Skip to content

Der lyrische Augenblick

17.05.2015

Das Ich-Sagen tritt uns erstmals in Dokumenten lyrischer Aussage wie den Gedichten der Sappho oder des Archilochos deutlich oder sogar scharf artikuliert entgegen. Es bezeugt eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf die je eigene Selbstgegenwart, den je eigenen Augenblick. Wir können diese Wachheit des lyrischen Bewusstseins für seine unmittelbare Umgebung und seine eigenen Erlebnisse und mentalen Zustände auch in den historischen Linien und Weiterungen dichterischen Sagens auffinden, wie sie von Lesbos und Paros ausstrahlen und in den Werken eines Catull, eines Horaz, eines Ovid römisch-lateinisch widerklingen.

Wir behaupten die These, dass die eigentliche Lyrik nicht den fiktionalen Genera der Literatur wie den Formen des Erzählens zugehört, sondern einen epistemischen Sonderstatus poetischen Ausdrucks innehat, da sie in Formen einer Selbstvergegenwärtigung des menschlichen Bewusstseins, gleichsam in Notaten und Stenogrammen des Bewusstseins, wurzelt. Wie sich zeigt, vertritt das lyrische Ich dabei immer weniger nur das Ich des individuellen Autors und lässt mehr und mehr das allgemeine Ich, das Ich des menschlichen Bewusstseins überhaupt, durchschimmern.

Wir sehen in Goethe einen Höhepunkt dieser Art des lyrischen Ausdrucks, wenn er in Gedichten wie „Über allen Gipfeln“ das lyrische Ich-Sagen in die unmittelbare Ansprache des stellvertretenden Du übergehen lässt – stellvertretend für das Ich des Menschen überhaupt.

Das Ich-Sagen des lyrischen Augenblicks verkörpert eine ausgezeichnete Form des Zeitbewusstseins: „Ich bin jetzt da und alles, was mich erlebismäßig anspricht, geht in die Zeit meines Selbstbewusstseins unmittelbar ein, macht schicksalhaft mein Dasein aus.“ So ist der lyrische Augenblick allen nur möglichen erlebbaren Inhalten geöffnet, die Fülle der Welt geht ein in diese schmale Pforte des Augenblicks.

Wir sprechen hier nicht oder noch nicht von den Formen und Strukturen der Lyrik, wie sie sich historisch herausgebildet und poetologisch verfestigt haben, nicht oder noch nicht von Metrum oder Rhythmus, Strophe oder Reim, nicht oder noch nicht von der Vielfalt differenzierter und nuancierter Gedichtformen wie Wiegenlied, Morgenlied, Abendlied, Liebeslied, Hymnus, Ode, Elegie oder Sonett. Es bedürfte eines neuen Erklärungsansatzes, den von uns postulierten Ursprung lyrischen Sagens im unmittelbaren Zeitbewusstsein oder der Selbstvergewisserung des Ich im Augenblick mit all diesen vielfältigen Ausdrucksvarianten in einen genetischen Zusammenhang zu bringen.

Der Augenblick, in dem wir zu uns selbst erwachen, ist ein kritischer Moment, insofern wir uns mit dem Ganzen unseres Daseins, unseres gewesenen Lebens und unserem unverwirklichten Daseinshorizont, in Beziehung setzen und uns neu verorten und verankern müssen. Im Gedicht können wir wahrnehmen, wie dieser Augenblick verlangsamt und gleichsam angehalten wird: „Ich bin da, aber weiß nicht, wohin ich gehöre, wer zu mir gehört, ob ich bleiben kann und wie lange, ob ich dem, was ich fühle und sehe, diesem Laut oder Wort, diesem Gesicht, vertrauen kann oder ob es sich um trügerische Schimären handelt.“ Manchmal verankert sich das lyrische Ich in einem evozierten und beschworenen oder gleichsam demütig angesprochenen oder ängstlich angerufenen Gegenstand, einem Stein, einem Tier, einem ersehnten Menschen, manchmal sinkt es in die Leere des unerfüllten Augenblicks zurück, weil all dies wie im Dunst wieder verschwimmt und seine schwache, gebrochene Stimme versagt.

