die andere Perspektive einnehme, von Tiefe. Es ist aber derselbe Berg mit derselben absoluten Höhe, bezogen auf die Messung vom Nullpunkt über dem Meeresspiegel. Auch die Anzahl der Schritte, die ich beim Abschreiten einer Strecke zähle, bleibt immer gleich, ob ich die Strecke nun in die eine oder die entgegengesetzte Richtung gehe.

Indes bedeutet ja nicht nein und nein nicht ja, wenn ich beides mit behauptender Kraft äußere, nur wenn ich das Nein verneine, erhalte ich wieder ein Ja. Man könnte beinahe sagen, dass sich der menschliche Geist mit den Mitteln der Position und Negation am weitesten aus den Nebeln und dem Zwielicht der Ambivalenz und Zweideutigkeit in die lichte Region der Klarheit und Eindeutigkeit des Sagens und Tuns emporgeschwungen hat.

Etwas, was von dir aus gesehen hoch liegt, kann von mir aus gesehen tief liegen. Aber wenn du die wahre Behauptung äußerst, dass es sich bei der relevanten Strecke um eine gedachte Linie von 17 m handelt, mache ich durch meine Bestätigung deiner Behauptung diese nicht richtiger und wahrer. Ebenso wenig könnte ich deine wahre Behauptung durch mein Behaupten des Gegenteils weniger wahr oder falsch machen.

Ein starker Mann kann immer durch einen noch stärkeren Mann bezwungen werden. Im Verhältnis zu letzterem ist ersterer dann eben schwach. Aber dadurch wird unser relativ starker Mann kein schwacher Mann. Das wäre nichts als Sophisterei.

Doch können wir die Idee der Allmacht fassen, und die Theologie des Monotheismus hat die Allmacht als eine Eigenschaft Gottes betrachtet. Gegenüber der göttlichen Allmacht ist alles Nichtgöttliche und Widergöttliche nicht in relativem, sondern absolutem Sinne ohnmächtig. Wenn die Allmacht wirkliche Allmacht ist, schließt sie das Nichtgöttliche und Widergöttliche nicht aus, sondern ein: Es ist ein Geschöpf der Allmacht. Hier gelangen wir am Rande zum schöpferischen Ja Gottes, das gleichsam alles bejaht, sich selbst und das geschöpfliche Sein.

Wenn der Gegensinn der Urworte ein allgemeines Gesetz wäre, wäre die Vernunft aufgehoben und die Sprache babylonisch. Wenn im Traum beliebige Trauminhalte Zeichen für ein Bezeichnetes und sein Gegenteil sein könnten und wir nie wüssten, welcher Sinn oder Gegensinn gerade jetzt gemeint ist, wäre überhaupt keine schlüssige Interpretation von Träumen möglich.

Wir haben gelernt, logisches Bejahen und Verneinen und bewertendes Bejahen und Verwerfen zu trennen, auch wenn es nicht unplausibel ist anzunehmen, dass beides ursprünglich ineinander verwoben war und sich erst allmählich zur Klarheit der Differenz auseinandergelichtet hat.

Wir betrachten das Ja-Sagen und das Nein-Sagen, ob nun gestisch oder sprachlich ausgedrückt, als Bevorzugen oder Verwerfen eines Sachverhaltes genau dann, wenn wir das Ja-Sagen und das Nein-Sagen als Willensbekundungen meinen und verstehen.

Wenn du mir zusagst oder versprichst, mich morgen zu besuchen, hast du mit dem Zeichen für Ja als Antwort auf die Satzfrage „Kommst du mich morgen besuchen?“ evidenterweise keinen bestehenden Sachverhalt bejaht (denn der Sachverhalt, um den es geht, liegt in der Zukunft), sondern deinen Willen oder deine Absicht bekundet, zu tun, was die Frage als Antwort impliziert.

Eine positive Willensbekundung hat zur Bedingung, dass du deine Zusage nicht unter Zwang oder in der Annahme falscher Voraussetzungen gemacht hast. Du musst zum Beispiel wissen, was es heißt, jemanden zu besuchen, sonst geht deine Zusage ins Leere.

Wenn du mich morgen nicht besuchst, kann ich daraus schließen, dass:

1. du eine positive Willensbekundung vorgetäuscht, in Wahrheit aber die Absicht, mich zu besuchen, verworfen hast oder gar nicht erst gehegt hast, oder
2. du aufgrund widriger Umstände deinen Willen nicht verwirklichen konntest.

