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Philosophie und Dichtung I

02.08.2018

Ludwig Uhland, Graf Eberhards Weißdorn

Graf Eberhard im Bart
Vom Württemberger Land,
Er kam auf frommer Fahrt
Zu Palästinas Strand.

Daselbst er einstmals ritt
Durch einen frischen Wald;
Ein grünes Reis er schnitt
Von einem Weißdorn bald.

Er steckt’ es mit Bedacht
Auf seinen Eisenhut;
Er trug es in der Schlacht
Und über Meeres Flut.

Und als er war daheim,
Er’s in die Erde steckt,
Wo bald manch neuen Keim
Der neue Frühling weckt.

Der Graf, getreu und gut,
Besucht’ es jedes Jahr,
Erfreute dran den Mut,
Wie es gewachsen war.

Der Herr war alt und laß,
das Reislein war ein Baum,
Darunter oftmals saß
Der Greis im tiefsten Traum.

Die Wölbung, hoch und breit,
Mit sanftem Rauschen mahnt
Ihn an die alte Zeit
Und an das ferne Land!

 

„Das Uhlandsche Gedicht ist wirklich großartig. Und es ist so: Wenn man sich nicht bemüht das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist – unaussprechlich – in dem Ausgesprochenen enthalten!“

Ludwig Wittgenstein (Brief an Paul Engelmann vom 9.7.1917)

 

Das Gedicht bezieht sich auf Herzog Karl Eberhard I. (geb. 1445 in Bad Urach, gest.1496 in Tübingen), den Landesherrn von Baden-Württemberg und Gründer der Universität Tübingen. Er unternahm 1497 eine Pilgerfahrt nach Jerusalem, die im Empfang des Ritterschlags am Heiligen Grabe ihren krönenden Abschluss fand. Das Motiv des Weißdorns (auch Hagedorn oder Christdorn genannt) geht auf Legenden zurück, die sich um des Grafen Eberhard Pilgerreise ins Heilige Land rankten, es ist demnach keine Erfindung des Dichters Uhland. Der Name „Eberhard im Bart“ ist ein historischer Name, der ein Charakteristikum der Physiognomie des Herzogs heraushebt. Ludwig Uhland (1787–1862 in Tübingen) war Abgeordneter des Württembergischen Landtages und der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche von 1848 sowie Dozent für Germanistik an der Universität Tübingen.

Das Gedicht besteht aus sieben Strophen im Balladen- oder Volksliedton, jede Strophe aus vier kreuzgereimten Versen (a b a b) mit durchgehendem männlichen Ausgang – im Unterschied zur reinen Volksliedstrophe, deren Versausgänge weiblich-männlich wechseln.

Die Verse zeigen einen reinen jambischen Rhythmus, betonte folgt auf unbetonte Silbe. Jede Strophe ist in sich abgeschlossen und endet mit einem Punkt. Die meisten Strophen sind zu je zwei Zeilen unterteilt, sodass wir einen fließenden Übergang (Enjambement) zwischen der ersten und zweiten sowie der dritten und vierten Zeile finden. Wir könnten die ineinander übergehenden Zeilen auch als einzelne Aussagen zusammenfassen und erhalten so:

Graf Eberhard im Bart/Vom Württemberger Land,
Er kam auf frommer Fahrt/Zu Palästinas Strand.

Oder wir sehen Sinnheiten in zwei Aussagen aufgeteilt, wobei eine Aussage durch einen Nebensatz ergänzt wird:

Und als er war daheim/Er’s in die Erde steckt,
Wo bald manch neuen Keim/Der neue Frühling weckt.

Die Ausnahme von dieser Aufteilung in zwei Sinnabschnitte je Strophe macht der letzte Vierzeiler, der aus einem einzigen Satz besteht und auch aus diesem Grunde herausragt:

Die Wölbung, hoch und breit,
Mit sanftem Rauschen mahnt
Ihn an die alte Zeit
Und an das ferne Land!

Es ist typisch für balladenhafte Gedichte, dass sie etwas erzählen. So erzählt uns das Uhlandsche Gedicht von der Pilgerreise („fromme Fahrt“) des Grafen Eberhard aus dem Württemberger Land, der auf einem Ritt durch einen frühlingshaften Wald („frischer Wald“) im Orient einen Spross („Reis“) von einem Weißdornstrauch schnitt, den er an seinen Helm („Eisenhut“) steckte, auf dass er ihn wie ein Heilsbringer oder Talisman (er pflückt den Zweig sich „mit Bedacht“) wohlbehalten durch den Krieg und übers Meer begleite. Glücklich in die Heimat zurückgelangt, pflanzt der Graf das Reis in den Boden und aus dem Keim wächst ein prächtiger neuer Baum heran.