Wir bemerken, wie der kritische Moment überspielt oder die Krise der Selbstbegegnung unbewältigt und unerfahren bleiben kann: Die schmale Öffnung des Ich-Sagens wird zugeschüttet mit Plüsch und Plunder abgelebter Zeit und den abgestandene Klischees und Phrasen verkitschten Selbstgefühls. Das dem lyrischen Augenblick immer drohende Abgleiten in den Kitsch ist Ausdruck der Daseinsangst, vor der die Ohnmacht einer unzulänglichen Sprache versagt. Die Orientierung misslingt, weil sie sich an Namen und Objekte klammert, die nur scheinbar Sicherheit, Vertrauen und Gewissheit versprechen. So spricht voreilig oder kurzatmig von Liebe oder Treue oder Gewissheit, wer nicht durch die Prüfungen der Einsamkeit und Verlorenheit und Ungewissheit hindurchgegangen ist oder deren Wahrheit von sich wegstößt.

Im lyrischen Augenblick buchstabiert sich das Ich neu: Es sucht Selbstvergewisserung durch den Akt der Zeichensetzung. Es ist ein ähnlich primitiver Akt wie der anfängliche Anlauf des Primitiven, ein Zeichen in den Fels zu ritzen, ein Emblem oder Symbol in den Ton zu kratzen, den Abdruck seiner Hand auf die Höhlenwand zu klatschen. Allerdings ist das lyrische Ich nervöser, befangener, inniger: Es fühlt gleich die Objektivität und Fremdheit der gesetzten Zeichen und neigt dazu, sie wieder zu tilgen und durchzustreichen, weil sie sein Dasein und sein Gesicht nicht widerspiegeln, sondern verzerren oder einer ihm unzugänglichen Welt ausliefern.

Wir bemerken, dass die Wurzel des lyrischen Sagens Selbstbefragung im lyrischen Augenblick des Erwachens zu sich selbst ist. Jemand fragt da nach dem Grund seines Daseins, dem Zweck seines Lebens, dem Sinn seiner Lebensfrist. Ist niemand anderer da, an den er sich wenden, von dem er Antwort erhoffen könnte? Es ist niemand da. Es scheint niemand da zu sein. Der lyrische Augenblick ist ein unerfüllter Augenblick, und seine Erfüllung steht aus, sie ist nicht gesichert. Es ist, als würde der einsame Geher stillstehen und sich umwenden: Er sieht die Fußstapfen, die Spuren seines Daseinsganges, die ihn zu der Stelle geführt haben, an die er gelangt ist. Von wo er aufgebrochen ist, der Ort seiner Herkunft liegt in weiter Ferne, ist unsichtbar, dorthin kann er nicht blicken, die Spuren verlieren sich. Und dort, wo er jetzt steht und sagt „Ich“, ist noch keine Spur, denn sie taucht erst auf, wenn er den Ort der Gegenwart verlassen und sich erneut aufgemacht hat. Als wäre der Augenblick des lyrischen Ich-Sagens zeichenlos und eine immer noch unausgefüllte leere Stelle.

Ist niemand anderer da, an den das zu sich kommende, erwachende, sich seiner vergewissernde, sich befragende lyrische Ich sich wenden, von dem es Antwort erhoffen könnte? Es ist niemand da. Es scheint niemand da zu sein. Und dennoch wissen wir um die Anrufungen und den unstillbaren Drang der Anrufungen des lyrischen Ich aus der Not seiner Ungewissheit und der Angst seiner Leere nach dem Du und dem Nächsten, nach dem Du und dem Fernsten, ihm Licht und Umriss zu geben, ihm den Spiegel seines Dasein-Könnens in der Pupille des Anblicks zu gewähren. Der Anruf nennt den Namen, wie der Verliebte den Namen der Geliebten selbstversunken oder im Traum vor sich hinspricht. Er nennt den Namen, wie der Sterbende den Namen eines vor sich hinlallt, von dem er wie das bange Kind von einem Vater die Hand und das Geleit am Abgrund entlang erhofft. Wir finden die Namen wie Schilder oder Menhire oder Totempfähle an den Wegscheiden und Umbrüchen des Gedichts, es verstecken sich die Namen der Geliebten, Ersehnten, aber auch der Gefürchteten im Gestrüpp und Geflecht der Allusionen. Der lyrische Augenblick kann die schmale Pforte zur Unterwelt sein, an der die Schatten der Toten, der geliebten, der vermissten, der unheimlichen Toten wimmeln, begierig von dem Blut zu trinken, welches das lyrische Ich im Opfer seiner bang gemästeten, eitel sich plusternden Seelen-Tiere darbringt, auf dass die Schatten davon trinken und sie ihr Gedächtnis und ihre Stimmen zurückerhalten, mit denen sie das Gedicht heimsuchen oder inspirieren.

