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Die Aura sehen

08.08.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wir lesen oder hören den Satz: „Peter ist ein Student.“

Dass Peter studiert, schließt nicht aus, dass er sonst noch allerhand Dinge treibt oder verkörpert, wie gelegentlich Schach oder Tennis zu spielen, zu verreisen oder schwarzhaarig, braunäugig und schüchtern zu sein.

Wir müssen erkennen, dass der Satz seinen Sinn verliert, wenn wir in die allgemeine Satzform S (a), lies a ist S, für die Variable a statt des Namens einer Person den Namen eines ihrer Teile einsetzen, wie beispielsweise Peters Gehirn. Denn Peters Gehirn kann weder studieren noch Schach oder Tennis spielen, geschweige denn auf Reisen gehen, es ist weder schwarzhaarig, braunäugig noch schüchtern.

Dem Satz „Peter ist Student“ steht nicht auf der Stirn geschrieben, welchen Status er hat. Er könnte Teil eines Berichts sein, den mir ein Bekannter von Peter gibt, von dem ich annehme, dass er ihn so gut kennt, dass er WEISS, dass Peter Student ist. Er könnte auch Teil eines Romans sein, und dann gehe ich davon aus, dass die Frage, ob Peter sich kürzlich an der Universität Tübingen immatrikuliert hat, außerhalb des fiktionalen Rahmens des Romans sinnlos ist.

Es nützt nichts, den Satz „Peter ist ein Student“ mit einem Behauptungszeichen zu versehen, um zu garantieren, dass er etwas Wahres oder Falsches aussagt. Denn der Protagonist eines Theaterstücks könnte den Satz seinem Gegenüber als Behauptung auftischen und wir wüssten, er ist weder wahr noch falsch.

Gehen wir davon aus, bei Peter handele es sich nicht um eine Romanfigur, sondern um jenen Studenten, der sich kürzlich in der Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen eingeschrieben hat. Wie wir nicht ausschließen können, dass es viele Prädikate gibt, die wir Peter zuschreiben können, so gibt es ebenso viele, die genügend beschreibende Kraft haben sollten, um denjenigen aus der Menge aller möglichen Kandidaten herauszufischen, der kein anderer als Peter ist, beispielsweise seinen Geburtsort und seinen Geburtstag (genauer: die Stunde seiner Geburt), falls er kein Zwillingsgeschwister hat, oder die jeweiligen Raumkoordinaten, die seinen aktuellen Aufenthaltsort angeben, oder die Zeitabschnitte plus die Koordinaten der Wegstrecken, auf denen er sich bewegt hat, wenn er beispielsweise an einem bestimmten Tag auf dem Sitzplatz eines bestimmten Abteils der Regionalbahn die Strecke zwischen Stuttgart und Tübingen zurückgelegt hat.

Gehen wir den Weg von der grammatischen Analyse des Beispielssatzes „Peter ist ein Student“ zur Semantik, gelangen wir zur allgemeinen Satzform S (a), gehen wir weiter von der Semantik der allgemeinen einstelligen Satzform zur Ontologie, stoßen wir auf singuläre Entitäten in der Raum-Zeit wie die Person Peter, deren Bewegungslinien wir durch Angabe von Raum-Zeit-Koordinaten beschreiben können.

Doch anders als bei Bewegungslinien fester Körper in Newtons Raum-Zeit, die gemäß physikalischen Gesetzmäßigkeiten berechenbar und voraussehbar sind, wie im Idealfall der freie Fall eines Körpers oder seine Richtung und Geschwindigkeit auf der schiefen Ebene, sind wir nicht verblüfft festzustellen, wie Peter sich im Zick-Zack oder in seltsam schlängelnden Kurven bewegt, die wir weder anhand von physikalischen Gesetzmäßigkeiten noch statistischen Wahrscheinlichkeiten berechnen und voraussehen können.

Peters Lebenslinien sind singulär. Die Spaziergänge, die er eine Woche lang an den Neckarauen bis zum Hölderlinturm unternahm, brechen plötzlich ab. Er schreibt an einer Seminararbeit und verbringt die meiste Zeit in der Bibliothek. Die Bahn nach Stuttgart nimmt er kaum noch, denn er hat sich mit seiner Freundin, die dort wohnt, verkracht.

Die Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit existentieller Lebenslinien, können wir sagen, sind eine Funktion der Tatsache, dass es sich bei ihnen um unmittelbare Spuren von Entscheidungen handelt, die den Absichten, Wünschen, Befürchtungen oder Erwartungen des Individuums entspringen.

Könnten wir nicht einen tieferen Grund oder Hintergrund der Absichten und Wünschen eines Menschen finden, aus denen wir sie wie Fische in einem Netz aus dem Teich des Unbewussten ziehen würden?

