Kleine philosophische Lektionen XV
Gibt es falsche Erinnerungen?
Wir nennen eine Erinnerung wahr oder eine echte Erinnerung oder kurz eine Erinnerung, wenn das Ereignis der Vergangenheit, auf das sie sich bezieht, stattgefunden hat und derjenige, der die Erinnerung hat beziehungsweise den Satz des Erinnerns („Ich erinnere mich daran, dass p zur Zeit t am Ort l“) äußert, am Ort des Ereignisses oder Augen- und Ohrenzeuge des Ereignisses gewesen ist. Mit anderen Worten. Eine Erinnerung ist wahr genau dann, wenn das erinnerte Ereignis die unmittelbare Ursache der Erinnerung ist.
Wir erfahren, dass Antonie Brentano sich 1855 an den achttägigen Aufenthalt Goethes in ihrem Haus in Oestrich-Winkel (dem heute sogenannten Brentano-Haus) erinnerte und ihre Erinnerung in folgendem Satz niedergelegt hat: „Jeden Morgen zog er seinen weißen flanellenen Schlafrock an, legte die Hände auf den Rücken und wanderte den langen Bogengang, der fast bis an den Rhein reichte, auf und ab.“ Wir wissen, dass diese Erinnerung beziehungsweise die Niederschrift dieser Erinnerung sich auf Ereignisse bezieht, die 41 Jahre vor der Erinnerung beziehungsweise vor der Niederschrift der Erinnerung zurückliegen.
Interessant an diesem Fall ist die Tatsache, dass sich die Erinnerung der Brentano nicht auf ein Einzelereignis bezieht, sondern auf wiederholte Ereignisse, deren visuellen Querschnitt – könnte man sagen – sie im Bild des allmorgendlich im weißen Flanellschlafrock mit auf dem Rücken verschränkten Händen den Gartenweg auf und ab spazierenden Goethe zieht. Doch wenn Goethe an dem einen oder anderen Morgen nicht den weißen Schlafrock, sondern einen andersfarbigen trug, wenn er einmal nicht mit auf dem Rücken verschränkten Händen, sondern mit frei schwingenden Armen einherging, wenn er schließlich wegen morgendlichen Katers aufgrund heiter-geselliger Zecherei am Abend zuvor nicht aus den Federn kam und also an diesem Morgen seinen gewohnten Gang gar nicht erst antrat – sollen wir dann sagen, das Erinnerungsbild der Brentano sei falsch, nicht präzise genug, unvollständig, gleichsam löchrig?
Vielleicht hat sich in den langen Jahrzehnten nach dem Ereignis das Bild eines anderen ebenso berühmten Mannes vor die Camera Obscura ihres Gedächtnisses geschoben und die Brentano hat Goethe mit den Attributen und Gewohnheiten Beethovens, dessen „Unsterbliche Geliebte“ gewesen zu sein man ihr nachsagt, ausstaffiert? Wenn dem so wäre, bliebe als Residualform oder Erinnerungsrest der Brentano nur der Verweis auf die Tatsache, dass sich ein Mann zu einer bestimmten Zeit in ihrem Haus aufgehalten und wohl regelmäßig einen Morgenspaziergang im Park des Hauses unternommen hat und dieser Mann war Goethe.
Aber das scheint uns nicht mit der Art und Weise zu harmonieren, in der sich uns Erinnerungen darbieten: Ist es nicht gerade das Charakteristische, Individuelle, Singuläre, mit dem sich das Erinnerungsbild aufdrängt und Geltung verschafft und weniger oder überhaupt nicht das Typische und Allgemeine? Die auf dem Rücken verschränkten Hände beglaubigen sich uns als eine charakteristische Manier und das Weiß des Schlafrocks schimmert besonders intensiv.
Wenn sich aber herausstellen sollte, dass Antonie Brentano sich zur fraglichen Zeit nicht im Rheingau, sondern in Wien oder Prag aufgehalten hatte und dass sie von den Ereignissen um Goethes Aufenthalt im Brentano-Haus und den morgendlichen Spaziergängen des Dichters aus Briefen ihres Gatten Kenntnis genommen haben muss, können wir nicht anders als sagen, die werte Dame sei in Bezug auf ihre Erinnerung einer Täuschung oder besser einer Selbsttäuschung aufgesessen, denn sie konnte nicht beanspruchen, sich an Ereignisse zu erinnern, die sie nicht selbst wahrgenommen hat.
Zu sagen „Ich erinnere mich daran, bin aber nicht dort gewesen“ oder „Ich erinnere mich daran, denn ich habe davon gelesen“ oder „Ich erinnere mich daran, denn man hat es mir erzählt“ scheint uns ähnlich inkonsistent wie der Satz „Es regnet, aber ich glaube es nicht“ oder „Ich habe Zahnschmerzen, aber ich glaube es nicht“.
Du kannst sagen: „Ich erinnere mich daran, von Goethes Aufenthalt im Rheingau gelesen zu haben.“ Aber nicht: „Ich erinnere mich an Goethes Aufenthalt im Rheingau, denn ich habe davon gelesen.“
Das Bild der Erinnerung oder das Erinnerungsbild ist eine bloß metaphorische Redeweise, in Wahrheit ist die Erinnerung weder ein Bild noch an visuelle oder andere Wahrnehmungsbilder gebunden. Wäre die Erinnerung ein Bild, zum Beispiel die Erinnerung der Brentano das Bild von Goethe, wie er im Park ihres Hauses umhergeht, woher wüsste sie, die Brentano, dann, ob dieses Bild ein echtes oder verfälschtes Bild von Goethe ist – womit sollte sie es vergleichen, um seine Echtheit zu verifizieren, mit anderen gemalten oder literarischen Bildnisses Goethes – und woher weiß sie, dass diese echt sind und nicht nach dem idealisierenden oder karikierenden Wunsch ihres jeweiligen Autors verfälscht?
