Kleine philosophische Lektionen XVII
Objektivität und Wahrheit, Schein und Augenschein
Wenn wir darstellen wollen, wie die Dinge sich verhalten, brauchen wir eine Methode und ein Medium der Darstellung (Repräsentation), das mit dem Dargestellten einen Maßstab oder eine Struktur teilt. Wir nennen die Methode Projektionsmethode; das Medium der Darstellung sind visuelle Strukturen oder Bilder beziehungsweise graphische Strukturen oder Schriften – wobei die graphischen Strukturen ihrerseits Ergebnisse der Projektion akustischer Darstellungen auf die visuelle Darstellungsebene sind.
Eine Darstellung, die die Dinge darstellt, wie sie sich verhalten können oder sich verhalten, nennen wir objektiv. Wir können zwei Gründe anführen, weswegen die Objektivität der Darstellung verfehlt wird, und demnach im Umkehrschluss zwei Gründe finden, weswegen wir die Darstellung für gelungen oder für objektiv gültig betrachten können: Die Projektion ist fehlerhaft oder die Projektion ist inadäquat und der Maßstab unangemessen.
1. Objektivität und Wahrheit der Darstellung
Wir sehen auf einer topographischen Karte viele kleine Kreise unterschiedlicher Größe, die durch Linien unterschiedlicher Dicke verbunden werden. Die Kreise stehen für Ortschaften und Städte, die Linien für Wege, Landstraßen, Bundesstraßen oder Autobahnen. Die Kreise und Linien sind Projektionen realer Objekte, die zum Beispiel auf handelsüblichen Karten und Atlanten im Maßstab von 1:200.000 abgebildet werden.
Statt der Kreise oder neben den abgebildeten Kreisen können auch die Namen der betreffenden Ortschaften und Städte in unterschiedlicher Typographie und Schriftgröße stehen. Kleine Ortschaften unter 20.000 Einwohnern werden vielleicht in gemischter Schreibweise angeführt. Große Ortschaften ab 20.000 Einwohnern werden zum Beispiel in Versalien geschrieben, wobei unterschiedliche Schriftgrößen eine maßstäbliche Projektion der Einwohnerzahl der betreffenden Städte darstellen. Darüber hinaus können andere Bedeutungen mit vielen anderen Zeichen projiziert werden: Unterschiedliche Unterstreichungen von Städtenamen bedeuten zum Beispiel ihren Status in der kommunalen Verwaltung und im Staat als Kreisstädte, Landeshauptstädte, Bundeshauptstadt. Die Verwendung verschiedener Farben für die Namen der Orte könnte anzeigen, dass es sich um eine Industriestadt, einen Erholungsort, einen Verwaltungssitz, eine Stadt mit mittelalterlichem Kern oder eine Kulturmetropole handelt.
Wenn eine Linie zwei Kreise verbindet, die in Wirklichkeit nicht durch einen Weg miteinander verbunden sind (wie abgelegene Orte im Gebirge, die keine direkte Verbindung untereinander haben, sondern nur über dritte Orte erreichbar sind) oder wenn eine Stadt durch die Größe ihres Namens als Großstadt ausgewiesen wird, obwohl sie in Wirklichkeit eine Kleinstadt ist, oder wenn der Name einer Stadt in Grün als Anzeige der Tatsache angeführt wird, dass sie ein Erholungs- oder Kurort ist, und die Stadt in Wahrheit ein Industriestandort ist – in diesen und allen analog aufgebauten Fällen sprechen wir davon, dass die Projektion fehlerhaft ist, weil das Dargestellte nicht die Bedeutung hat, die das verwendete Zeichen ihm zuweist. In allen anderen Fällen aber, in denen das verwendete Zeichen die Bedeutung angibt, die dem dargestellten Gegenstand in Wirklichkeit zukommt, sprechen wir von einer wahren Darstellung.
Wir können uns durch verschiedene Methoden der Überprüfung von der Wahrheit oder Falschheit einer Darstellung überzeugen. Eine vor Gericht bewährte Untersuchungs- und Beweismethode ist die Zeugenschaft aufgrund des Augenscheins, also aufgrund der Tatsache, dass der Augenzeuge bei dem zur Verhandlung stehenden Ereignis anwesend und seiner Sinne mächtig war und darüber hinaus das Ereignis wahrgenommen hat. Auch wenn wir um die Fallstricke der Erinnerung wissen und die Verzerrungen des Augenscheins durch optische Täuschungen und ideologische Voreingenommenheiten in Rechnung stellen, würden wir die Skepsis nicht so weit treiben, der Wahrnehmung jedwede Möglichkeit objektiver Darstellung und jedweden Zugang zur Wahrheit zu bestreiten. Denn wenn wir die Möglichkeit objektiver Darstellung bestreiten, ziehen wir uns den Teppich unter unseren Füßen fort.