Hier, in der 4. Strophe sind wir in der Mitte des Gedichts und der Erzählung angelangt, und das erscheint ganz natürlich, wenn wir die Folge der sieben Strophen so einteilen: 3 + 1+ 3.

Die zweite Hälfte des Gedichts, also die letzten drei Strophen gemäß unserer Einteilung, unterscheidet sich wesentlich von der ersten Hälfte. Denn sie erzählen nichts Großes und Aufregendes wie die Abenteuer der exotischen Fahrt der ersten Hälfte. Doch was sie sagen, dass der Graf gern den Weißdorn aufgesucht hat, dieses entscheidende Motiv wird in diesen letzten drei Strophen mehrfach umspielt und abgewandelt.

Die fünfte Strophe besagt, der Graf habe den Baum alljährlich aufgesucht, um sich an seinem Wachstum zu erfreuen und selbst neuen Mut zu schöpfen. Das gemahnt an eine Art Gedenk- oder Wallfahrt des Mannes, wie man Orte aufzusuchen pflegt, an denen Monumente oder Denkmale der eigenen Geschichte zur Betrachtung und Besinnung einladen.

In jungen Jahren war der Graf tätig (Pilgerreise, Schlacht), er ist im besten Alter und ein rechtschaffener Verwalter seiner Dienstgeschäfte als Landesherr („getreu und gut“), wenn er seinen Lebensmut am Anblick des sprießenden und blühenden Baumes erfrischt. Nun (6. Strophe) wird er alt und laß („müde“, „erschöpft“), genannt, ja in der 6. Strophe begegnet er als „Greis“, hochbetagt.

Das Gedicht beleuchtet auf diskrete Weise, das heißt am Beispiel eines individuellen Lebensganges unter dem Symbol oder der Allegorie des Weißdorns, die Altersstufen und ihre Bedeutung für das menschliche Dasein. Die Jugend glänzt in der Frische und Abenteuerlust der Tat, das reife Alter erfüllt der Mut, das Tagwerk zu bestehen, das hohe und das Greisenalter („alt und laß“) indes neigt sich der Stille zu, dem Traum (6. Strophe) und der Erinnerung (7. Strophe).

Warum nennen wir den Weißdorn ein Symbol oder eine Allegorie? Nun, der Baum verkörpert das Leben der gedichteten Figur, er ist mit ihrem Sein und Werden, Tun und Lassen innerlich verwoben.

Der Graf, der den Weißdorn einst in seiner Jugendzeit geborgen hat, indem er den Zweig von ihm schnitt und ihn in seiner Heimat pflanzte, wird nun selbst als alter Mann von der schattigen Wölbung des hoch gewachsenen Baumes geborgen.

Das Rauschen der Blätter des Baumes spricht zu dem an seinen Stamm gelehnten alten Mann („mahnt“) von der alten Zeit. Eben jener Reise in das ferne Land, da er das Reis schnitt, aus dem in langen Jahren der Baum emporgewachsen ist, unter dem er nun ruht und Ruhe findet.

Der Kreis ist geschlossen, er begann in dem jugendlichen Aufbruch in den Orient und vollendet sich in der Erinnerung an jenes ferne Land.

Gewiss tönt in diese Erinnerung auch die religiöse Hoffnung und Erwartung mit, unter dem Rauschen des Baumes aus dem Heiligen Land für immer einzuschlafen, um für immer in jenem fernen Land zu erwachen, für das der Name des Heiligen Landes das Symbol darstellt.

Das Gedicht ist einfach, unaufdringlich und schlicht, es macht nicht mit großen Worten oder wilden Gesten auf sich aufmerksam. Es hat den leisen Ton und stillen Zauber einer Blüte, die einen zarten Duft verströmt, keinen schweren und künstlich parfümierten.

Alles, was zu sagen ist von Graf Eberhard und seinem Weißdorn, ist in denkbar klaren und verständlichen Worten gesagt. Und doch umschwebt das Gesagte wie jener leise Duft ein Geheimnis, das sich einer allzu zudringlichen psychologischen Neugier entzieht und vom vorlauten Mund unbezähmter Phrasen nicht aufgeschnappt werden kann.

Man kann es das Geheimnis des Lebenssinnes nennen, der sich uns nur erschlösse, wenn wir ein Leben ganz überblickten, was wir mit unseren beschränkten Mitteln nicht vermögen. Und doch scheint dieser Überblick im Gedicht angedeutet, wenn der Traum und die Erinnerung des Greises zu seiner Jugendzeit zurückkehren, um nach der Verpflanzung des Keimlings in seine Heimat, dem Sprießen des Baums und seiner vollen Prachtentfaltung wieder in das Rauschen seiner Zweige über dem Ruhenden zu münden.