Wir bemerken, dass Willensbekundungen in ein Netz von Überzeugungen und anderen Intentionen kohärent verwoben sind. Wenn du beispielsweise für morgen eine Geschäftsreise geplant hast, die du nicht zugunsten eines Besuchs bei mir vertagen willst oder kannst, stünde deine Überzeugung, morgen eine Geschäftsreise machen zu wollen, mit der Überzeugung, mich morgen besuchen zu wollen, im Widerspruch.

Wir bemerken weiterhin, dass Bejahen und Verneinen in bewertender Funktion einen Zukunftssinn haben – im Gegensatz zur logischen Position und Negation, die sich auf das Bestehen oder Nichtbestehen von gegenwärtigen oder ewigen Sachverhalten beziehen, wie der Tatsache, dass es jetzt regnet, oder der Tatsache, dass die Summe der Winkel im rechtwinkligen Dreieck 180 Grad beträgt.

Der Zukunftssinn ist das allgemeine Signum unserer Lebenssituation als Handelnde, die auf die Bewältigung von Herausforderungen einer Umwelt von Ereignissen und Gegenständen in der Raum-Zeit bezogen sind.

Ja und nein haben je nach Umweltbedingungen oder institutionellem Kontext unterschiedliches Gewicht. Wenn du das Werbeangebot im Internet verwirfst, fällt dieses Nein nicht dermaßen ins Gewicht wie das Ja, das du vor dem Standesbeamten in Anwesenheit von Zeugen auf die Frage von dir gibst, ob du willens bist, mit der anwesenden Person den Bund der Ehe einzugehen. Diese positive Willensbekundung hat weitreichende Konsequenzen, weil sie mit rechtlichen und sittlichen Verpflichtungen und Verbindlichkeiten verbunden ist.

Die Aussage „Er wusste nicht, was er wollte“ oder „Er wusste dem verführerischen Angebot nicht zu widerstehen“ sind keine Aussagen über den epistemischen Zustand des Subjekts, sondern Feststellungen über seine Willensschwäche. Wir erkennen Willensschwäche zum Beispiel am neurotischen Symptom, nicht nein sagen zu können, auch in Situationen, in denen diese Unfähigkeit zur Verwerfung das Subjekt in Gefahr zu bringen droht.

Die Aussage „Er hat es nicht anders gewollt“ bezeichnet gleichsam den Felsen, an dem sich der Spaten zurückbiegt (Ludwig Wittgenstein). Wir sind mit dem Latein unserer Begründungen am Ende, wenn wir sagen, einer habe einen Mord begangen, obwohl er um die Strafbarkeit und Unsittlichkeit der Tat wusste, obwohl Gründe wie Eifersucht, Hass, Neid, Habgier nicht hinreichen, die Tat zu erklären, oder sogar sich als hinfällig erweisen. Wir sind mit dem Latein unserer Begründungen am Ende, wenn wir sagen, er habe Selbstmord begangen, obwohl Gründe wie ein existentieller Verlust, unheilbare Schwermut oder tiefes Gekränktsein durch die Geliebte, den Ehepartner, den Rivalen oder Gegner nicht hinreichen, die Tat zu erklären, oder sogar sich als hinfällig erweisen.

Wir sagen, einer habe das gute oder zumindest normale Leben oder das Leben überhaupt verworfen, wenn er eine Tat oder Untat oder Selbstmord begeht, um sich auf solche Weise aus der menschlichen Gemeinschaft auf Zeit oder auf Dauer auszusondern oder zu verabschieden. Wir versuchen es mit allen möglichen Erklärungen anhand aller möglichen mehr oder weniger plausiblen Gründe und kommen zum Ergebnis, dass keiner hinreicht, die negative Größe der Tat auszutarieren.

Wir ersehen daran, dass das letzte Ja oder Nein zu den Grundbeständen des Lebens ohne Gründe daherkommen und also der Vernunft nicht zugänglich bleiben kann. Warum, fragen wir vergebens, sollte das dionysische Ja gegen Tod, Krankheit und Elend Geltung beanspruchen können, warum das orphische Nein gegen die Freude, die Liebe, die schöpferische Tat?

 

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