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Kleine Poetik in Bildern III

12.06.2015

Shakespeare lässt Hamlet in dem gleichnamigen Drama ein Spiel im Spiel aufführen, ein recht primitives Schauerstück, in dem der Herrscher eines dubiosen italienischen Kleinreichs mittels Einflößung eines bösen Gifts in des Schlafenden Ohr vom Diesseits ins Jenseits befördert wird, um die Intrige der Königin und ihres Geliebten am Hof komplett zu machen. Shakespeare lässt dieses Gruselstück in seinem Drama von fahrenden Schauspielern und Theaterleuten aufführen, in denen er einen ironischen Blick auf seine eigene Truppe oder seine eigenen Erfahrungen als Theatermann zu werfen sich wohl nicht enthält.

Wir sehen auf der Bühne nicht nur das Stück im Stück, sondern auch sein Publikum, allen voran das neue Königspaar Gertrude, Hamlets Mutter, und Claudius, den Onkel des Prinzen, den der vom Geist des Vaters heimgesuchte Königssohn Hamlet verdächtigt, seinen Vater durch eben dieselbe heimtückische Methode umgebracht zu haben, um die Macht widerrechtlich an sich zu reißen. Während der entscheidenden Szene, da dem schlafenden Herrscher das tückische Gift eingeträufelt wird, fährt im Zuschauerraum Claudius, höchst betroffen von dem Dargestellten, auf und lässt barsch die weitere Aufführung abbrechen. Für Hamlet eine Probe aufs Exempel, denn er sieht in dieser Reaktion des Zuschauers eine Bestätigung seiner Vermutung.

Wir realen Zuschauer des fiktiven Geschehens auf der Bühne und der fiktiven Zuschauer des Stücks im Stück sind seltsamerweise in derselben epistemischen Position wie die fiktiven Zuschauer auf der Bühne und bangen deshalb wie diese nicht um das Leben des Herrschers, dem das Gift eingeflößt wird, weil wir wie diese wissen, dass es sich nicht um einen realen Herrscher handelt, sondern um den Schauspieler, der seine Rolle spielt. Und wir bangen wie diese auch nicht um das Leben des Schauspielers, denn wir wie diese wissen, das Ganze ist ein Spiel und nicht die Realität, in der ein echtes Gift einen wirklichen Menschen töten kann. Die reale Position des Zuschauers kann durch die fiktive Position des Zuschauers des Stückes im Stück wiederholt und reflektiert werden.

Nun hat Hamlet seinen Freund und Mitwisser Horatio angehalten, die Reaktionen des Claudius auf die Szene genau zu beobachten und ihm zu berichten. Können wir annehmen, dass der erfahrene Theatermann Shakespeare in den Reaktionen des Zuschauers Claudius auf die Theateraufführung eine Probe seines Wissens von der Wirkung des Schauspiels und also auch seiner Theaterkunst auf die Zuschauer zum Besten gibt? Wir wissen, dass der Zuschauer Claudius weiß, dass es sich um ein Spiel handelt, und dennoch zeigt er eine heftige emotionale Reaktion, weil das Gesehene ihm seine eigne Tat in Erinnerung ruft. Die emotionale Wirkung des Irrealen oder der Scheinwelt oder der fiktionalen Welt, wie sie die Kunst uns vor Augen stellt, kann demnach nach Shakespears Meinung einer emotionalen Wirkung eines realen Geschehens ähnlich sein.

Wenn wir in einer anderen Szene desselben Dramas sehen, wie sich Polonius, der Vater des Laertes und der Geliebten Hamlets, Ophelias, hinter einem Vorhang versteckt hat, um der Szene zu lauschen, und Hamlet, der Verdacht schöpft und wähnt, in dem Versteck kauere der verhasste Usurpator Claudius, der vermeintliche Vatermörder, kurzerhand mit dem Säbel dreinfährt und den armen Polonius tötet, bangen wir nicht um sein Leben, denn wir wissen, dass sich in dem Versteck nicht Polonius, sondern der Schauspieler der gleichnamigen Rolle aufhält, und wir bangen auch nicht um das Leben des Schauspielers, denn wir wissen, das Ganze ist nur ein Spiel und nicht die Realität, in der ein Säbelhieb einen Menschen töten kann.

