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Lacrimae rerum

21.11.2025

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Sagen, wir, der eigentliche Gedanke entspreche der Fleisch- oder Fischeinlage mit einem gewissen Nährwert, das bedeutungsvoll klingende, aber inhaltsleere Gerede darum herum dem mit Gelatine gebundenen Gallert, wie man sie bei Aspikgerichten findet; berechnen oder taxieren wir jeweils das Verhältnis von geistiger Substanz und rhetorischem Blendwerk. – Bei etlichen Meinungsbekundungen sind wir, denn wir kennen die Verkünder, nicht überrascht, unter einer schillernden Hülle wabernder verbaler Schwellkörper nach mühsam-unappetitlicher Suche auf einen kümmerlichen Brocken und Bodensatz zu stoßen, der so nahrhaft ist, wie das Triviale tiefsinnig. – Das gilt allen anderen voran für Pastoren, Politiker, Journalisten und Zeitgeistdenker.

Der einst besonnene Löwe (Th. M.) ließ sich von der geifernden und blindwütigen Hyäne (A. H.) solchermaßen reizen, daß er den zwielichtigen Äther über der Wüste mit seinem erschreckend-monotonen Gebrüll erfüllte.

Die instinktive Scheu des Halbgebildeten vor dem linguistischen Kleinod namens Genitiv führt zu grammatischen Ungetümen wie „des Ereignis“, „des Nachlaß“ oder auch „des Geheimnis“, ja selbst „des Geheimnis’“ und entblödet sich nicht „den Opfern zu gedenken“.

Wo dem Bedeutungsschwindler der Atem schwillt, schwillt dem nüchternen Sprachkritiker der Kamm.

Der November 1918, spätestens der November 1938 trägt den Epocheneintrag „Ende der alteuropäischen Kultur“.

Er versprach ihr, sie auf Rosen zu betten, doch sie stachen Dornen.

Vom sogenannten kommunikativen Austausch in sogenannten sozialen Medien abgegriffene geistige Physiognomien.

Die da geheimnistuerisch Türen zu öffnen vorgeben, die vom Beben der Geschichte längst aus den Angeln gehoben sind.

Kein Morphem ohne Phonem, kein Sinn ohne Laut, keine Seele ohne Leib.

Den Klassikern nachtrottende Poeme, Gespenster, die vergebens zu lächeln versuchen.

Lacrimae rerum – Wimpern der Wehmut, an denen sie glänzen.

Nur gewässertes Holz kann man biegen; wie die von Tränen befeuchteten Zweige des elegischen Gedichts.

„Die Sprache spricht.“ – „Die Sprache lügt nicht.“

Die Lüge verrät sich im Mißbrauch der Sprache.

Das pseudoedle Geschwätz von „der moralischen Bestimmung der Menschheit“, „der Völkerversöhnung“, „der sozialen Gerechtigkeit“ und „der endlichen sozialen Befriedung durch Gleichheit“ kann uns hinter dem Ofen der Indifferenz, auch wenn seine Gluten längst erloschen sind, nicht hervorlocken.

Die Art des Sterbens wirft nicht immer dasselbe Licht auf das vergangene Leben und seine Werke – der Selbstmord des „Größten Feldherrn aller Zeiten“ und jener eines Georg Trakl.

Pseudologen, die uns aufgrund eines moralisch verbrämten Epochenschwindels dekretieren, was und wie wir heute zu denken und zu empfinden, zu malen und zu dichten haben – nach Kandinsky abstrakt, nach Schönberg atonal, nach Rimbaud enigmatisch.

Es wandelt nicht grundlegend unser Fühlen, Sinnen und Trachten, ob wir glauben, die Sonne drehe sich um die Erde oder die Erde um die Sonne.

Die angeschlagene Saite des Verses bringt Obertöne zum Erklingen, die wir bewußten Sinnes nicht mehr vernehmen; doch etwas in uns schwingt ihnen nach.

Im Gerichtsverfahren mit der Sonne kann die Erde nur den Mond als schwachen, beschwichtigenden Zeugen ihrer Unschuld vorladen.

Ohne Sonne keine Wahrheit, ohne Mond keine Dichtung.

Am Abendhimmel, der noch im Untergang der Sonne blutet, blitzt manchmal die Sichel des Monds, als habe sie die Wunde geschlagen.

Die Treppe der Sprache führt tief hinab zum Ufer des Stroms, und um uns ist nur noch Rauschen.

Der Hüter des Seins liegt in der Dämmerung auf der Ottomane, als würde er auf dem grauen Meer der Ungewißheit treiben, und murmelt vor sich hin: „Nur noch ein Gott kann uns retten!“

Wort der Lichtung, Lichtung des Worts, Feuersäule, Brot und Wein, feste Burg, Stab und Stütze – und nun: Welle, die unterm Kiel eines ruderlosen Bootes emporseufzt.

