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Wollen – Denken – Sprechen

02.04.2015

„Au!“, rufst du aus, wenn ich dir versehentlich auf den Fuß getreten bin. Ich verstehe die Bedeutung deiner Verlautbarung ohne weiteres, ohne dass ich Schlüsse zu ziehen genötigt wäre auf das, was du dir beim Sprechen vielleicht gedacht hast. Schließlich genügt es, wenn du den Schmerz im rechten Fuß verspürt hast. Hier wäre die Empfindung der ganze Inhalt des Denkens, den ich gern vorauszusetzen bereit bin. Der Gedankeninhalt oder die Empfindung geschah dir gleichsam reflexhaft und unwillkürlich. Auch dein Ausruf geschah mehr oder weniger spontan, denn du hattest nicht die Absicht „Au!“ zu rufen, es sei denn, ich habe dir auf den Fuß getreten.

Hätte ich dir nicht auf den Fuß getreten, hättest du nicht „Au!“ gerufen. Meine Handlung ist demnach die Ursache deiner Schmerzempfindung und deiner sprachlichen Reaktion. Dennoch unterscheiden wir zwischen Reflexhandlungen verschiedener Stufe. Ein Hund sondert unwillkürlich Speichel ab, wenn er die Nahrung wittert oder wenn er die Klingel hört, die die Nähe der Nahrung signalisiert. Du winselst nicht, wenn ich dir auf den Fuß getreten bin. Du hast „Au!“ zu rufen gelernt.

Wenn du „Au!“ rufst ohne ersichtlichen Grund, denn wir gehen geruhsam spazieren und weder bin ich dir auf den Fuß getreten noch hat sich eine Fliege in dein Auge verirrt, werden wir annehmen, dass dir ein peinlicher Gedanke oder eine unangenehme Erinnerung durch den Kopf geschossen ist, die dich zu dieser Verlautbarung veranlasst hat. Hier wird der sprachliche Ausdruck zwar auch wie in einer sozial bedingten reflexähnlichen Reaktion verwendet, allerdings ohne dass ein physischer Schmerz seine Verlautbarung hervorgerufen hätte. Wir schließen daraus, dass auch psychische Schmerzen spontane Gedankeninhalte und sprachliche Äußerungen hervorrufen können.

Wenn ich dir auf den Fuß getreten bin, könntest du, denn du bist sehr scheu und wir kennen uns noch nicht lange, die Schmerzäußerung auch unterdrücken oder in ein kaum hörbares Seufzen abmildern, um mich nicht in Verlegenheit zu bringen. Denn du willst vermeiden, dass ich in die Verlegenheit gerate, mich bei dir entschuldigen zu müssen. Sicher hättest du „Au!“ ausrufen können und du warst kurz davor, es zu tun, aber du wolltest es nicht.

Anders in extremen Fällen des eingeschränkten oder aufgehobenen Wollens. Manch einer hat sich in berauschtem Zustand verplappert und ein Geheimnis preisgegeben, das zu seinen oder seiner Nächsten Nutzen besser unausgesprochen geblieben wäre. Wer unter der Folter preisgibt, was unter normalen Umständen zu verraten ihm unverzeihlich dünkte, den möchten wir von scharfer Verurteilung eher freistellen, weil sein Handeln widerwillig und nicht vorsätzlich geschah.

Wir sehen die Einheit von Wollen, Denken und Sprechen in psychopathologischen Fällen wie den Schizophasien weitgehend aufgehoben. Wilhelm Waiblinger berichtet von seinen Besuchen bei dem Dichter Friedrich Hölderlin im Tübinger Turm von zwei sprachlichen Befunden: Einmal habe der Kranke zwar auf eine Frage den Ansatz einer vernünftig scheinenden Antwort gegeben, sein Sprechen habe dann aber den Faden verloren und sei in einen Schwall innerlich nicht zusammenhängender und zusammenstimmender Äußerungen geraten. Zum anderen habe Hölderlin einen allgemein philosophischen Gedanken wie den, die Menschen seien wohl glücklich zu nennen (das heißt, von Natur aus glücklich, nicht den Umständen nach mal mehr oder weniger), geäußert, um denselben Gedanken gleich darauf in verneinter Form zu äußern, nämlich, die Menschen seien wohl unglücklich zu nennen. Das Abreißen des Sprech- und Gedankenfadens und die Negation der Position scheinen unwillkürlich wie unter innerem psychotischen Drang erfolgt zu sein.