Wenn wir die Wahrheit einer topographischen Projektion bezweifeln, sollten wir die durch diese Projektion definierte Aussage überprüfen. Die topographische Projektion, wonach es keine Wege zwischen zwei Orten gibt, wenn auf der Karte keine Verbindungslinie zwischen zwei Ortszeichen existiert, definiert die Aussage: „Ort A und Ort B werden nicht direkt durch einen Weg miteinander verbunden.“ Wir müssen uns zur Überprüfung dieser Aussage aufmachen, um uns vor Ort selbst ein Bild der Lage zu verschaffen, und die Örtlichkeiten in Augenschein nehmen. Wenn wir dann alle von dem Ort A ausgehenden Wege abschreiten und auf mindestens einem dieser Wege den Ort B erreichen, haben wir den Beweis, dass die Projektion fehlerhaft und die topographische Darstellung falsch ist.
Wir bemerken, dass die Objektivität der Darstellung oder die Repräsentation wirklicher oder möglicher Sachverhalte die Voraussetzung dafür ist, dass eine Darstellung fehlerhaft oder korrekt und die durch sie definierte Aussage wahr oder falsch ist. Wahrheit oder Falschheit „existieren“ also nicht unabhängig von der Objektivität von Darstellungen, die wiederum auf Methoden maßstabsgetreuer Projektion beruhen. Dass heißt: Eine unartikulierte Sprache kann nicht Träger sinnvoller Bedeutungen sein oder eine topographische Projektion, deren Zeichen in der sogenannten Legende nicht systematisch, sondern willkürlich interpretiert werden, ist keine brauchbare Karte, die uns in Wirklichkeit und in der Wirklichkeit orientieren könnte.
Eine Projektionsmethode muss so mächtig oder komplex sein, dass wir mit ihrer Hilfe nicht nur die Eigenschaften bestehender Objekte projizieren können („Prädikatenlogik“), sondern auch die relativen Größen, die sich aus dem Zusammenhang von Eigenschaften verschiedener Objekte ergeben („Relationenlogik“). Wenn ein Kreis die Größe hat, so dass wir wissen, er repräsentiert die Kleinstadt A, und ein anderer Kreis die Größe hat, so dass wir wissen, er repräsentiert die Großstadt B, dann wissen wir zugleich, dass A kleiner ist als B und B größer ist als A.
Natürliche Projektionen erweisen sich manchmal als unterkomplex. So bleiben wir bei der Beobachtung von im Sonnenlicht vorgefundenen Schatten als Projektionen der Gegenstände, die sie werfen, meist am Schein haften, wenn wir von der Projektion auf die tatsächliche Größe der Gegenstände schließen wollen. Bekanntlich ist der Schatten, den die Gegenstände im Morgen- und Abendlicht werfen, länger als die wahre Größe des Objekts, während er im Zenit ganz zu verschwinden vermag.
2. Die Angemessenheit der Darstellung
Unangemessen ist eine Darstellung, wenn wir einen Maßstab verwenden, durch den das Dargestellte undeutlich oder unentzifferbar wird – das gilt für Ausweicher nach oben wie nach unten. Wenn das Dargestellte aufgrund des angenommenen Maßstabs die Größe des realen Objekts annehmen würde, befänden wir uns in der absurden Welt von Jonathan Swift.
Eine Projektionsmethode ist unangemessen, wenn man keinen Maßstab zwischen Darstellung und Dargestelltes anlegen kann. Ein Metermaß, das sich permanent in unvorhersehbarer Weise ausdehnte oder zusammenzöge, böte uns keine verlässliche Methode der Größenbestimmung starrer Objekte. Das Metermaß muss selbst relativ starr sein oder aus festem Material bestehen, um seinen Zweck erfüllen zu können.
Es ist im höchstem Maße erstaunlich, dass wir in der Unterteilung von Lauten in Bedeutungen oder besser den Unterschied von Bedeutungen erzeugende lautliche Einheiten und ihre grammatisch geregelte Zusammensetzung eine ausreichend mächtige und komplexe Projektionsmethode der Darstellung beliebiger Gegenstände, Eigenschaften und Relationen entwickelt und zur ständigen Verfügung haben. Wir kennzeichnen den Unterschied der Bedeutung einer Aussage, die sich auf die Gegenwart bezieht, und einer Aussage, die sich auf die Vergangenheit bezieht, nur durch zwei Phoneme: „Er weiß, dass p“ und „Er wusste, dass p.“ Wenn wir hören, dass einer weiß, dass ein Sachverhalt besteht, wissen auch wir, dass der Sachverhalt besteht. Wenn wir aber hören, dass einer wusste, dass ein Sachverhalt bestand, wissen wir zwar, dass der Sachverhalt damals bestand, nicht aber, ob er auch heute noch besteht.
