Die Hefe des Denkens
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Zu dem Fest, bei dem alle willkommen sind, möchten wir nicht eingeladen werden.
Und wenn es der Gott wäre, der seine Engel die Einladung zum Völker- und Friedensfest an Krethi und Plethi um den Erdkreis bestellen ließe, wir blieben beim Klange der Posaunen im Bett liegen.
Nur wo Gefälle ist, fließt das Wasser. Nur wo Spannung herrscht, strömt das Leben.
Quietismus des Gefühls, Bigotterie des Empfindens, Sentimentalität: Verkennung oder Leugnung der notwendigen Lebensspannung.
Frieden das Tal, Kampf die Steigung.
Größe des Ruhms ist nicht meßbar an der Bekanntheit des Namens.
Die Erde ist klein gemessen an der Größe der Sonne, groß gemessen am Sandkorn ihres Meeresstrands.
Die Entfernung der Erde von der Sonne ist klein gemessen an der Entfernung der Sonne vom Mittelpunkt der Galaxis.
Wenn jeder Gegenstand nur klein oder groß gemessen an der Größe anderer Gegenstände genannt werden kann, folgt daraus, daß wir nicht sagen können, das Universum sei groß. Woran sollten wir es messen?
Länger leben heißt nicht besser leben.
Tausend Dunstatome und immerhin ein Tröpfchen, abertausend Worte und nicht ein Gedanke.
Heroisch: dahingerafft die Blüte der Jugend, doch herrlich ging sie auf. Bürgerlich: echsenalt im Siechenhaus, im Dämmerlichte vegetierend.
Wie man sagt, es ist zu viel passiert, es sind zu viele Tränen, ist zu viel Blut auf beiden Seiten geflossen, eine Versöhnung, ein Völkerfest, eine Friedensfeier: unmöglich; nach Jahren, da der Efeu über den Gräbern die Namen verdeckt hat, bleibt ein scheues Grüßen mit den Augen die äußerste der Annäherungen.
Journalisten: Parasiten der rohesten Wahrnehmung, faulige Zungen, die über alles reden und das Wesentliche verschweigen.
Obszöne Sprache, die unter dem Vorwand der Information nur zeigt, was bluttriefend oder moralisch kurzatmig Sensation macht, und aus dem Schlamm der Ereignisse Fetzen Fleisches hervorzerrt, um niedere Instinkte wachzukitzeln.
Geknickte Zweige: nach dem Unsagbaren greifen, das Unsägliche pflücken.
Ein Volksresiduum kulturellen Mestizentums, ein Babylon amtlich verordneter Sprachvermanschung, dem das Gendersternchen als Symbol allseitiger Verständigung gilt, bringt keinen großen Dichter mehr hervor.
Journalist: das obszöne Auge des medialen Voyeurismus.
Die neue Venus, in sadomasochistischer Bondage-Fesselung aus der Plastikmuschel steigend.
„Soziologie“ als schicke Form der Verdummung: die Fäden wissenschaftlicher Erkenntnis aufgelöst und verwebt im modischen Kostüm knallbunter Gesinnung.
Sie hofieren das Abnorme, Abseitige, Widersinnige; wer im Chaos nach Ordnung, im Verfall nach gesund gebliebene Keimlingen, im Wahnsinn den verborgenen Sinn sucht, gilt ihnen für einen Gendarmen und Blockwart des Begriffs.
Meine Worte sind Mücken, die auf dem Dung von fremden Seelen funkeln.
Der Talmi-Dichter schießt mit seiner Poesie-Pistole: Es knallt recht hübsch, und die Geliebte, die nackend ihm posiert, fällt auch brav, mit beiden Händen hält sie sich die linke Brust, unter dem geheuchelten Entsetzensschrei des zahlenden Publikums, zu Boden. Doch es sind nur Platzpatronen.
Mit wem ich rede oder wem ich das Gespräch verweigere, das ist meine Sache, für die ich weder Gründe noch Vorwände geltend machen muß.
Bornierte Gesinnungseiferer oder Leute, die zu lange in Frankfurt Philosophie studiert haben, meinen, der Kern des philosophischen Denkens bestehe im Austausch von Argumenten; und wenn alle recht brav und regelkonform sich unterreden und ihre Krethi-und Plethi-Geschaftlhubereien miteinander aushandeln, würde das bessere Argument wie das Kaninchen aus dem Hut des Zauberers hervorspringen.
Doch die Annahme und die Forderung, die Philosophie auf den Austausch von Argumenten zu gründen, können selbst wiederum nicht durch ein Argument begründet und gerechtfertigt werden. Sie sind reine Glaubenssache.
Gott aber nannte, was er geschaffen hatte, gut; nicht schuf er, was sich ihm als gut bezeigte und was er zuvor argumentativ als bessere Alternative entwickelt und begründet hatte.