Wir bemerken aber auch, dass der lyrische Augenblick atmet und sich mit den Duftpollen imaginärer Zeiten erfüllt. Oft findet sich das Ich an einem imaginären Morgen oder Mittag oder Abend vor und noch öfter in einer sternklaren Nacht der Allverbundenheit oder einer sternlosen Todesnacht. Es kann mit einem leichten Drehen des Zeit-Kaleidoskops die Tageszeiten in die Jahreszeiten drehen, die Jahreszeiten in die Abfolge großer Epochen von Morgenland und Abendland, vom Aufgang und Untergang der Welt. Dieses Spiel von Chronos, Bios und Aion bezeugt die Wirklichkeit des lyrischen Augenblicks als Wirksamkeit des Kairos, der alle Zeiten wie Sternbilder um den lyrischen Augenblick sich drehen lässt.

Wir kennen auch die Versuche, das Ich im Rhythmus der Stufen der Lebenszeit zu verankern und zu orientieren: Das Ich-Sagen betritt schüchtern oder selbstbewusst die Schwelle eines Lebensalters, es schaut sich befremdet in die eigene Wiege, erblickt sich verzückt und erschrocken am schäumenden Ufer der Jugendzeit, verwirrt nachts im Auto auf dem Rastplatz einer Autobahn, unentschieden, in die gesicherte Position der Heimat zurückzufahren oder noch einen letzten Versuch zu unternehmen, ins Ungewisse zu fliehen, gebeugt auf dem Sessel hockend, während die Nacht nicht vergehen will, hingestreckt auf dem Totenbett.

Hier bemerken wir, dass das lyrische „Wie“ und der Gebrauch von Metaphern keine Vergleichsform für die Vielfalt und Differenziertheit der angesprochenen Dinge darstellen – wie im epischen Vergleich. Wenn der Abend über der Stadt sich wie ein Krokus öffnet oder Glühwürmchen wie Geister herumschwirren, nennt der Dichter Momente, Schwellen und Klippen der Selbstverwandlung, der Metamorphose des Ich oder des Ich-Sagens, die ihn ergreifen und mit sich in neue Verwandlungen führen. Deshalb kann das lyrische Wie auch getilgt werden und ganz entfallen und in absentia seinen Zauber bewahren. Dann geschieht ein absoluter Übergang des lyrischen Sagens und „Beautys Rose“ spricht für sich selbst.

Wir bemerken hier, dass die Selbstvergewisserung des bewussten Ich im lyrischen Sagen auch dadurch zum Ausdruck kommen kann, dass sich der Dichter der eigenen Mittel des Sagens vergewissert. Diese doppelte Reflexion des Ich-Sagens ist oft als manieristische oder avantgardistische Form des poetologischen Ich-Sagens missverstanden worden. Es geht aber dabei um eigensinnige Formen der Selbstbefragung des lyrischen Ich angesichts der Grenzen des Selbstverlusts und der Angst des Verstummens.

Zeitgleiche und Synchronizität der Zeiten im lyrischen Augenblick: Da, wo das Ich erwacht, ist es umgeistert und umsprochen von Erinnerungen und Erwartungen, die sich wie Flechten und Grünspan um den Stein ablagern können, unter denen es sich verhüllen, verbergen oder bergen kann.

Das lyrische Ich-Sagen kann aber auch alles schon Gesagte, Erinnerung wie Erwartung, von sich wieder abwaschen und wie ein nackter Stein ein rohes Zeugnis entblößten und ungeborgenen Daseins ablegen.

Comments are closed.

Top