Bilder sind allemal Objekte der Wahrnehmung und was ich wahrnehme, steht mir vor Augen oder wie man zu sagen pflegt steht mir vor dem geistigen Auge. Das, woran ich mich erinnere, nehme ich aber nicht wahr, denn zur bewussten Erinnerung gehört auch das Wissen, dass das, woran ich mich erinnere, der Vergangenheit angehört und kein Teil meiner gegenwärtigen Wahrnehmung oder meiner Wahrnehmung des Gegenwärtigen darstellt.
Wenn Erinnerungen keine gegenwärtigen Wahrnehmungen sind, sind sie dann etwa vergangene Wahrnehmungen – so ähnlich wie die Fotos im Album, unter denen etwa steht „Kölner Dom, August 1972“ oder „Frankfurter Zoo, Sommer 2001“? Aber auch wenn du selbst auf den Fotos von Köln und Frankfurt mit abgebildet bist – in der Erinnerung bist du nicht wie ein Avatar in die vergangene Wahrnehmungsumgebung eingekapselt, sondern du bist derjenige, der sich erinnert, und der Fingerabdruck, der deine Erinnerung als die deine ausweist, ist die Tatsache der subjektiven Einstellung, aus der die Erinnerung die Ereignisses beleuchtet.
Wenn du gefragt wirst, ob du dich an das Jahr deiner Einschulung erinnerst, könntest du mit der richtigen Jahreszahl antworten, ohne dass irgendwelche visuelle oder akustische Erinnerungsbilder von Schultüten, Kindergeschrei, fröhlichem Liedgesang oder den schwarzen Basaltsteinen des großen Treppenaufgangs zum Schulgebäude in dir aufsteigen. Und würdest du nach dem Jahr deiner Einschulung gefragt und all diese visuellen und akustischen Erinnerungsbilder stiegen in dir auf, du erinnertest dich aber nicht an die korrekte Jahreszahl, was hülfen dir all die Bilder?
Erinnerungen sind der Fundus oder der Boden oder der Humus des Lebens, auf dem seine alltägliche Gerste und seine feiertägliche Rose entsprießen. Der Altersschwache oder Demente verliert die Orientierung und den Halt im Leben und muss sich auf die Erinnerung seiner Mitmenschen oder Pfleger stützen. Sagen verkörpern die legendäre Gründungsgeschichte eines Volkes und werden spät erst durch die Wissenschaft des Erinnerns, die Historiographie, abgelöst. Die Historiographie prüft die Dokumente und Archivalien, die Berichte und Zeugenaussagen auf den stimmigen kausalen Zusammenhang mit den Ereignissen, über die sie zu berichten und für die sie Zeugnis zu geben beanspruchen. Verstärkung oder Korroboration der Argumente für die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit von Aussagen oder Zeugnissen über Vergangenes findet statt, wenn die Linien der Bezeugungen von der singulären Quelle des Ereignisses in verschiedene Richtungen ausstrahlen derart, dass diese Linien sich nicht schneiden oder interferieren (und sich deshalb teilweise oder ganz neutralisieren würden). So ist der Wert der Aussagen zweier Zeugen vor Gericht, die über dasselbe Verbrechen aussagen, stärker zu gewichten, wenn sie sich nicht kennen und ihre Lebenslinien bis zur Koinzidenz am Ort des Verbrechens unabhängig voneinander verliefen, als wenn sie sich kennen und einander nach der Tat begegnet sind, sich über das Ereignis ausgetauscht und somit Einfluss aufeinander genommen haben.
Die Wahrheit von Erinnerungen ist ähnlich wie die Wahrheit von Wahrnehmungen an die Erfüllungsbedingungen der jeweiligen intentionalen Gegenstände des Erinnerten und Wahrgenommen gebunden. Die intentionalen Gegenstände werden in den zugehörigen Sprechakten als Propositionen dargestellt: „Ich erinnere mich daran, dass p“ und „Ich nehme wahr, dass p“. Eine Erinnerung liegt vor, wenn p, und außerdem wenn p die Ursache der Tatsache ist, dass ich mich daran erinnere, dass p.
Wir folgern: Es kann keine falschen Erinnerungen geben, ebenso wenig wie es falsche Wahrnehmungen geben kann. Wenn ich zu sehen glaube, dass p, und p existiert nicht, sehe ich nicht, dass p, sondern habe eine Halluzination. Ich muss dann sagen: „Ich glaubte etwas zu sehen, aber ich habe mich geirrt, in Wahrheit habe ich nichts gesehen, sondern mir eingebildet, etwas zu sehen.“ Wenn ich glaube, mich daran zu erinnern, dich letzte Woche im Bethmannpark gesehen zu haben, aber du warst an einem anderen Ort, habe ich mich nicht daran erinnert, dich gesehen zu haben, sondern bin in meiner Annahme, mich an ein solches Ereignis erinnert zu haben, fehlgegangen.
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