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Das diffuse Subjekt

31.01.2020

Bemerkungen zur Semantik intensionaler Kontexte

p: Wir sind uns vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet.

q: Ich erinnere mich daran, daß ich dir vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet bin.

r: A und B sind sich vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet.

Wir betrachten diese Sätze auf ihren semantischen und logischen Gehalt hin.

Der Satz p könnte sprachpragmatisch meine Antwort auf deine Frage sein, wann wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Um p zu begründen, kann ich den Satz q äußern und sagen: „Ich erinnere mich daran, daß ich dir vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet bin.“

Aber es ist offensichtlich, daß der Satz r nicht logisch aus dem Satz q folgt; das heißt, ich könnte wohl glauben, mich daran zu erinnern, daß ich dir vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet bin, in Wahrheit geschah dies aber schon vor neun Jahren.

Die Korrektheit meiner in q ausgedrückten Erinnerung setzt die Wahrheit des Satzes r voraus, falls wir für A und B die richtigen Namen einsetzen. Ist r wahr, nämlich, daß wir uns vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet sind, hätte meine Erinnerung den Grad von Gewißheit, der mich dazu berechtigte zu sagen: „Ich weiß, daß ich dir vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet bin.“

Der semantische Unterschied der Sätze q und r läßt sich bekanntermaßen griffig so fassen, daß wir sagen: Sätze wie q stehen semantisch betrachtet in einem intensionalen Kontext, Sätze wie r in einem extensionalen Kontext.

Der Satz r handelt von einem Ereignis der Vergangenheit. Wie begründen wir indes die Wahrheit von Behauptungen über vergangene Ereignisse? Nun, wir pflegen Zeugen und Zeugnisse für das betreffende Ereignis aufzurufen und anzuführen.

Ich könnte sagen: „Als wir uns damals im Café trafen, saß Frau N. N. am Nebentisch, die uns beide kennt. Sie könnte die Wahrheit der Aussage bezeugen, daß wir uns damals getroffen haben.“ – Indes, Frau N. N. könnte bestenfalls bezeugen, daß wir uns damals getroffen haben, aber sie wäre nicht in der Lage, dafür einzustehen, daß wir uns damals zum ersten Mal getroffen haben.

Du könntest sagen: „Warte, ich pflege wichtige Termine und Ereignisse in meinem Tagebuch einzutragen. Schauen wir nach!“ – Gut, vielleicht finden wir in der Tat in deinem Tagebuch von vor acht Jahren den Eintrag „Treffen mit A“. Doch wir können die Möglichkeit nicht ausschließen, daß dieser A ein Mensch gleichen Namens mit mir, aber nicht ich war.

Nehmen wir an, du seist vor genau acht Jahren in diese Stadt gezogen, sodaß ich, der ich immer ortsfest geblieben bin, dich nicht vor neun Jahren hätte treffen können; gut, aber dann ergibt sich immer noch die Möglichkeit, daß wir uns zum ersten Mal vielleicht nicht vor acht, sondern vor sieben Jahren begegnet sind.

Solche und ähnliche Einwände lassen sich beliebig finden und vermehren, wenn es darum geht, den epistemischen Status von Aussagen über vergangene Ereignisse in Frage zu stellen. Wir machen hier nur darauf aufmerksam, daß die Annahme, Aussagen über vergangene Ereignisse stünden in einem eindeutigen extensionalen Kontext, zumindest eingeschränkt werden muß; diese Einschränkung machen wir durch Angabe der Wahrscheinlichkeit kenntlich, die wir der Annahme des Bestehens des betreffenden Ereignisses zuweisen: eine Zahl zwischen 0 und 1 (doch 1 werden wir nicht vergeben, denn zweifelsfreie Gewißheit erreichen wir auf diesem Feld nicht).

Daraus ergibt sich: Wir können den Satz q oder meine Erinnerung an unsere erste Begegnung durch den Satz r nicht als wahr und gewiß begründen, sondern nur als mehr oder weniger wahrscheinlich, plausibel, akzeptabel ausweisen.

Betrachten wir den semantischen Gehalt von q: Ich erinnere mich daran, daß ich dir vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet bin. – Der Hauptsatz enthält das Subjekt „ich“ und ein zugehöriges Prädikat jener Art von Prädikaten, die einen spezifischen Modus des subjektiven Erlebens ausdrücken. Der Inhalt des dem Subjekt zugeschriebenen Erlebens wird durch den abhängigen Nebensatz ausgedrückt. Wir können diese propositionale Satzstruktur in der Formel wiedergeben:

SP (SF)

F steht für eine beliebige Aussage, die von der Befindlichkeit oder den Erlebnissen von S in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft handelt, hier: Ich bin dir vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet. Der semantische Witz liegt natürlich in der Identität von S in beiden Teilausdrücken.

