Das Harte und das Weiche
Die Hände der Bauern und Arbeiter, wie du sie kanntest auf den Äckern und den Weinbergen und den Ziegeleien der Heimat, waren rauh, schwielig und rissig. An den Stellen, an denen du feinfühlig geblieben bist, haben sie das Gefühl für Wärme und Kälte, Härte und Weichheit, aber vor allem auch das Schmerzempfinden, zugunsten des kräftigen Schlags, des harten Zugriffs und bedenkenlosen Stoßes vermindert und entwirklicht.
Die klassische Skulptur der Griechen kennt den Ausgleich des Harten und Weichen: Die marmorne Härte bezeugt im Gegensinn zur Weichheit, Verletzlichkeit und der unabwendbaren Erschlaffung und Fäulnis des menschlichen Fleisches die Ruhe und den siegesgewissen Anspruch der Götter auf Dauer. Der luftige, durchsichtige Schleier und die graziös-wollüstige Fältelung des Gewands bezeugen die Intensität und das heitere Glück eines Daseins, das an den Klippen des Schicksals nicht zu zerschellen droht.
Die Schale des Vogeleis scheint das Resultat der Verkalkung und Verhärtung des Dotters zu sein. Immer steht sie ja im Dienst des werdenden Lebens, von dem sie den funktionalen Sinn erhält: hart und undurchlässig genug zu sein, um dem Embryo den gebührenden Schutz vor unzuträglichen Widerfahrnissen und Außenreizen zu gewähren und vom Gewicht der brütenden Henne nicht erdrückt zu werden; zugleich weich, osmotisch, verformbar genug zu sein, um die Wärme der gluckenden Henne einzulassen, das Küken mit eindringendem Sauerstoff zu versorgen und von ihm aufgepickt werden zu können.
Gleiches für das Gleiche und Ähnliches durch Ähnliches. Also Leben für das Leben. Bewusstsein für das Bewusstsein. Nur das Lebendige kann das Leben verstehen, nur Bewusstsein das bewusste Gegenüber erfassen.
Weich und hart sind natürlich Indizes auf der lebendigen Skala des empfindenden und empfindsamen Bewusstseins. Wir wissen genauso wenig, was es heißen sollte, ein Fels sei an sich hart oder sei an sich weder hart noch weich, wie was es heißen sollte, die Farbe des südlichen Azurs sei an sich nicht Blau. Wir wissen indes genau, was es heißt, wenn wir von einem erfahren, er sei farbenblind, oder dass die Innereien des lebendigen Organismus wie Hirn, Herz und Leber weich sind.
Es scheint nicht ohne Grund, dass die ergreifenden, unwiderstehlichen Gefühlsregungen als eine Art Weichwerden oder Verflüssigung aufgefasst und beschrieben werden können. Das weiche Element ist am menschlichen Leib in den Fällen sexueller Erregung von Lubrikationen, bei nostalgischer Rührung von Tränen begleitet.
Beim Manne erfassen wir beim sexuellen Erleben eine mehr oder weniger ausgeprägte harmonische Spannung, gleichursprünglich in den Gefühlsregungen wie in den korrespondierenden körperlichen Vorgängen. Die Versteifung des männlichen Glieds wird als schmerzliches Drängen empfunden, gleichsam gemildert durch die mehr oder weniger stark einsetzende Lubrikation des Präjakulats. Dagegen ist der Höhepunkt des männlichen Lustempfindens gewöhnlich mit der Ejakulation bei gleichzeitig einsetzender Erweichung des Penis verbunden.
Es scheint bezeichnend für die weibliche Gefühlswelt, dass das Empfinden schmerzlichen Drängens nicht mit dem unmittelbaren sexuellen Erleben, sondern dem mütterlichen Gefühl der Hingabe verknüpft ist, das sich beim Darreichen der Brust und dem Säugen einstellt.