Wir bemerken, dass die Psychose sich nicht nur in Denkstörungen zeigt, sondern auch in den Störungen und Aufhebungen der Sprechakte und ihrer illokutionären Rollen: Eine Frage mag verstanden werden, aber die angemessene sprachliche Reaktion, die Antwort, geht in einem Strudel unsinniger Verlautbarungen unter. Der Kranke äußert eine Behauptung, kann sich aber nicht konsistent zu ihr verhalten, sondern hebt sie im gleichen Atemzug wieder auf.

Wir wissen, was geschehen kann, wenn wir auf dem netzförmig verzweigten Hintergrund unseres Wissens, unserer Überzeugungen und Erinnerungen gleichzeitig eine Behauptung und ihre Verneinung zulassen: Von der Stelle dieses Widerspruchs aus kann sich ein Riss bilden und das ganze Netz durchziehen oder zerreißen.

Es ist evident, dass aufgrund eines solchen sprachlichen Verhaltens, das den Gesprächsfaden abschneidet oder Paradoxien zulässt und befördert, die Kommunikation verzerrt oder unmöglich gemacht wird. Wir schließen von der Verzerrung der sprachlichen Kommunikation auf die Einschränkung des Wollens: Denn wir unterstellen als allgemeine Voraussetzung, dass niemand freiwillig, wider besseres Wissens und besseres Können aus der menschlichen Sprachgemeinschaft ausschert. Gewiss ist das Leben in der sozialen Gemeinschaft naturgemäß mit dem Ertragen und Erleiden von Konflikten, Missverständnissen und mehr oder weniger schweren Kränkungen verbunden. Indes, aus ihr aus dem Grund, diese zu vermeiden oder ihnen ein für allemal zu entfliehen, ausscheiden zu wollen, heißt, noch schwerere Traumatisierungen oder gar den sozialen Tod in Kauf zu nehmen. Das zu wollen möchten wir keinem unterstellen. Sollte der Wille eines Menschen indes in einer solchen Weise erkrankt sein, dass er die Flucht in den sozialen Tod dem schwierigen und verletzlichen, aber auf weite Strecken auch geborgenen Leben in der Sprachgemeinschaft vorzieht, würden wir sein Wollen und Tun als Krankheitssymptom ansehen.

Wir bemerken, dass wir im Allgemeinen die synthetische Einheit von Wollen, Denken und Sprechen als gegeben und funktionsfähig voraussetzen, und dies selbst in Extrem- und Zweifelsfällen medizinischer und kriminologischer Natur, wo wir nur ein positives Testverfahren anstreben, um die Funktionsfähigkeit zu bestätigen. So testet der Notarzt den Willen des schwerkranken, auf den Tod darniederliegenden Patienten, indem er seine Willensbekundung, nicht ins Krankenhaus transportiert werden zu wollen (was den Willen impliziert, zu Hause zu sterben), auf ihre Authentizität überprüft: Er stellt die üblichen die persönliche Identität ausweisenden Fragen nach Name, Geburtsdatum und Geburtsort. Aber er geht nicht davon aus, dass der Patient unter dem Zwang stand, nicht seinen wahren Willen zu bekunden. So überprüft der Richter im Zweifelsfalle den Zeugen auf seine Glaubwürdigkeit, indem er andere Zeugen befragt, ob die von ihm angeführten Angaben über den Aufenthaltsort stimmen oder ob er mit dem Angeklagten in vertraulichen Beziehungen stand. Wir würden annehmen, dass der Zeuge gelogen hat, wenn er einer unwahren Aussage überführt wird, und nicht, dass er nicht anders konnte, als nicht die Wahrheit zu sagen.

Hölderlin konnte nicht anders, als den Faden des Gesprächs in einem Wortschwall abreißen zu lassen und die geäußerte Behauptung durch ihre Negation aufzuheben. Nur wenn er anders hätte handeln können, wäre die von Pierre Bertaux stark gemachte Vermutung sinnvoll, Hölderlin habe seine Psychose simuliert und sein absonderliches Sprachgebaren vorgetäuscht. Man kann aber nur simulieren, was zu simulieren man sich auch enthalten kann. Außerdem: Der Simulant muss, was er nachahmt, an geeigneten Vorbildern abgeschaut und abgelauscht haben. Das ist von Hölderlin nicht überliefert. Und auch wenn er hier und dort einen Psychotiker im akuten Schub hätte radebrechen hören, die komplexen Formen der schizophrenen Rhetorik lassen sich nicht so nebenbei und auf die Schnelle abmerken.

 

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