Die Semantik des Satzes macht demnach augenscheinlich, daß für seinen Sinn folgendes vorausgesetzt wird: Ich als derjenige, der sich jetzt erinnert, bin mit demjenigen identisch, an den ich mich erinnere und der ich vor acht Jahren war (als ich dir zum ersten Mal begegnet bin). – Und dies gilt offensichtlich auch für das Objekt des Erinnerns.

Das scheint auf der konkreten Ebene zeitlicher Ereignisse alles andere als evident: Wissen wir doch, daß wir uns physisch-chemisch auf zellularem Niveau ständig wandeln und erneuern, aber auch unsere psychische Seinsweise durch neue Erfahrungen modifizieren; jedenfalls kann auf beiden Niveaus von keiner Identität im strengen Sinn die Rede sein.

Die konkrete raumzeitlich situierte Natur von Subjekten wie du und ich wird hier semantisch gleichsam neutralisiert, destilliert oder purifiziert, was manche Philosophen zu der schmeichelhaften Idee verleitete, in intensionalen Kontexten wie SP (SF) werde eine nichtphysische Entität als Identität behauptet und diese sei die Reflexion des reinen Cogito. Doch ahnen wir, daß sich eine solche platonische Intuition leicht von begrifflichen Chimären blenden und irreführen läßt.

Ähnlich wie Sätze über Ereignisse der Vergangenheit können wir den reflexiven Bezug intensionaler Kontexte relativieren, indem wir statt einer starren Identität den Grad von Ähnlichkeit zwischen dem Subjekt des Hauptsatzes und dem Subjekt oder reflexiven Ausdruck des Nebensatzes in einer Skala zwischen 0 und 1 angeben, wobei 0 den Satz sinnlos macht, während wir 1 nicht zuschreiben, es sei denn, wir gehen zu einem extensionalen Kontext über und sagen: Ich weiß, daß ich dir vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet bin. Doch in diesem Fall müssen wir die Aussage r: A und B sind sich vor acht Jahren zum ersten Mal begegnet als wahr unterstellen; wir haben aber gesehen, daß wir Aussagen über vergangene Ereignisse nicht gegen alle Einwände abdichten können.

Wir können demnach statt SP (FP) getrost schreiben: S1P (S2F), wenn wir den Grad der Ähnlichkeit zwischen S1 und S2 angeben. Die Identität von S1 und S2 ist dann der Grenzwert der Ähnlichkeitsrelation.

Wenn ich dir vor acht Jahren begegnet bin, so hat sich mein Dasein wie immer auch geringfügig insofern verändert, daß ich vor neun Jahren noch jener war, dem die Erfahrung dir begegnet zu sein, abging. Doch blieb ich bis heute wie geringfügig auch immer jenem ähnlich, der dir damals begegnet ist.

Es ist wie beim Vergleich von Fotos derselben Person aus der Jugend, dem reifen Alter und dem hohen Alter: Wir verfügen nicht über ein außerzeitliches Idealbild der Person, an dem wir die mehr oder weniger gravierenden Veränderungen der Gesichtszüge messen und vermessen könnten. Wir haben nur gleichsam Variationen eines Themas, das in ihnen allen enthalten ist, aber nie in Reinform oder als abgehobene Gestalt daraus emportaucht.

Wie ein musikalisches Thema in der Reihe der Variationen enthalten sein kann, so ist das semantische Subjekt in intensionalen Kontexten impliziert.

Wenn ich mich darauf versteifen würde, dir in einer Zeit begegnet zu sein, als du nachweislich im Ausland geweilt hast, setzen wir die Ähnlichkeit zwischen S1 und S2 gleich 0 und verwerfen die Aussage als sinnlos. Wir sind sogar geneigt, am gesunden Menschenverstand des Sprechers zu zweifeln. Ist dagegen die Ähnlichkeit hinreichend groß, wenn ich beispielsweise auf Fotos zeige und sage: „Das bin ich mit acht Jahren, das mit fünfzig“, halten wir die Äußerung für hinreichend plausibel. Unsere logisch-semantische Intuition wird demnach angesichts intensionaler Kontexte nicht von idealen Grenzfällen getragen, sondern von möglichst klaren und einleuchtenden exemplarischen Einzelfällen sprachlicher Mitteilung.

 

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