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Je ne sais quoi

15.12.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

All das ist zu ungeheuerlich, monströs, uferlos, um es mit einem Wort, einem Satz, einer Formel abzutun.

Wie abgefallene Blütenblätter treiben all die Worte auf dem schwarzen Wasser des Schweigens dahin.

Eine Hand, eine Muschel, ein Wort tut sich, halb im Traume, auf und feiner Sand rieselt zu Boden.

Ein Abend, eine Nacht im Moor – Unheimlichkeit des Seins.

Die Auswahl des der Befruchtung dienenden Insekts wird bei den prächtigeren, erleseneren Blütenpflanzen immer exquisiter.

Die feiner gewundenen Muscheln der Ohren, die fähig sind, feiner gewundene Dichtungen, köstlichere Akkorde, geheimnisvollere Gedanken zu vernehmen.

Das Wunderbare ist das Signum einer neuen Fühlweise, einer neuen Sprache.

Jene mit den feineren Ohren haben das Knirschen im Gebälk schon früh vernommen und sind lange ausgewandert, bevor es über den Köpfen der Tauben zusammenstürzte.

Mit dem Hammer läßt sich freilich Lauteres, Gewaltigeres, Herrischeres sagen, aber weniger Grobes nur mit der Flöte oder der Geige.

Hündische Seelen, die ihren Standpunkt mit Duftnoten markieren, die betäuben und den Atem benehmen.

Der große Rhetor sprach, um sich Gehör zu verschaffen, immer leiser.

Der Dichter, der an bedeutsamen Stellen etwas scheinbar Triviales einstreut, bei erhebenden die Stimme senkt.

Das trübe Wasser des ideologischen Geschwätzes verwandelt sich nicht in Wein, wenn es in Flaschen für den Massen- und Hausgebrauch abgefüllt wird.

Der Sanguiniker verweilt bei der Rubrik „Vermischtes“, der Melancholiker bei den Todesanzeigen; das erkaltete Gemüt stürzt sich auf die blutigen Schlagzeilen.

Der Zeitgeist ist die Sense, die über das Gras des Gewöhnlichen ragende Köpfe von Lilien und Orchideen wegschneidet.

Nicht jedes Ich findet ein Du, jenen Levkojen und Gladiolen gleich, die der Witterung von Tagesgeschöpfen entgehen, weil sie ihren feinen Duft nur des Nachts versprühen.

Die Eindruck zu machen und zu glänzen wähnen mit dem, was sie nicht sind, wie jene, die mit großen Namen hausieren gehen oder sich mit Zitaten aus Büchern schmücken, die sie nicht gelesen haben.

Die parasitäre Kletterpflanze erwürgt allmählich den Baum, an dem sie Halt fand.

Figuren des Schweigens. Das Schweigen des Hörers, Gras des Ufers, worin das Wort des Sprechers, ein ruderloser Kahn, sanft anlandet. Das Schweigen der Liebenden, das sich im feuchten Glanz ihrer Augen verdichtet. Das böse Schweigen des Gekränkten und Verbitterten, das wie ein Vorwurf, eine Anklage um sich greift. Das Schweigen Jesu vor Pilatus. Das Schweigen der Kontemplation, in dem wie in einem Bienenstock das Summen des Schwarms der Worte allmählich leiser wird. Das Schweigen des Sterbenden, der nur noch mit den Augen spricht.

Um einen Satz zu erläutern, schrieb er ein ganzes Buch.

Jene, die in der Sprache wühlen wie im Erdendunkel der blinde Maulwurf. Wie unschön, was sie nach oben schaufeln.

Ode, Fuge des Worts.

Elegienschnee, der im vollen Monde glänzt.

Lied, banger Tropfen an der Wimper der Geliebten.

Hymne, ungreifbare Rosen, die im Firn der fernen Gipfel unter den ersten Strahlen aufleuchten.

Epigramm, Biene, die sich in weichen Locken verfängt; Klette, die wider Willen am Bein kleben bleibt.

Das Ungesagte, das im Gedicht stillschweigend mitgesagt ist, wie im Duft des Sommers, der abends durchs offene Fenster weht, die Erinnerung an mittelmeerische Gärten.

Die sich heute mit großen Worten blähen und brüsten, hörst du morgen asthmatisch röcheln.

Die große Sprachwolke des kleinen Talents, die zu einem winzigen Tropfen kondensiert, der auf dem heißen Blech des Sommertages rasch verdunstet.

Dämmerung des stummen Maares, wo nur manchmal das ferne Schluchzen einer Nachtigall herüberweht.

Sprache ist kein bloßes Werk und Gestell der Kultur, sondern immer und in erster Linie ein Gewächs, eine Form der Physis, die wohl im Garten der Kultur beschnitten und zurechtgestutzt werden mag, aber in vom Bewußtsein nicht auslotbaren Tiefen wurzelt.

Niemand kennt den hinreichenden Grund für die Lautverschiebungen in der Geschichte der deutschen Sprache.

Keiner weiß, weshalb im Abendland flektierende, in Asien nichtflektierende Sprachen entstanden.

Englisch überwuchert den Globus nicht, weil es die Sprache Chaucers, Miltons und Shakespeares ist, das Idiom Walt Whitmans, T. S. Eliots und Ezra Pounds, sondern weil es im Oval Office und im Pentagon, im Silicon Valley und den Vorständen der großen amerikanischen Global Players gesprochen wird.

Daß alle Sprachen über die gleichen Ausdruckskräfte verfügen, beweist die Tatsache, daß die Bibel in alle übersetzt worden ist.

Und doch ist es wahrscheinlich, daß im Japanischen oder in einer Indianersprache das Magnifikat andere Untertöne anklingen läßt als im Deutschen oder Französischen.

Die Folklore wurzelt in der Landschaft der Provinz, das Volkslied atmet die Düfte heimischer Blüten.

Die neuen Formen des Todeswunsches, an dem besonders die vom Schicksal heimgesuchten nekrophilen Deutschen kranken: EINE Sprache, EINE Welt, EINE Menschheit (nunmehr statt wie ehedem, aber mit ähnlichem Enthusiasmus: EIN Volk, EIN Reich, EIN Führer).

Die Prediger der Vielfalt, die der Menschheit den faden Einheitsbrei der einen allein selig machenden Weltsicht verabreichen.

Die Gene und der kulturelle Humus, die Bach, Mozart und Schubert hervorbrachten, sind singulär und unwiederholbar.

Durch noch so fleißiges Üben vermag der ehrgeizige Geiger das Je ne sais quoi einer Violinsonate Mozarts nicht auszudrücken, wenn er das süße Geheimnis nicht in sich trägt.

Die kulturellen Jahrgänge sind wie die der Weine, die Launen des Wetters und des Geistes, unter denen sie gedeihen und ihr einmaliges Bouquet gewinnen, lassen sich weder voraussagen noch beeinflussen.

Ein jäher Windhauch bringt die Kerze zum Erlöschen; wir erschrecken vor der unheimlichen Dunkelheit, bis die Augen allmählich die traumhaft anmutenden Umrisse der beinahe schwebenden Gegenstände des dämmernd noch stiller gewordenen Zimmers umfassen.

 

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