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Die Seekuh

26.08.2016

Dem Andenken an Georg Wilhelm Steller,
der die Seekuh entdeckte, 
kurze Zeit,
bevor sie vom Menschen ausgerottet wurde

 

Gleiten, schlafen, träumen, gleiten,
wenn über die kaum geöffneten Augen
auf flachem, trüben Meergrund Seegras streift
Tang die Arme schwingt um den saugenden Mund …

Oder sie im Wurzellabyrinth der Mangroven
nach Blättern tastet mit den verständigen Haaren,
nach der Wasserhyazinthe blaßlila Blüten …

Gleiten, schlafen, träumen, gleiten …

Die gespaltene oder halbmondförmige Fluke
rudert die bedächtige Kuh ins Helle,
um Atem zu schöpfen über dem Schaum –
hört sie, wie die schmale Lippe des Horizonts tönt,
oder der Winde mythengrünes Rauschen?

Gleiten, schlafen, träumen, gleiten …

Sie wirbelt Schleier feinen Sands um sich auf,
als wäre die Muschelstille, die Andacht
still kauenden Lebens nicht tief genug …

Der Schatten des Jungtiers umspielt sie
mit sanfter Kühle, wickelt sie ein
in die Langmut des ruhelosen Nomaden …

Oder die Lebensfreude, die Nähe
von Mutter und Kind, ertönt in Duetten
hohen Zwitscherns und Pfeifens …

Sind die Rhythmen der herrischen Sonne,
der Gezeiten Wogen und Ebben,
sind ihr die Landschaft der fetten Weiden
von Seegras und blauen Algen
oder die Schattenmale der Menschen
auf den Wanderdünen der Zeit
zu Bildern erwacht im Traum?

Gleiten, schlafen, träumen, gleiten …

Sind das hohe Glimmen des Sternlichts,
das bleiche Tränengesicht des Monds
und das grüne Irrlicht der Nacht,
sind ihr die Nixen, Sirenen, Melusinen,
ihre Schwestern am Bugspriet der Schiffe
von Hanno dem Karthager bis Erik dem Roten,
von Christoph Kolumbus bis Vasco da Gama
zu Bildern erwacht im Schlaf?

Gleiten, schlafen, träumen, gleiten …

Weiche Nymphe des Meers,
bist du Askalons Fischweib,
die graue Göttin der Vorwelt,
der Semiramis Mutter,
homerische Nereide,
die ihre traurigen Zitzen reckt
aus dem versunkenen Reich der Sage?

Die müden Lider decken den Tag ihr zu,
den dämmrigen, sie kennt nicht der Herkunft
Grotten, erhellt vom Gesang der Flammen,
nicht Nester der Heimat, schwebend
von weichen Daunen der Liebe.

Für immer Verstandesnetzen unfaßbar,
erlischt sie, ein Irrwisch,
flieht sie, ein Schatten, dahin.

Gleiten, schlafen, träumen, gleiten …

 

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