Peter könnte seine Absicht, an der Universität in Tübingen zu studieren, vorgetäuscht haben, um seine wahre Absicht zu verbergen, der Frau, die an dieser Universität als Dozentin arbeitet und in die er sich verliebt hat, nahe zu sein.

Peter könnte seine eigentliche Absicht hinter seiner vermeintlichen Absicht vor sich selber verborgen haben.

Der Gefängnisinsasse hat nur einen sehr eingeschränkten Spielraum, sich frei zu bewegen, doch sind dieser aufgenötigten Beschneidung seiner Bewegungsfreiheit etliche Entscheidungen vorausgegangen, die ziemlich ruchlosen Absichten und Wünschen entsprangen, beispielsweise eine Bank zu überfallen oder jemanden zu berauben.

Wie behauptenden Aussagen ihr epistemischer Status nicht auf der Stirn geschrieben steht, so bleiben unsere Beschreibungen einer Person witzlos und opak, wenn sie reine Beobachtungsprotokolle ihres Verhaltens darstellen. Peter geht zum Kühlschrank und entnimmt ihm ein Bier. Will er seinen Durst löschen oder sich betrinken?

Dass seine Schwester Hermine seine Entscheidung, als Volksschullehrer in der hintersten Provinz Niederösterreichs zu arbeiten, nicht verstand (und als Missbrauch an seiner genialen Begabung verwarf), vergleicht Wittgenstein mit dem Blick aus einem verschlossenen Fenster auf einen Passanten, der ein seltsames Gebaren gleich einem überdrehten Pantomimen an den Tag legt. Erst bei geöffneten Fenster gewahrt man den Sturm, gegen den der Mann da unten ankämpft.

Wir sehen den Mann und sein seltsames Gebaren, ohne es zu verstehen. Wittgenstein nennt seiner Schwester einen Grund, der ihn bewog, eine Entscheidung zu treffen, die nach allen Maßstäben des Alltagsverstandes unklug zu sein schien, indem er ein Bild gebraucht, in welchem der Sturm die Quelle der von ihm empfundenen Bedrohung und seiner Angst verkörpert.

Wir können beschreiben, was wir sehen, aber nicht, warum die Art und Weise, wie wir etwas sehen, oder unsere Weltsicht sich von Grund auf geändert hat. Dieselbe Person sagt angesichts der Kippfigur der Hasen-Ente „Jetzt sehe ich die Ente“ und sodann „Jetzt sehe ich den Hasen.“ Doch das Umspringen des Blicks, den Aspekt-Wechsel, kann sie nicht sehen, und wir können ihn weder beschreiben noch angeben, weshalb die Person DASSELBE jetzt so und dann ganz anders sieht.

Wir sehen das gemalte Bild einer Landschaft, deren reales Vorbild uns von unseren Ausflügen her bekannt ist. Doch der Maler muss die Landschaft mit anderen Augen gesehen haben, als wir es damals taten, denn auf der Leinwand haben die Blumen unwirkliche Farben und die Häuser scheinen über dem Boden zu schweben. Inwiefern der Maler die Landschaft anders sah als wir, können wir nur beschreiben, indem wir auf das von ihm gemalte Bild hinweisen. Und wenn wir den Maler befragen? Was könnte er anderes sagen als: „Nun, ich habe es eben auf diese Weise gesehen!“

Wir können vom Sinn der Welt oder des Lebens nichts aussagen außer in Bildern oder Symbolen.

Vom Sinn der Welt oder des Lebens etwas Faktisches oder Wahres aussagen zu wollen ist ähnlich sinnlos wie der Versuch, zu sagen, wie viele Gegenstände sich in unserer Wohnung befinden. Denn es befinden sich in der Wohnung ÜBERHAUPT KEINE Gegenstände, weil der Begriff Gegenstand kein Gegenstand, sondern eben ein Begriff ist, nämlich den Platzhalter x in der allgemeinen Satzform „für alle x: P (x)“ darstellt, und nur wenn wir x durch geeignete Kandidaten wie „Personen“ oder „Bücher“ ersetzen, wird aus unserer Frage eine sinnvolle Frage: „Wie viele Personen (Bücher) befinden sich in dieser Wohnung?“

Der Sinn ist kein Gegenstand in der Welt, nach dem wir fragen könnten wie nach der Anzahl der in unserer Wohnung befindlichen Personen oder Bücher.

Er ist der Aspekt, unter dem wir die Welt und das Leben betrachten. Und er kann sich in unvorhersehbarer Weise ändern.

Wir sagen: Es ist nicht sinnvoll, über Gegenstände in der Welt zu reden, denn dort sehen wir keine Gegenstände, sondern Autos, Fahrräder, Hunde oder Wolken.

Ist es aber sinnvoll, ohne weiteres von der Welt zu reden? Nur wenn wir damit die Grenze meinen, die den Raum unserer Bezugnahmen durch Begriffe oder Aussagen absteckt, wie beispielsweise den Raum unserer Wohnung, wenn wir fragen, wie viele Personen sich dort jetzt aufhalten.