Wir sagen von dem Mann, der vom Schicksal hart gebeutelt wurde, seine Seele habe gleichsam Schwielen angesetzt und sein Charakter sei verhärtet. Es kann manchmal als therapeutischer Durchbruch angesehen werden, ihn zur Lösung der inneren Verhärtung in einem hemmungslosen Tränenerguss angeregt zu haben.
Wir reden allerdings auch davon, einer sei weich geworden, wenn wir sehen, wie einem infolge emotionalen Drucks oder moralischer Erpressung der harte Kern des eigenen Willens wegschmilzt.
Wenn einer sich gegen das Pathos oder die emotionalen Anflüge eines anderen verhärtet hat, glauben wir annehmen zu können, dies habe seinen Grund in zuvor erlittenen Irritationen und Kränkungen.
Wir nehmen wahr, wie Menschen in der Stunde der Gefahr die verletzlichsten Teile des Leibes und Lebens verbergen oder wappnen, verhüllen oder panzern.
Wir erkennen einen Ursprung des Terrors in der Urnot des paranoiden Wahnkranken, der schon den scharfen Blick des Nachbarn verdächtigt, die weiche Schale seines Bewusstseins aufschlitzen zu können: als müsse sein Inneres auslaufen und er ohnmächtig werden. Manche scheinbar unvermittelten Bluttaten entspringen solcher Lebensqual.
Wir wissen aber noch um die Güte einer göttlichen Weisheit, die Gnade vor Recht ergehen lässt und den Sünder, so er nicht völliger Ich-Verhärtung anheimgefallen ist, in die verzeihenden Arme schließt.
Am Mund mit seinen Zähnen, dem organisch Härtesten, und der Zunge, dem animalisch Weichsten, haben wir ein Urbild des Lebens: Sie bilden den Weltbezug ab, indem die Zähne die notwendige Nahrung reißen und beißen, zerkleinern und verfeinern, während sie die Zunge mit dem schon zersetzenden Speichel endgültiger Assimilierung zuführt.
Zähne – Feinde der auf ihrem Eigensinn bestehenden Gestalt der Dinge. Zunge – Schlange der Leibeshöhle, Sirene grausamen Verdauens.
Ursprünglich assimiliert der Kuss der Zunge durch prüfendes, einschmeichelndes, einschleimendes Belecken. Die Härte der Zähne ist ohne Mitgefühl für die Dinge. Wie charmant und nervenwach aber das Spiel der Zunge!
Wie seltsam, wie wunderbar, dass sich das Spiel von Zahn und Zunge emporschwang zur verklärenden, bejahenden Entäußerung des Lieds und der Hymne! Zur Ansprache der Dinge, die es nicht verzehrt, sondern begrüßt, versteht, benennt!
Der Kuss – das dunkle, schweigsame Gespräch der Zungen. Die eine will die andere nicht verschlingen, sondern die eine sich im Widerspruch der anderen erfühlen und genießen.
Von der weichsten Hülle aber sind die Dinge ins Licht entborgen: Betrachtung liebkost sie mit den Blicken. Die Zähne zerstören die Gestalt der Dinge, um des Lebens willen; die Augen bestätigen und bewahren sie, um der Liebe willen.
Die Augen kannst du schließen oder abwenden, um den hässlichen Blicken der Dinge und den feindlich gesinnten der Nachbarn auszuweichen, die Ohren nicht – darum vollzieht sich die erotischste Hingabe im weit in die Nacht geöffneten Hören der Musik, die über das Ohr zur Seele dringt und sie zu wecken gedenkt aus dem stumpfsinnigen Dösen der Ich-Verhärtung.
Die weicheste und seelenvollste Materie, die wir scheu, beklommen, schamvoll assimilieren – die Klänge des Introitus des Requiems von Mozart.
Das heilige Volk, das sich unter die härtesten, in Stein gekratzten Gesetze gestellt hat wie unter die zeichenhafte Gewalt der Blitze – es fand Erlösung im Kuss dessen, der mit dem weichen Mund der Vergebung küsst.
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