Der noble Leibniz hatte also unrecht, doch anders als der vulgäre Voltaire meinte.
Gott schuf das Licht. War es denn zuvor Nacht? Nein, wo kein Licht, da auch kein Dunkel.
Du grüßt, wen du des Grußes für wert befindest. Doch wer dich nicht oder nicht mehr grüßt, mindert nicht deinen Wert.
Die Frommen halten die Gebote, nicht weil sie unter der Sonne des moralischen Sittengesetzes und der kritischen Vernunft sich als die tunlichen, weil allgemeinverbindlichen erweisen, sondern weil sie Befehle Gottes sind.
Der Befehl, das Gebot, die Entscheidung, das Blut und der Eros stehen außerhalb der Ordnung des Diskurses.
Die Ordnung ist besser als das Chaos, das Licht besser als die Finsternis – das hat sich Gott nicht gedacht, denn es gab weder Ordnung noch Licht, als er darüber müßige Reflexionen hätte anstellen können.
Die Gefahr, das Risiko, das Abenteuer verlangen uns Entscheidungen ab, die wir intuitiv aus dem Gravitationsfeld und dem Anhauch des Augenblicks heraus gewinnen, nicht durch langwierige Begründungspirouetten, während derer uns die Bestie schon den Kopf abgerissen haben würde, das Boot untergegangen und der Rettungsweg abgeschnitten worden wäre.
Der Ursprung der totalitären Herrschaft liegt nicht im Mangel demokratischer Gesinnung, sondern in ihrer radikalen Vollstreckung. Das erweist der Terror der Französischen Revolution, also die radikal-avantgardistische Form plebiszitärer Volksherrschaft (die in Wahrheit natürlich immer die Herrschaft von Parteikadern, Rechtsanwälten, Lehrern und Gesinnungsjournalisten über das Volk ist). Der erste Schauprozeß, der den Blutrichtern der braunen und roten Volksbeglücker zum Vorbild diente, war der Prozeß der Sansculotten gegen Marie Antoinette, dessen Ausgang und Urteil von Beginn an feststanden.
Entscheidende Wahrheiten zeigen sich, wie die Blüten, die auf deine Schwelle liebende Hand gestreut, wie der Blitz der Nacht, dessen Zeichen der Dichter deutet.
Was den Liebenden bewog, die Blüten zu streuen, hat keinen Grund, kann nicht mittels Argumenten oder diskursethisch aufgeklärt werden; das Motiv der Liebesgeste ist eben, was wir Liebe nennen.
Die dichterische Deutung der Wahrheitszeichen wie des Blitzes durch Hölderlin ist ebensoweit entfernt von der physikalischen Erklärung des Naturphänomens wie die physiologische Erklärung der Liebesgeste von ihrer sich zeigenden symbolischen Wahrheit.
Die Physiologie der Geste kann ihre Bedeutung nicht erfassen. Die Physiologie der Lautbildung nicht die Semantik.
Die symbolische Wahrheit geht dem Diskurs und allem Gerede voraus.
Das Modell und Paradigma des philosophisch gefeierten argumentativen Diskurses ist der Gerichtsprozeß, bei dem Zeugen befragt und Indizien auf ihren Aussagegehalt hin gewichtet werden; das zu fällende Urteil ist im Lichte dieser wohlerwogenen Befunde und Erkenntnisse zu rechtfertigen.
Doch die Art und Weise, wie Leute alltäglich miteinander verkehren und reden, unter das Kuratel juristischer Verfahren der Begründung und Rechtfertigung zu stellen, grenzt an stupide Verkennung oder mutwillige Entstellung der menschlichen Situation.
Wir können Buridans Esel nicht mittels vernünftiger Argumente dazu überreden, einen, gleichgültig welchen, Heuhaufen aufzusuchen, um seinen Hunger zu stillen.
Dort verspricht uns die Aussicht einen Gang durch blühende Wiesen; dort der steile Anstieg einen herrlichen Gipfelblick. Wer sagt, der Faule nehme den Weg im Tal, der Tapfere wähle den Aufstieg, sitzt einem moralisch verzerrten Bild auf.
Die Modelle für moralische Entscheidungen sind oft das Ergebnis einer einseitigen Diät naheliegender oder exotischer Bilder und Metaphern (Platons Höhlenausgang, Herakles am Scheideweg, Kohlbergs Dilemma).
Der Sauerteig muß durch Zusatz von Hefe in Gärung gebracht werden, damit das Brot locker und bekömmlich gerät. – Der Sauerteig des Denkens bedarf der Hefe der Dichtung, oder sagen wir es nüchterner: des Spiels der Einbildungskraft, der Variationen der Phantasie.
Das Netz, das er geknüpft hatte, war nicht feinmaschig genug; die grauen Alltagsfische zappelten darin, die kleinen Wunderwesen an farbiger Pracht und ungewöhnlicher Musterung schlüpften hindurch.