Der Weißdorn des Gedichts oder der gedichtete Baum erschließt uns andeutungsweise den Sinn des Lebens, insofern er gleichsam mit dem Leben und den Lebensstadien des Grafen Eberhard verwächst. Er stammt aus einem fernen Land, das die Sage heiligt, er wächst zu einer Größe heran, die das Maß des menschlichen Daseins überragt, er bleibt beständig, auch wenn die Kräfte des kleinen Menschenlebens schwinden, er spendet dem hinsinkenden Leben den einzig verbleibenden Trost der Träume und der Erinnerung. Er überdauert das Dasein des Individuums, denn wir mögen gerne glauben, Graf Eberhard sei in seinem Schatten verstorben.

Ludwig Wittgenstein war in der Zeit der Ausarbeitung des Tractatus logico-philosophicus zu der Ansicht gelangt, dass der Sinn des Lebens weder in empirischen noch in philosophischen Sätzen erfasst werden könne, insofern Sätze nur sinnvoll sind, wenn sie ein logisches Bild der Welt enthalten, das sie nicht wiederum aussprechen, sondern nur an ihrer Form, wie an ihrem semantischen Schatten, zeigen können. Sätze, die gleichsam den Mund zu voll nehmen und über das Ganze der Welt und des Lebens direkte Aussagen treffen wollen, seien sinnlos.

In Uhlands Gedicht finden wir Aussagen, die sich als andeutende Sätze über das Ganze des Lebens verstehen lassen, die weder empirisch noch philosophisch sind. Freilich reden diese Sätze nur gleichsam hinter vorgehaltener Hand und mit gedämpfter Stimme und sie tun dies nicht, ohne die diskrete und sublime Kraft symbolischer Redeweise zu Hilfe zu nehmen.

Wenn Uhlands Gedicht auf reiner Sage beruhen sollte, sind dann seine Aussagen falsch, weil sie von keinen Tatsachen bestätigt werden? Wären wir enttäuscht zu erfahren, dass Graf Eberhard kein Reis eines Weißdorns aus dem Heiligen Land in seine Heimat mitgebracht und dort eingepflanzt, geschweige denn unter seinem Laub sich Träumen und Erinnerungen hingegeben hat?

Sollten alle Aussagen des Gedichts empirisch widerlegbar sein, änderte dieser Umstand nichts an seiner dichterischen Aussagekraft.

Welchen Status haben also dichterische Sätze? Sie sind nicht Aussagen über Fakten und Ereignisse der Welt, über einen gewissen Grafen Eberhard von Württemberg, der dann und dann eine Pilgerreise ins Heilige Land unternahm oder von dem sich herausstellt, dass er entgegen der Legende keinen Ableger eines Weißdorns übers Meer nach Hause mitbrachte. Sie sind Aussagen über die Totalität des Lebens, über das Ganze der Welt, am Beispiel des Lebens einer Person, unter Zuhilfenahme eines sprechenden Symbols, zum Beispiel des Weißdorns.

Eine Kinderzeichnung zeigt über einem Gekrakel von Linien, die vielleicht Bäume oder seltsame Tiere darstellen sollen, die Sonne mit einem lachenden Gesicht. Hier greifen wir den Kern der künstlerischen Aussage, insofern das Bild zwar wie alle Bilder die logische Form der Abbildung aufweist, wonach ein Zeichen für irgendetwas steht, aber in alltäglichstem Verstande etwas Nicht-Faktisches abbildet.

Eine Kinderzeichnung zeigt über einem Gekrakel von Linien, die vielleicht Bäume oder seltsame Tiere darstellen sollen, die Sonne mit einem lachenden Gesicht. Hier greifen wir den Kern der künstlerischen Aussage, insofern das Bild zwar wie alle Bilder die logische Form der Abbildung aufweist, wonach ein Zeichen für irgendetwas steht, aber in alltäglichstem Verstande etwas Nicht-Faktisches abbildet.

Doch gerade dies ist von höchster Bedeutsamkeit, und so wird nur eine puritanisch-engherzige Pädagogik das Kind tadeln, etwas Irreales und Nicht-Faktisches gemalt zu haben. Denn dies eben wirft ein Licht auf den mitempfundenen Sinn des Lebens, des gelungenen oder glücklichen Lebens, könnte man sagen.

„Sag Ihnen, ich hatte einen wunderbares Leben“ sollen (trotz der großen Qualen, die er durchlitten hat) die letzten Worte Wittgensteins gewesen sein. Wenn wir uns vorstellen, des Grafen Eberhard Leben hätte unter dem Schatten und dem Rauschen des Weißdorns (trotz der Wahrscheinlichkeit, dass es ihn nie gegeben hat) mit der Erinnerung an das Heilige Land enden können, wären wir nicht abgeneigt, Ähnliches auch von ihm zu sagen.

 

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