Die Welt ist der von uns gewählte Kontext unserer Aussagen.

Kann der Sinn der Welt gleichsam nur von außen zu uns gelangen, wie ein Bote aus einem fernen Land, das wir bisher nicht kannten, mit einer Botschaft, die wir nicht unmittelbar verstehen können, weil der Bote eine fremde Sprache spricht?

Bestimmte Formen des Verhaltens können wir weder durch reine Beobachtung noch durch wissenschaftliche Deutungen erfassen. Eine alte Frau schleppt sich auf entblößten Knien eine hohe Treppe hinauf, die Knie sind schon wund, hoch oben ragt ein Kreuz oder ein buddhistischer Tempel. Der Ethnologe sagt, es sei ein Ritual, der Theologe, eine Weise der Devotion, der Psychoanalytiker der Ausdruck eines religiös verbrämten Masochismus.

Und wenn wir die alte Frau befragen? Vielleicht sagt sie, ihr Kind sei kürzlich gestorben und auf diese Weise bleibe sie ihm nahe.

Die Hirten des Felds in der Heiligen Nacht, die als erste das Kind in der Krippe sahen, fanden ein Kind wie jedes andere dort liegen und strampeln und nach der Brust schreien. Um die Krippe geschart und von der Freundlichkeit der Eltern ermutigt, sahen sie mit einem Male in dem unscheinbaren Kind (gewiss umstrahlte es kein Heilgenschein und keine Engel schwebten in der armseligen Hütte und sangen), den Heiland.

Was die Hirten dann taten, indem sie anbetend vor der Krippe niederfielen und das Kind anbeteten, war eine Folge der Umkehr des Blicks und des Aspekt-Wechsels, der jetzt den Rang eines Wunders angenommen hatte. Alles, was hohe und kindliche Frömmigkeit bis hin zur gelehrtesten Theologie der Inkarnation und der Trinität in Worte und Generationen der besten Maler des Abendlands in Bilder brachten, floss aus diesem unscheinbaren Ursprung, dem Licht im Auge eines Kindes, aufgrund dessen viele das Leben und die Welt anders zu sehen glaubten.

Die Aura des Heiligen ist ein Symbol für eine Botschaft, die von außen in die Welt der natürlichen Dinge einzubrechen scheint.

Der Rationalismus, die Aufklärung und die vom Wesen her atheistische Wissenschaft erklären die Aura als betrügerische Machenschaft oder als Illusion: Betrug, weil sich die Priesterkaste einer charismatischen Ausstrahlung bedient, um ihre Vorrechte zu sichern und ihre Verkündigungen mit dem sakralen Schein der Unanfechtbarkeit zu umgeben, Illusion, weil der bedürftige, der endgültigen Vernichtung anheimgegebene Mensch den Schatten seiner Angst in einem scheinbar übernatürlichen Licht bannt.

Indes, der gegen allen Priestertrug gefeite Goethe sah die Aura um die nächtliche Kerze und die Hingabe der gläubig-liebenden Seele in der Sehnsucht nach dem Flammentod.

Die Aura um das nackte, hilflose Kind in der Krippe zu sehen, IST das Wunder, dessen Sinn der aufgeklärte Atheist zu bestreiten wähnt, indem er auf die Nacktheit und Hilflosigkeit des Kindes hinweist.

Die Frage verhallt in einem leeren Raum, das grenzenlose Schweigen hat sie verschluckt. Und dies IST die Antwort.

Das Fresko in den alten Katakomben verblasst, wenn das Licht allzu neugieriger Augen sie beleuchtet.

Verlischt die Aura, hinterlässt sie eine Leere, die der Abwesenheit der Geliebten ähnelt, in deren Stille die ihr geltenden Worte hohl klingen.

Für den Aufgeklärten muss Liebe einen Grund haben, wie für den rationalistischen Theologen die Schöpfung dieser Welt und keiner anderen den Grund darin haben muss, dass Gott die beste aller möglichen Welten wählte.

Seine Liebe der Geliebten zu gestehen und ihr einen plausiblen Grund für seine Zuneigung gleich mitzuliefern – wie lächerlich, wie erbärmlich.

Die Aura der Liebe scheint ohne Grund.

Die Aura um die Geliebte sieht nur der Liebende, die anderen sagen: „Besonders attraktiv ist sie ja nicht“ oder „Da hat er sich aber verguckt!“

Lieben die Götter den Frommen, weil er gute Werke tut, oder tut der Fromme gute Werke, weil die Götter ihn lieben?

Sind die Gebote der Bibel von Gott befohlen, weil sie das Gute verkörpern, oder verkörpern sie das Gute, weil sie Gottes Gebote sind?

 

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