Wir bemerken, dass uns als menschlichen Lebewesen zumindest folgende Kategorien oder Typen von Erfahrungsweisen mitgegeben sind: Wahrnehmen oder Beobachten, Phantasieren oder Vorstellen sowie Bewerten. Letzteres können wir in Bezug auf unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen in zweierlei Hinsicht: In der ersten Hinsicht erhalten wir durch die Bewertung unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen die Wahrheitswerte wahr oder falsch. In der zweiten Hinsicht erhalten wir durch die Bewertung unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen die Gefühlswerte gut oder schlecht oder etwas, was wir anderem vorziehen, beziehungsweise etwas, was wir anderem gegenüber verwerfen.

Wir konstatieren, dass uns die Kunst als Reich der Fiktion einen Erfahrungsmodus eröffnet, in dem wir unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen uneingeschränkt zur Geltung bringen und ausschöpfen und auch in modifizierter Weise unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen emotional bewerten können, dagegen die Bewertung unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen anhand der Kriterien des Wahren und Falschen einklammern oder aufheben oder in der Schwebe lassen.

Nur auf den realen Grund der Furcht wie der unfreundlichen Gegenwart eines wilden Tiers oder einer finsteren Gestalt auf nächtlicher Straße, deren Wahrnehmung wir korrekt mit dem Wahrheitswert wahr bewertet haben, reagieren wir mit der entsprechenden abstoßenden oder verwerfenden Gefühlsantwort, das heißt, wir fürchten uns und neigen dazu, uns aus dem Staub zu machen und zu fliehen. Wenn wir einen Film mit wilden Tieren sehen oder einen Krimi lesen, sind unsere emotionalen Reaktionen gleichsam auf eine zweite Stufe, die Stufe der Reflexion, gestimmt, verdünnt oder sublimiert, wenn sie auch nicht gänzlich verschwinden; dies zeigt sich, wenn wir auf eine Elegie, die unseren Lebens- oder Liebesschmerz ausdrückt, mit Tränen reagieren. Sollen wir sagen, das seien falsche Tränen, weil ihr Gegenstand, die fiktive Figur der abwesenden oder verstorbenen Geliebten des Gedichts, deren Abwesenheit oder Tod die elegische Klage des Gedichts beredten Ausdruck verleiht, irreal, scheinhaft und fiktiv ist? Wie im Falle des Claudius reagieren wir heftig, weil uns das Gedicht mit unserer eigenen Lage konfrontiert.

Wenn wir von den wirklichen Umarmungen der wirklichen Geliebten in glücklicher Stimmung nach Hause kommen und finden die Elegie Hölderlins aufgeschlagen auf dem Tisch und wir können ihrem Sog nicht widerstehen – nun, so fallen diesmal keine Tränen, und doch werden wir das ferne Echo der von der Klage aufgerührten Gefühlswerte vernehmen.

Wir weisen nur am Rande darauf hin, dass die für die Kunst relevanten Erfahrungstypen sowohl bei der Rezeption als auch bei der Produktion greifen: Hölderlins wirkliche Geliebte und ihr Tod boten den realen Anlass oder waren der echte emotionale Grund, die Elegie zu verfassen. Doch die Diotima des Gedichts ist nicht die reale Gestalt, diese ist vielmehr in die Irrealität des Dichterischen aufgehoben und weist die imaginären Züge von Wesen auf, welche uns die Atmosphäre des Traumes entrückt. Wir sind nicht so plump, nach dem Wirklichkeitsgehalt solcher Dichtung zu fragen und ihre Aussagen ohne Scheu und Scham mit der Lupe des Biographen oder Detektivs oder Tiefenpsychologen zu beäugen. Wir sind nicht so verblendet oder besessen, nach dem Wahrheitsgehalt der Kunst zu fragen und ihre Aussagen und Darstellungen in das Labor des empirischen Forschers zu zerrren oder sie im Salon des spekulativen Dialektikers antichambrieren zu lassen.

Müssen wir in der Tat um den wirklichen Verlust der Geliebten bangen, folgen aus unserer korrekt als wahr bewerteten Wahrnehmung und ihrer korrekt als schlecht bewerteten emotionalen Resonanz gewisse Handlungen, wie der Versuch, das Vermeidliche durch mehr oder weniger verzweifelte oder gelingende Taten zu vermeiden oder sich mit Ablenkungen oder Tröstungen in das Unvermeidliche zu schicken.

So können wir vielleicht sagen, dass die Kunst nicht nur die Utopie der Wahrnehmung darstellt, sondern auch das Traumland der Gefühle, die uns mehr oder weniger ergreifen, uns ein feines oder derbes, dunkles oder helles Spiel der Selbsterfahrung eröffnen, ohne uns noch zu lebensentscheidenden oder bedeutsamen oder ganz banalen Taten zu verpflichten oder anzuleiten.

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