„Was ist das Wesen der Welt, der Zeit, der Zahl, der Geschichte, des Menschen?“ – „Was ist das Wesen der Bedeutung?“ – Sinnlose Fragen, an deren Beantwortung man seine Lebenszeit verschleudert, sind wie das Jucken eines Mückenstichs, an dem man immer wieder zwanghaft kratzt.

Sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt. (Vergil, Äneis, 1, 462)
„There are tears at the heart of things.“ (Seamus Heaney)

Ob wir nun den Ausdruck lacrimae rerum als Hinweis auf das Bejammerns- und Beklagenswerte menschlicher Schicksale und insbesondere jener verstehen, die in kriegerische Konflikte verstrickt sind wie auf dem Wandbild im Juno-Tempel, das dahingegangene Heroen des trojanischen Schlachtfelds wie Agamemnon und Menelaos, Priamos und Achilleus zeigt, deren Anblick Äneas zu Tränen rührt, den Genetiv demnach als subjektiven deuten, oder objektiv, wie es der irische Dichter Seamus Heaney tut, gleichsam Gaia selbst uns als trauernde Witwe vor Augen führen, diese Zweideutigkeit in der Ausdeutung des Genitivattributs gehört zum poetologischen Reichtum der Dichtersprache Vergils.

Sprachlicher Kretinismus, eine Folge des das Zentralorgan zersetzenden Zeitgeistvirus, faselt ungrammatisch von den „Geflüchteten“ (von Verben wie flüchten, gehen, stehen oder regnen lassen sich ähnlich wie von reflexiven Verben wie sich flüchten, sich waschen, sich schämen keine sinnvollen Passivformen bilden; sie haben sich geschämt, sie wurden beschämt, aber sahen nicht aus der Wäsche wie Geschämte, höchstens wie Unverschämte) oder den „Forschenden“ und „Studierenden“ (das Partizip Präsenz drückt die Aktualität der genannten Tätigkeit aus), als gehörten diejenigen, die das Labor oder das Seminar nicht aufsuchen, weil sie den Termin verbummelt haben, nicht zur Gruppe der angestellten Forscher und immatrikulierten Studenten.

Die kleinen Götter der Italiker, der Etrusker, Sabiner, Osker, die noch keine Römer unter dem kulturellen Druck der Griechen waren, die Verehrung von Manen und Penaten, die religiöse Aura um die alltäglichen Dinge und Tätigkeiten, Pflug und Türschloß, Furchen des Ackers ziehen und die Türe auf- und zuschließen, läßt uns gleichsam in eine mysteriöse Zwischenwelt blicken, die uns von Dichtern wie Hölderlin und Rilke, aber auch Mörike und Hofmannsthal erschlossen werden kann.

Der allegorische Blick. Sehen, wie in der träumerisch-selbstvergessen Einherschreitenden Aglaia oder Euphrosyne erscheint. Die Dichtung kann ihn evozieren, doch nur bei jenen, die, ohne es hellen Sinnes zu bemerken, gleichsam schon eingeweiht sind.

Im zähen Fluß des Geredes offenen Augen dösen. Die harte Fügung oder die zweideutige Formel des Gedichts (lacrimae rerum), an dem der Fluß wie an einem Katarakt stockt und der Hörer in ein helleres, gleichsam aufgischtendes Fühlen gerückt oder entrückt wird.

Die Aufteilung der Welt in Lebendes und Totes, Himmel, Erde, Unterwelt, Gewesenes, Anwesendes und Kommendes, Heiliges und Profanes, Götter und Menschen, ist sie eine unwillkürliche Widerspiegelung des Ungesagten, der Struktur der indoeuropäischen Grammatik oder wie Heidegger meint, die Schickung der Moira im Ereignis? – Man könnte freilich auch die Sprache selbst als dieses schicksalhafte Ereignis auffassen.

Phänomenologie der Dämmerung. Zwischen Tag und Traum wandelt sich das Antlitz der Dinge; es wird wohl fahler, doch ausdrucksvoller. Die Stimme ist gedämpft, das Auge befeuchtet schon ein dunkleres Wasser, die Schritte tönen leiser, vager, verlangsamen sich, scheinen sich zu besinnen, als spürten sie, wie sie einen somnambul durchmessenen Kreis beschrieben haben. Ein Wind kommt auf, der kaum noch Duftpollen des verlöschenden Sommers mit sich trägt, dafür aber silberne Flocken aus den Tälern ausgerauschter Wasser. Und wir reden, als sprächen wir mit unserem Schatten, und wir schweigen, wenn er sich mit dem dämmernden Laub, dem Schatten der Stille, vermischt.

Gewiß, in der Abendstunde, im Dämmerlicht ahnen wir eher, was Heidegger unter Seinsverlassenheit verstanden haben mag. Doch ist in dieser Leere auch eine andere Fülle, der nicht die Leere eines Verlangens korrespondiert, sondern die voll ist wie die obere Schale eines Brunnens, die überfließt, um sich in die untere Schale zu ergießen, voll wie die Wabe des Tags, deren goldener Honig schon in die Ritzen und Furchen des Traumes herabrinnt.

 

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