Der Eros des Dichters senkt seine Netze in das grüne Wasser des Wunderbaren.
Die Liebe verführt durch Blicke und Lächeln, der Eros der Dichtung durch Rhythmus und Reim und den Schleier von Metaphern, unter dem bisweilen ein geheimnisvolles Lächeln schimmert.
Wozu verführt die Liebe? Zur Liebe. Wozu die Dichtung? Zum Schweigen.
Die Siegeslieder Pindars nennen nicht einmal den Namen des Jockeys, der das Rennen machte, sie rühmen aber den Namen des adligen Eigentümers des Pferdes und führen sein Geschlecht mythisch-genealogisch auf einen göttlichen Ursprung zurück.
Nicht der Jockey hat Pindar gemäß den Siegerkranz verdient; der Sieg war ja nicht sein Verdienst, auch wenn er ihn zu erlangen sein Bestes hatte geben müssen, sondern dort hat Hermes die Zügel ergriffen, hier Apollon die Säule der entscheidenden Wende mit Glanz übergossen.
Was uns Ruhmes wert dünkt, geht über die rein menschliche Tat und Leistung hinaus; zwar ist die schöne Form der Vase ein Ergebnis der Meisterschaft des Töpfers, doch ihre einmalig geglückte Harmonie und Vollkommenheit weist auf die Gunst der Stunde, den Kairos.
Wir können die glückliche Synthese von Sensualität und Sublimität, köstlicher Farbigkeit und Schatten gewordener Stille in den Gemälden eines Vermeer nicht erklären; sie weisen auf ein Ingenium, das auch dem Künstler in seinen letzten Tiefenschichten und seelischen Faltungen verborgen geblieben sein wird.
Die gefährliche Illusion der Diskursethiker besteht in der Überschätzung der Macht der Vernunft und der Verkennung von nicht lösbaren Spannungen und Konflikten, wie jenen zwischen Imperien, Kulturen und Ethnien.
Die Spannungen und Konflikte im Labyrinth der eigenen Brust sind nicht vollends aufzulösen; der Wein, die Droge, der Eros scheint sie für Augenblicke zu dämpfen oder in einem Strudel des schäumenden Selbstgefühls untergehen zu lassen; doch nach einer Atempause kristallisieren sie neu und stehen frisch gewappnet uns wieder vor Augen.
Was ihm der Rausch der Nacht als Offenbarung zu diktieren schien, erwies sich beim nüchternen Tageslicht betrachtet als wirres Geranke toter Buchstaben.
Die Krim-Tataren sind die verblaßten und depravierten Relikte der Goldenen Horde, die im hohen Mittelalter ihre grausamen Orgien in den Reichen der Polen und Russen vollzog; ihr bitteres Schicksal unter den Deportationen Stalins vermochte dennoch nicht ihr kulturelles Selbstgefühl und ihre exotische Sprache und Kultpraxis völlig zu zersetzen.
Das Schicksal der Deutschen, aufgrund der militärisch-moralischen Überlegenheit der Siegermächte herausgerissen aus ihrer angestammten geographischen und historischen Mitte, in masochistisch-verzücktem Kotau vor den sogenannten Werten der freien Welt (also in politischer und kultureller Unterwerfung unter Washington, Brüssel und Straßburg), bleibt ungewiß, fragil und zweideutig.
Daß es allerdings mit der deutschen Kultur ein unrühmliches Ende nimmt, beweist schon die Tatsache, daß sich hiesige Künstler und Schriftsteller nicht scheuen, sich als „Kulturschaffende“ und „Literaturproduzenten“ ansprechen und anpreisen zu lassen.
„Documenta“: Kloake der Gegenwartskunst.
Dichtung ist nicht Literatur. Bei aller Meisterschaft und hohen Kunst, die den Vers eines Walther von der Vogelweide, eines Goethe oder Hölderlin auszeichnen, was an ihm sich wie das Aderngeflecht der Hand abhebt oder unterm Mond der Dämmerung hervorschimmert wie ein Bergkristall, ist kein bloß Gemachtes, sondern ein Angehauchtes und Zugesprochenes.
Wer denn wäre mit einer solchen Kraft der Einbildung begabt, eine Orchidee, einen Schmetterling, ja auch nur einen Wurm zu erfinden, zu konstruieren, zu ertüfteln?
Was die Bibel mit Schöpfung meint, kann nicht nach dem Modell handwerklicher Erfindung und technischer Konstruktion verstanden werden, auch wenn ihre lebensweltliche Metaphorik wie die vom Töpfer es bisweilen nahelegen mag; die dichterische Inspiration kommt dem in der Genesis Gemeinten schon etwas näher, auch wenn der Dichter aus der Fülle der Überlieferung zu schöpfen berufen ist.
Als müsse man den Pfeil geschlossenen Auges abschießen, damit er ins Schwarze trifft.
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