Wenn wir hören, dass die Kandidaten die Gleichung lösen können, wissen wir, dass sie die Gleichung lösen können. Wenn wir allerdings hören, dass die Kandidaten die Gleichung lösen könnten (wenn sie sich auf den Hosenboden gesetzt und fleißig geübt hätten oder wenn sie nicht so dumm wären), dann wissen wir, dass sie die Gleichung NICHT lösen können.
Wir entdecken, dass wir auf gleichsam elegante Weise die für die Struktur oder den logisch-semantischen Raum unserer sprachlichen Darstellung grundlegende Bedeutung der Verneinung anhand der Konstruktion des irrealen Konditionalgefüges einführen können: Wenn wir hören, dass der Fleck rot wäre oder rot sein sollte oder rot sein könnte, wissen wir, dass er nicht rot ist. Wenn der Fleck nicht blau wäre, hätte er nicht die Farbe, die er hat. Wenn der Fleck nicht blau wäre, wüssten wir, er wäre vielleicht rot, grün oder gelb.
Der Unterschied zwischen Tier und Mensch lässt sich an der sprachlichen Verfügung über die Bedeutung der Negation klar machen: Tiere sehen, dass der Fleck blau ist, können aber nicht sehen, wie es wäre, wenn er eine andere Farbe hätte. Tiere können nicht annehmen oder zeigen oder sagen, er wäre rot oder grün oder gelb, wenn er nicht blau wäre.
Wenn wir hören „Wau, wau, wau“, warum glauben wir dann nicht zu wissen, dass der Hund Durst hat, und wenn wir dagegen hören „Wau, wau – rrr“, warum glauben wir dann nicht zu wissen, dass der Hund Durst hätte (wenn er nicht eben einen halben Liter Wasser getrunken hätte)?
Mit der sprachlichen Darstellung können wir nicht nur etwas darstellen, sondern auch darstellen, wie wir etwas darstellen, also die Methode sprachlicher Projektion darstellen. In einer Art der metasprachlichen Dauerreflexion sind wir uns der von uns verwendeten sprachlichen Mittel mehr oder weniger ständig und deutlich bewusst. Mehr noch: Die Darstellung ist von der Art, dass wir für sie gleichsam haftbar und verantwortlich gemacht zu werden pflegen. Jemand, der behauptet, er wisse, dass sein Nachbar gestern in Urlaub gefahren ist, wird der Lüge und Unwahrhaftigkeit geziehen oder eines Vergehens beschuldigt, wenn es sich herausstellt, dass in dem Moment, in dem er uns diese Behauptung am Telefon mitteilt, sein Nachbar in aller Seelenruhe neben ihm am Tisch sitzt. Wir bemerken die Grenze, bis zu der wir die Verantwortlichkeit in der Verwendung der Sprache ziehen: Wenn jener, der behauptet, dass sein Nachbar gestern in Urlaub gefahren sei, ohne die Absicht der Lüge oder Verschleierung an seiner Behauptung festhält, obwohl der Nachbar neben ihm am Tisch sitzt, haben wir diese gleichsam absolute oder transzendentale Grenze berührt. In diesem Falle gehen wir nicht davon aus, dass der Sprecher für das Gesagte haftbar und verantwortlich zu machen ist – wir drücken das so aus, dass wir sagen, er sei verrückt geworden.
Wenn wir hören oder lesen „Es gibt nur die Atome und das Leere“ (Demokrit, Lukrez), wissen wir zugleich, dass es mehr gibt – und zwar gleichsam unendlich viel mehr. Denn es gibt außer den Atomen und dem Leeren den Gedanken, dass es nur die Atome und das Leere gebe. Der Gedanke dieses Gedankens ist wiederum ein Gedanke. Können wir die unendliche Reflexion oder die unendliche Reihe der ineinander verschachtelten Darstellungen willkürlich abbrechen? Warum können wir sie nicht an der frühesten Gelenkstelle, beim Gedanken des Gedankens, abbrechen, dort, wo es der Materialist tut?
Dass wir in Hinsicht auf raumzeitliche Objekte und ihre Beziehungen projizieren und nur auf diese Weise unsere Methode sprachlicher Darstellung von Objekten anwenden, drücken wir so aus, dass wir sagen: „Es gibt eben diese raumzeitlichen Objekte und ihre Beziehungen, und das ist alles, was es gibt (außer der sprachlichen Darstellung dieses Gedankens).“ Wir sagen damit, dass die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt sind (Ludwig Wittgenstein) oder dass wir das, was wir überhaupt sagen können, angemessen sagen können, alles andere (was immer das heißen mag) aber nicht sagen können – ohne dass durch diese seltsame Tatsache unsere Welt zum Schein und unsere sprachliche Darstellung leer würden.
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